Talkshows sind oft üble Phrasendreschmärkte. Die Sendung Anne Will heute war etwas anders. Einziger Gast war Angela Merkel. Natürlich der dramatischen Lage bei den Fallzahlen der Infektionen, den fallenden Zahlen bei der CDU und dem Wunsch Merkels, sich zu erklären, geschuldet. Trotzdem, oder deswegen, sehenswert.
Merkel hat sehr deutlich die Ministerpräsidenten kritisiert. Namentlich, das ist besonders bemerkenswert, Armin Laschet, der ja nicht nur Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist, sondern auch neugewählter CDU-Chef, und Tobias Hans aus dem Saarland, der jetzt einen Modellversuch zur geschützten Öffnung des öffentlichen Lebens beginnen will. B1.1.7 hin oder her. Das Kürzel muss man wohl inzwischen nicht mehr erklären. Merkel hat unmissverständlich gesagt, dass ihrer Meinung nach jetzt keine Zeit für Öffnungen und Modellversuche sei. Möglicherweise will Tobias Hans morgen nicht mehr, sondern wollte.
Aber zunächst hat sie nur ihre Meinung gesagt. Es ging dann in einer selten offenen Weise weiter: Merkel hat explizit moniert, dass die gemeinsamen Beschlüsse aus den MPKs, den Runden mit den Ministerpräsidenten, nicht konsequent umgesetzt würden. Es würde zu viel „Ermessen“ ausgenutzt (ein Euphemismus dafür, dass die Ministerpräsidenten sich nicht an die Beschlüsse halten) und dass man in dieser Hinsicht gerade in einer „kritischen Zeit“ sei. Zugleich mahnte sie an: Ohne Gemeinsamkeit mit den Ländern gehe gar nichts. Was Merkel damit zu Protokoll gegeben hat, muss man sich erst einmal richtig bewusst machen. Es kommt praktisch einer Bankrotterklärung der MPK-Runden gleich. Von Anne Will nach ihrem Vertrauen den MPs gegenüber gefragt, ist Merkel vielsagend in Plattitüden ausgewichen, z.B. dass man ohne Vertrauen nicht zusammenarbeiten könne. Das scheint wohl so zu sein.
Im zweiten Teil der Sendung hat Merkel die strategischen Entscheidungen beim Impfen verteidigt. Es laufe natürlich nicht alles optimal, aber drei zentrale Punkte seien richtig gewesen: dass die EU die Beschaffungsverhandlungen geführt habe, dass man doppelt so viel Impfstoff bestellt habe wie die EU Bevölkerung hat und dass man schon im letzten Sommer den Aufbau des BioNTech-Werks in Marburg begonnen habe. Sie hat sich dagegen ausgesprochen, den Export von Impfstoffen aus der EU zu verbieten, etwa mit Blick auf die Zulieferung von Komponenten aus dem Ausland oder, wichtiger, dass die Pandemie weltweit bekämpft werden müsse. Nebenbei verwies sie noch darauf, dass der Impfstoff für Israel aus der EU komme. Ich finde, darauf sollten gerade wir in Deutschland stolz sein. An dem Punkt, dass in Israel so schnell geimpft werden konnte und wenn es gut geht, dort viele Menschenleben gerettet wurden, haben wir jedenfalls nichts falsch gemacht.
Man könnte selbstverständlich auch das Ungesagte des Interviews beleuchten, z.B. dass die großen Konzerne zig Milliarden an Dividenden ausschütten, obwohl sie enorme Staatshilfen bekommen haben (u.a. in Form des Kurzarbeitergeldes), oder das dramatische Versagen der Politik beim Schutz der alten Menschen in den Heimen, und dass mit den Grundrechten manchmal sehr hemdsärmlig umgegangen wurde. Insgesamt aber hat sich Anne Will nicht nur als Stichwortgeberin betätigt, sondern durchaus Widersprüche und Irrationalitäten der verordneten Maßnahmen benannt, die ja in der Tat manchmal besser von Karl Valentin als von Karl Lauterbach zu begründen sind, und sie hat dazu Merkels Bewertung eingefordert. Dass Merkel zum Schluss den „Pakt für den ÖGD“ angesprochen hat, ist auch bemerkenswert. So viel politische Aufmerksamkeit wie derzeit hatte der ÖGD seit Ludwig von Manger-Koenig nicht mehr.
Auch danach, was jetzt kommt, bei offenkundigem Handlungsbedarf und abgesagter Osterruhe, hat Anne Will gefragt. Das blieb in beunruhigender Weise offen. Ich bin gespannt auf die Kommentare morgen in der Presse.
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