Ist die Erde flach?
Dass gesellschaftlich vorhandenes Wissen nicht vor individueller Dummheit schützt, ist eine banale Erkenntnis. Darauf beruht schließlich unser ganzes Bildungssystem. Es will die Kluft zwischen dem, was Einzelne wissen und dem, was wissbar ist, kleiner machen. Weniger banal ist dagegen die Erkenntnis, dass selbst individuelles Wissen um das, was „man“ weiß, nicht vor Dummheit schützt. Es gibt eben Leute, die bezweifeln, dass die Erde rund ist. Den Augenschein haben sie ja auch für sich. Das Widerstreben, zu glauben, was alle glauben, eben weil es alle glauben, hat viele Facetten. Querdenker können dabei erfrischend neue Ideen in die Diskussion bringen, Querulanten, die sich nicht darum scheren, ob es gute Gründe gibt, etwas zu glauben oder zu bezweifeln, kommen mit der flachen Erde.
Oder wissen wir nur nicht genau, wie gekrümmt sie ist?
Wenn das gesellschaftliche vorhandene Wissen spärlich und die Situation verunsichernd ist, verbreitert sich der Raum für Querdenker wie für Spekulanten und Obskuranten aller Art. Die Corona-Pandemie ist so ein Fall. Am Anfang war z.B. unsicher, ob sich SARS-CoV-2 überhaupt von Mensch zu Mensch überträgt, dann, ob es sich über China hinaus verbreiten wird, ob auch Menschen ohne Symptome das Virus verbreiten können, wie viele Menschen keine Symptome entwickeln, ob es nur durch größere Tröpfchen oder auch durch kleine Aerosole übertragen wird, ob Masken schützen und wenn ja, wen, wie viel Mindestabstand hilfreich wäre, ob die Intensivbetten reichen, ob manche Situationen wie z.B. das Zusammenhocken in feucht-fröhlicher Runde wie in Ischgl, im Fasching, bei bayerischen Starkbierfesten oder beim Singen in Kirchen besonders gefährlich sind, ob auch weniger fröhliche Zusammenkünfte wie Asylbewerberheime oder Fließbandarbeit in kühl-feuchter Umgebung in Schlachthöfen zu Superspreadings führt, ob Covid-19 eine Lungenkrankheit ist oder eine Multiorgankrankheit, ob nach der Krankheit für alle Immunität besteht, ob es eine Hintergrundimmunität durch Kontakt mit anderen Coronaviren gibt, und bis heute ist nicht ganz gewiss, wie hoch die Letalität ist, wie viele Menschen am Ende sterben werden, wann es einen Impfstoff geben wird, wie dessen Nutzen-Risikoprofil aussehen wird oder welche der bisher ergriffenen Maßnahmen nun welche Effekte hatten oder vielleicht nur Cargo-Kult-Charakter haben.
Die Liste ließe sich mühelos fortsetzen. Dabei ist es nicht so, dass wir dazu nichts wissen. Ganz im Gegenteil. Selten dürfte über eine Infektion in so kurzer Zeit so viel an Wissen akkumuliert worden sein. Schnelle Wechsel beim Stand des Wissens und viele kleinteilige Erkenntnisse sind für Spekulanten aber nicht geschäftsschädigend, im Gegenteil, für sie ist das der Beweis dafür, dass auch die Wissenschaft die Wahrheit nicht kennt und ständig etwas anderes sagt. Auch die, die hinterher alles besser wissen, können mit dieser Situation gut umgehen. Zu irgendeinem Zeitpunkt oder in irgendwelcher Hinsicht hat jeder Recht, der irgendwann irgendwas über die weitere Entwicklung vorhergesagt hat oder zumindest hinterher meint, dass man dies oder das doch von vornherein hätte wissen können.
Was tun?
Man kann daran epistemologische und philosophische Betrachtungen anknüpfen, wie es z.B. Nikil Mukerji und Adriano Mannino in ihrem Bändchen „Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit“ getan haben. Nach der Lektüre war ich bei der Leninschen Frage, was tun, leider auch nicht weiter als zuvor. Ich kann mir das leisten. Aber die Politik nicht. Wie soll sie mit der Situation umgehen? Entscheiden unter Unsicherheit ist an sich keine Sache, mit der sie bei Corona erstmalig konfrontiert wurde. Aber erstmalig hat sie auf der Basis von Erfahrungsberichten aus Krisenregionen, virologischer Beratung und epidemiologischen Modellen in vielen Ländern das gesellschaftliche Leben heruntergefahren. Gut, Leute wie Trump, Johnson oder Bolsonaro haben das nicht getan, aber bei denen weiß man eh nicht, ob ihr Ego rund oder flach ist.
Nachschauen, ob sie flach oder rund ist
Paradigmatisch für die Situation mag eine Kontroverse zwischen John Ioannidis et al. und Pasquale Cirillo und Nassim Nicholas Taleb sein. Ioannidis ist, wie man inzwischen ständig lesen kann, der wohl meistzitierte Epidemiologe der Welt, auch hier im Blog ist er mit seinem berühmten Artikel „Why most published research findings are false“ immer wieder mal zitiert worden, und Taleb ist der Autor des nicht minder berühmten Buches „Der schwarze Schwan“. Einig sind sich beide darin, dass man Corona ernst nehmen muss und dass man nicht nur viel weiß, sondern auch viel nicht weiß. Während Cirillo/Taleb aus 72 historischen Epidemien die Schlussfolgerung ziehen, man solle das Risiko eines Verlaufs mit ungewöhnlich vielen Toten nicht unterschätzen, weil die Opferzahl von Epidemien nicht normalverteilt sei, weisen Ioannidis et al. darauf hin, dass viele der apokalyptischen Vorhersagen zur Coronakrise nicht eingetroffen sind. Ob sie nicht eingetroffen sind, weil die Modellannahmen falsch waren, oder weil die Maßnahmen gegriffen haben, bzw. vielleicht besser gefragt, in welchem Umfang die eine oder die andere Erklärung zutrifft, wird man sehen, wenn die Wissenschaft dazu nicht nur mehr Details liefert, sondern diese auch zu einem Bild zusammensetzen kann.
Zu hoffen wäre, dass sich daraus auch für die Politik konkrete Schlussfolgerungen ableiten lassen, damit man beim nächsten Mal mit mehr und zielgenauerem Vorwissen als diesmal handeln kann. Bei wenig Wissen sicherheitshalber immer den worst case anzunehmen, ist nicht machbar. Aber so zu tun, als ob man gar nichts weiß und erst einmal abzuwarten, wie es kommt, ist bei Epidemien auch keine gute Option. Dass die Erde flach ist, gilt nur bei begrenztem Horizont.
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Zum Weiterlesen:
– Ioannidis, J.P.A., Cripps, S., Tanner, M.A.: Forecasting for COVID-19 has failed
– Cirillo P., Taleb N.N.: Tail risk of contagious diseases. Nature Physics 2020.
– Vorwissen und Statistik: Coronakrise: Das Ifo-Institut, die Presse und die statistische Signifikanz
– Unsicherheit und Angst: Das Corona-Virus, die gelbe Gefahr, das Gespenst der Epidemiologie und das Ende der Welt
– Prognosen: Trump und der Truthahn – von Trends und Prognosen
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