Die Coronakrise ist einerseits eine Tragödie, neben so vielen anderen Tragödien, die unsere Gegenwart prägen. Sie ist andererseits auch ein Scheinwerfer, der Missstände, die schon lange bestehen und die wir eigentlich auch alle kennen, in ein grelles Licht rückt. Das gilt vom Pflegenotstand über das ruinöse Kaputtsparen des öffentlichen Gesundheitsdienstes, den fehlenden Schools of Public Health bis hin zu den versäumten Schlussfolgerungen aus der seit Jahren vorliegenden, gelochten und weggehefteten Pandemieplanung und den damit zusammenhängenden behördlichen Organisationsdefiziten.
Zum letzten Punkt will ich eine kleine Anmerkung machen. Vor ein paar Wochen ging durch die Medien, dass ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums das Krisenmanagement der Regierung infrage stelle. Ein Papier dieses Referenten kursiert seitdem in der Öffentlichkeit, oder genauer, im Internet auf den einschlägig bekannten neoskeptischen Seiten. Wenn man nach „KM4 Analyse des Krisenmanagements“ googelt, findet man es schnell.
Die Kernaussage des 83-seitigen Papiers war Wasser auf den Mühlen vieler Leute, die es schon immer gewusst haben:
„Die beobachtbaren Wirkungen und Auswirkungen von COVID-19 lassen keine ausreichende Evidenz dafür erkennen, dass es sich – bezogen auf die gesundheitlichen Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft – um mehr als um einen Fehlalarm handelt. Durch den neuen Virus bestand vermutlich zu keinem Zeitpunkt eine über das Normalmaß hinausgehende Gefahr für die Bevölkerung“.
Dass ein Ministerialbeamter eine Meinung vertritt, die nicht auf Regierungslinie ist, ist nichts Besonderes. Auch in Behörden wird natürlich diskutiert, auch da gibt es unterschiedliche Meinungen und auch mehr oder weniger klug begründete Meinungen. Zu fragen, ob das Krisenmanagement im Coronafall gut gelaufen ist, ist auch Mitarbeitern des BMI nicht verboten. Wurde das Ausmaß der Krise richtig einschätzt, wurde rechtzeitig gehandelt, wurde zu viel oder zu wenig getan, wie soll man wieder zurückkommen zu normaleren Verhältnissen, was ist dabei zu tun und wann – alles wichtige und legitime Fragen. Auch, ob der Lockdown in der Form, in der er bei uns stattfand, richtig war oder ob es Alternativen gegeben hätte. Meist hat man die Antwort auf solche Fragen erst hinterher. Auch klar.
Mich hat an dem Papier des BMI-Referenten daher auch nicht die regierungskritische Meinung irritiert, sondern dass es womöglich performativ den Vorwurf des Autors bestätigt, das Krisenmanagement der Bundesregierung sei defizitär. Dem Autor muss man wohl ernsthafte Besorgnis darüber konzedieren, dass der Umgang mit der Krise die Gesellschaft schwer beschädigt. Das ist nachvollziehbar, diese Besorgnis teilen viele. Schwerer nachvollziehbar ist schon, dass er seine Kritik damit begründet, es habe gar keinen Anlass für die massiven Eingriffe in den sozialen Alltag gegeben, ein „Fehlalarm“ eben. Kritik an Maßnahmen durch Infragestellen des Anlasses ist ein gängiges Argumentationsmuster, das man in allen Risikodiskursen findet: Nichtraucherschutz sei nicht nötig, weil Passivrauchen nicht schädlich ist, ein Tempolimit braucht man nicht, weil Schnellfahren gar nicht zu mehr Toten oder mehr Schadstoffen führt, gegen Dieselschadstoffe muss man nichts unternehmen, weil das Umweltbundesamt die Dieseltoten tendenziös berechnet habe und Klimaschutz ist unnötig, weil der Klimawandel erfunden ist. Es geht auch ganz absurd: Die Masernimpfung braucht man nicht, weil es kein Masernvirus gibt.
Keine Frage, wenn es keinen Anlass für Maßnahmen gibt, braucht man keine, die Diskussion darüber, ob die Maßnahmen angemessen sind oder nicht, kann man sich dann sparen. Dass das Coronavirus einfach nur eine kleine Grippe ist (wie Brasiliens Bolsonaro meint), ist eine starke These, die die Daten nicht auf ihrer Seite hat. Der BMI-Referent begründet seine Infragestellung des Infektionsgeschehens mit Daten, die er sichtlich nicht versteht und nicht einordnen kann. Das Papier macht aber auch insgesamt formal einen unstrukturierten, unsortierten, eklektizistischen Eindruck. Es gehen wild alle möglichen Eindrücke und Assoziationen durcheinander, der Text mäandert durch aufgelesene Zahlen, grundsätzliche methodische Bemerkungen, Zitate aus diversen Quellen, falsche Schlussfolgerungen oder politische Anmerkungen zur Rolle der Kanzlerin.
Vielleicht ist der renitente Referent ein Einzelfall im BMI, der sich missverstanden und ungehört fühlt. Immerhin wollte er auch mal SPD-Vorsitzender werden, das soll ja nicht gerade typisch für BMI-Referenten sein. Aber falls das Papier das Niveau widerspiegelt, auf dem das Referat KM4 Krisen analysiert und Krisenmanagement plant, dann darf einem wirklich Angst und Bange werden. Dann hat der Autor recht: „Das Krisenmanagement hat in der Vergangenheit (…) keine adäquaten Instrumente zur Gefahrenanalyse und –bewertung aufgebaut“. Sein Papier wäre dann der Beleg dafür.
Dessen ungeachtet lässt sich ein Punkt festhalten: Eingangs sagte ich, die Coronakrise rücke bestehende Defizite ins Scheinwerferlicht. Dazu gehört, dass wir für das Management nationaler Katastrophenszenarien nicht ausreichend gerüstet sind. Das ging so lange gut, wie Katastrophen auf Landkreisebene zu bewältigen waren, im Wirkungskreis von Landräten. Corona hat eine andere Dimension, es wird nicht die letzte Krise dieser Art gewesen sein.
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