1947 ist „Die Pest“ von Albert Camus erschienen. Es geht darin um den Ausbruch der Pest in der Stadt Oran, ihre Abriegelung, um Impfungen und vor allem das Verhalten der Menschen in der Zeit der Abriegelung.
Nach einem Jahr Corona spürt man, und kann es auch in den Medien lesen, dass die Menschen schlicht erschöpft sind. Seit einem Jahr ist zumindest in wichtigen Bereichen das suspendiert, was das Leben normalerweise antreibt, im Guten wie im weniger Guten: unbeschwertes Einkaufen, Flugreisen, Weinfeste, Städtetourismus, volle Sportarenen, Freizeitsport, Kino, Kneipe, Theaterbesuche, Schule, Kita und vieles mehr. Dazu müssen manche arbeiten bis zum Umfallen und andere wissen nicht, was sie den ganzen Tag über machen sollen. Der im Feuilleton manchmal erteilte Rat, man solle die Zeit nutzen, um darüber nachzudenken, was im Leben wirklich wichtig ist, ist so richtig wie unnötig.
Zur aktuellen Stimmung ein paar Impressionen aus dem Buch von Camus:
„So wehrten sich die Gefangenen der Pest Woche um Woche so gut sie konnten. Und einige unter ihnen (…) schafften es offensichtlich sogar, sich einzubilden, dass sie noch als freie Menschen handelten, dass sie noch wählen könnte. Tatsächlich aber konnte man zu diesem Zeitpunkt (…) sagen, dass die Pest sich über alles gelegt hatte.“
„Gewöhnten sich unsere Mitbürger (…) an die Situation? Das zu behaupten, wäre nicht ganz richtig. Zutreffender wäre, dass sie moralisch wie körperlich an Auszehrung litten.“
„Niemand bei uns hatte mehr große Gefühle. ‚Es wird Zeit, dass es aufhört‘, sagten unsere Mitbürger, weil es in Zeiten von Plagen normal ist, das Ende der gemeinsamen Leiden zu wünschen, und weil sie tatsächlich wünschten, dass es aufhörte. Aber all das wurde ohne das Feuer oder die Erbitterung des Anfangs gesagt (…). Dem wilden Ungestüm der ersten Wochen war eine Niedergeschlagenheit gefolgt, die man zu Unrecht für Resignation gehalten hätte, die aber nichtsdestoweniger eine Art vorübergehendes Nachgeben war. Unsere Mitbürger waren mit der Zeit gegangen , sie hatten sich angepasst, wie man so sagt, weil es anders nicht ging.“
„Jetzt sah man sie an den Straßenecken, in den Cafés oder bei ihren Freunden, still und zerstreut und mit so gelangweiltem Blick dass durch sie die ganze Stadt einem Wartesaal glich. (…) Ohne Erinnerung und ohne Hoffnung, richteten sie sich in der Gegenwart ein. In Wahrheit wurde für sie alles Gegenwart.“
Am Ende verschwindet die Pest aus Oran so plötzlich, wie sie gekommen war. Camus schreibt nichts über die langfristigen Folgen der Pest in der Stadt, aber ihm war klar, dass die wiedergewonnene Normalität brüchig und gefährdet war. Er lässt den Chronisten am Ende des Buchs sagen:
„Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freunde immer bedroht war. (…) Denn er wusste (…), dass (…) der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang (…) geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.“
Anfang 2020 war es wieder einmal so weit. Und wann es das nächste Mal so weit sein wird, und was dann geschieht, hängt auch davon ab, ob wir beim nächsten Mal besser vorbereitet sind.
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