Im aktuellen Ärzteblatt 29/30 vom 20. Juli 2020 ist eine Studie erschienen, die mit einer statistisch anspruchsvollen Methodik die Lebenserwartung auf Kreisebene in Deutschland berechnet. Sie kommt wie schon einige Studien vorher zu dem Befund, dass Regionen mit höherem Lebensstandard auch eine höhere Lebenserwartung haben. Diesen Zusammenhang immer wieder in Erinnerung zu rufen, ist wichtig, keine Frage.
Die Autoren adressieren ihre Studie zu Recht an die Politik: „Die Identifikation von Regionen mit niedriger Lebenserwartung ist wichtig für politische Entscheidungsträger, insbesondere bei der Allokation von Ressourcen im Gesundheitssystem“, heißt es im Abstract. Sie bemängeln dann die statistischen Unsicherheiten kleinräumiger Analysen und berechnen die Lebenserwartung mit einem Verfahren, dass sie als verlässlicher ansehen. Warum nicht. Bessere Daten sind immer gut.
Etwas ratlos lässt allerdings die Empfehlung zurück, “dass Maßnahmen, die die Lebensstandards für ärmere Teile der Bevölkerung verbessern, am ehesten dazu geeignet sind, die existierenden Unterschiede in der Lebenserwartung zu reduzieren.” Dem wird man nicht widersprechen wollen und das dürfte auch deutlich wirksamer sein als die „Allokation von Ressourcen im Gesundheitssystem“, aber was bedeutet das konkret?
Der aktuelle Entwurf des Regelbedarf-Ermittlungsgesetzes des Bundesarbeitsministeriums sieht ab 2021 z.B. eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes für alleinstehende Erwachsene um 7 Euro vor. Für Jugendliche sind immerhin 39 Euro vorgesehen, aber auch hier dürfte der Effekt auf die Lebenserwartung marginal sein. Die Hartz-IV-Sätze werden die Autoren somit wohl nicht gemeint haben. Der Mindestlohn steigt auch stets nur um inkrementelle Beträge, besser als nichts selbstverständlich, aber ausreichend für eine Reduktion von Unterschieden in der Lebenserwartung? Eher nicht.
Das wird nur über langfristige Investitionen in die Bildung gelingen, mit der Begrenzung von Mieten in Ballungsräumen, die gerade im Niedriglohnsektor jede Lohnsteigerung aufzehren, mit Jobs, die einem nicht die Würde nehmen, auch mit deutlich höheren Löhnen (nicht zuletzt in der Pflege) und generell, indem man das Auseinanderdriften von „unten“ und „oben“ in der Gesellschaft nicht weiterlaufen lässt wie bisher. Als abschreckendes Beispiel dafür, wenn das nicht gelingt, sei auf das Buch „Deaths of Despair“ von Anne Case und Angus Deaton verwiesen, die den Niedergang der weißen Arbeiterklasse in den USA beschreiben, deren Lebenserwartung seit Jahren rückläufig ist. Die Zunahme von Sterbefällen durch Suizid, Alkohol und Drogen, eben den Sterbefällen infolge von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, sehen sie als charakteristisches Zeichen dieser Entwicklung – neben Donald Trump.
Es geht letztlich nicht nur um „Maßnahmen, die die Lebensstandards für ärmere Teile der Bevölkerung verbessern“, Armut erträglicher machen, sondern um Maßnahmen, die Armut verhindern, eine angemessene Teilhabe aller am gesellschaftlichen Fortschritt sicherstellen und Hoffnung auf Zukunft möglich machen – damit nicht eines Tages auch bei uns die Deaths of Despair Thema im Ärzteblatt sind.
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