Eigentlich eine überflüssige Frage. Dass die soziale Lage einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Gesundheit ist, ist eine Binsenweisheit. Je schlechter die soziale Lage, desto schlechter auch die Gesundheit. Mehr noch: In wohlhabenden Ländern beeinträchtigt schon soziale Ungleichheit an sich die Gesundheit – auch die Gesundheit derer, denen es einigermaßen gut geht. Das ist die berühmte Wilkinson-These, benannt nach Richard Wilkinson, inzwischen durch viele Studien gestützt.
Bei der sozialen Ungleichheit spielt die Statuswahrnehmung eine wichtige Rolle. Man bewegt sich also nicht mehr nur auf der Ebene objektiver materieller Benachteiligung, z.B. eines niedrigeren Einkommens, sondern auch auf einer subjektiven Ebene, dem Gefühl, ob es gerecht zugeht oder nicht. Am Arbeitsplatz hat schon vor vielen Jahren Johannes Siegrist mit seinem Modell der „Gratifikationkrisen“ auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht. Beschäftigte, die ihren Einsatz nicht angemessen gewürdigt sehen, werden häufiger krank. Etwas unschön war, dass Siegrists verdienstvolle Forschung durch Gelder der Tabakindustrie mitfinanziert wurde, die seinerzeit konkurrierende Herz-Kreislauf-Risiken zum Tabakrauchen in die Öffentlichkeit bringen wollte. Vielleicht ein Beispiel dafür, dass manchmal der Teufel, auch wenn er das Böse will, doch das Gute schafft.
Vor ein paar Tagen ist der neue Fehlzeiten-Report 2020 erschienen, der vom Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WidO) in Zusammenarbeit mit zwei Hochschulen herausgegeben wird. Den Fehlzeiten-Report gibt es seit 20 Jahren, jährlich neu mit wechselnden Schwerpunktthemen, zu denen Wissenschaftler/innen jeweils Fachartikel beisteuern. Dieses Jahr ist es das Thema „Gerechtigkeit und Gesundheit“. Die Beiträge des Themenschwerpunkts beschäftigen sich sowohl mit der objektiven als auch der subjektiven Seite des Gerechtigkeitsproblems.
Mit der subjektiven Seite wird der Band auch gleich eingeleitet. Drei Soziologen, Stefan Liebig, Direktor des Sozio-oekonomischen Panels am DIW (der wohl wichtigsten sozialwissenschaftlichen Längsschnittstudie in Deutschland), Carsten Sauer und Reinhard Schunk, zeigen anhand von Daten der LINOS-2-Studie gesundheitliche Folgen erlebter Ungerechtigkeit auf. Sie unterscheiden dabei verschiedene Arten der Gerechtigkeit, darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Interessant ist, dass die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit beeinträchtigt – genau genommen die subjektive wahrgenommene Gesundheit, die Gesundheit wurde ebenfalls „nur“ erfragt. Aber statistisch hängt die subjektive Einschätzung der Gesundheit eng mit objektiven Gesundheitsparametern zusammen, was ja auch nicht weiter verwunderlich ist.
Das Gerechtigkeitsthema wird im Fehlzeiten-Report an verschiedenen arbeitsweltbezogenen Beispielen durchdekliniert. Dazu liefern auch die AOK-Daten, die den zweiten Teil des Bandes füllen, reichlich Material. Hier sei nur ein Beispiel angeführt, der Krankenstand nach Berufen, ein Kommentar erübrigt sich beim Blick auf die Daten:
Der umfangreiche Datenteil des Fehlzeiten-Reports ist ein für viele Zwecke hilfreicher Fundus. Man findet den Krankenstand der AOK-Versicherten nach Branchen, Bundesländern, Diagnosen, Wochentagen oder nach Alter und Geschlecht und vieles mehr. Auch andere Krankenkassen liefern seit einigen Jahren solche Daten, ein wichtiger Teil der Gesundheitsberichterstattung in Deutschland, die ansonsten vor allem von staatlichen und kommunalen Stellen getragen wird.
Wenn der Report zur Wiederbelebung arbeitsethischer Fragen in Deutschland beitragen würde, wäre das höchst wünschenswert, schließlich gibt es reichlich Anlass, über Gerechtigkeit und Menschenwürde in der Arbeitswelt zu sprechen. Die Pflege ist gerade ein prominentes Beispiel.
Der Fehlzeiten-Report 2020 ist 790 Seiten stark, also eher ein Nachschlagewerk als eine Bettlektüre. Trotzdem hätte es ihm gutgetan, wenn auch noch ein oder zwei Beiträge aus der Feder von Ethikern dabei gewesen wären, zumal die Arbeitswelt in der Public Health-Ethik bisher eher ein Schattendasein führt.
Den Fehlzeiten-Report gibt es als Printausgabe für 59,99 Euro oder als eBook für 46,99 Euro. Die Komma-99-Preise sollen vermutlich wie an der Tankstelle psychologisch wirken, gerecht sind sie angesichts des reichhaltigen Inhalts auf jeden Fall.
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