Hier im Blog hatte ich schon mehrfach von Tagungen bei der Evangelischen Akademie Tutzing berichtet, zuletzt einer über das Menschenbild in der Medizin. An diesem Wochenende ging es um die Frage, wie gegenwärtig mit Tod und Sterben umgegangen wird, wie sichtbar oder unsichtbar das Sterben im Alltag ist, wie unsere Vorstellungen von Tod und Sterben medial geprägt werden und welche Rolle die Medizin am Lebensende spielt.
Galt viele Jahrhunderte, dass der Tod immer präsent ist, ins Leben eingewoben, „media vita in morte sumus“, so ist er in der Neuzeit doch sehr aus dem Leben verdrängt worden. Die Lebenserwartung ist auf über 80 Jahre gestiegen. Für viele Menschen – bei uns – beginnt mit dem Renteneintritt eine neue lange nachberufliche Lebensphase mit ganz eigenen Fragen danach, was im Leben wichtig ist, was mit der verbleibenden Zeit anzufangen ist und eben auch, wie sich Tod und Sterben verändert haben. Der Historiker Arthur Imhof hat diesen Prozess des „aufgeschobenen Todes“ in der Neuzeit schon 1988 in seinem Buch „Die Lebenszeit“ ausführlich beschrieben, einschließlich des kulturellen Wandels, der damit einherging. Etwas ironisch hat er angemerkt, dass im Zuge des Fortschritts das Leben trotzdem unendlich viel kürzer geworden sei – weil wir zwar viele Jahre Lebenserwartung gewonnen, aber zugleich das ewige Leben verloren haben.
Dass wir sterblich sind, dass wir alle sterben müssen, wissen wir. Aber für die meisten Menschen ist es wohl über viele Jahre ihres Lebens hin ein abstraktes Wissen. Ralf Stoecker, ein Bielefelder Philosoph, hat dazu bei der Tagung in Tutzing auf Tolstois Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ hingewiesen. Iwan Iljitsch weiß, dass alle Menschen sterblich sind, er kennt den Syllogismus „Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist Cajus sterblich.“ Aber er fühlt anders: „Cajus ist sterblich, und es ist ganz in Ordnung, daß Cajus stirbt; aber ich, Wanja, ich Iwan Iljitsch mit all meinen Gedanken und Gefühlen – das ist eine ganz andere Sache, es kann nicht sein, dass auch ich sterben muss. Das wäre zu schrecklich. – So fühlte er.“
Stoecker formulierte vor diesem Hintergrund die Ausgangsfrage der Tagung, ob aktuelle Ereignisse wie Corona oder der Ukrainekrieg das Bewusstsein dafür, dass wir sterben müssen, wieder näher an uns herangebracht haben. Somit wurden natürlich die Bilder aus Bergamo, die Nachrichten aus der Ukraine, diskutiert. Um die Medizin und ihre Grenzen ging es einem zweiten Themenkomplex, zwischen den Polen der dem Tod entgegentretenden Intensivmedizin auf der einen Seite und der palliativmedizinischen Begleitung Todkranker auf der anderen Seite. Auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid vom Februar 2020 mit seiner entschiedenen Stärkung der Autonomie von Menschen am Lebensende wurde diskutiert, wie vieles andere.
Sehr interessant waren zwei Vorträge über Trends der digitalen Abschiedskultur. Es gibt inzwischen längst nicht mehr nur die Möglichkeit, im Internet auf Trauerseiten virtuelle Kerzen aufzustellen, Beileidsbekundungen zu hinterlassen oder sich virtueller „Grabpflege“ zu widmen. Vielmehr ermöglichen Anwendungen der künstlichen Intelligenz z.B. Chat-Bots zum Gespräch mit Verstorbenen oder auch 3-D-Simulationen von Verstorbenen. So kann man über Virtuell Reality Abschied von Verstorbenen nehmen, wenn das in der analogen Wirklichkeit nicht gelungen ist, mit durchaus therapeutischem Potential in der Trauerbewältigung. Man kann aber auch mit den Verstorbenen „weiterleben“, wie Stefanie Schillmöller, Trendforscherin aus Amsterdam, am Beispiel der Anwendung „HEREweHOLO“ berichtet hat.
Solche Entwicklungen werfen viele Fragen auf. So wies der Theologe Rainer Liepold darauf hin, dass viele unserer Rituale rund um den Tod historisch daher rühren, dass die Toten nicht zurückkehren sollen. Daher z.B. früher die Verschleierung der hinterbliebenen Frauen, damit sie nicht so leicht von den Toten erkannt werden, oder schwere Grabplatten, die verhindern sollen, dass die Toten aus den Gräbern kommen. Mit einer quasi belebten KI werden dagegen geradezu virtuelle Untote erzeugt, die dazulernen und sich weiterentwickeln. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie es vielleicht nach ein paar Jahren zu schweren Konflikten mit diesen lebenden Toten kommen könnte. Ihre ewige Präsenz tritt an die Stelle des Abschiednehmens und Loslassens. Ob so Trauer bewältigt oder perpetuiert wird? Wird Sterben damit als die eigene Zukunft – siehe die Angst von Iwan Iljitsch – begreiflicher, oder eher unbegreiflicher, eben virtueller? Und deutet sich in solchen Entwicklungen gar an, dass die Träume mancher Transhumanisten vom ewigen Leben in einer anderen Form doch Wirklichkeit werden könnten? Könnte am Ende so eine KI gar Bewusstsein haben, vielleicht das des Verstorbenen, wenn die Technik noch etwas weiter ist und genug Daten als „Essenz dieses Menschen“ verfügbar sind?
Wie dem auch sei: Der Tod ist jedenfalls auch nicht mehr das, was er einmal war. Aber nach wie vor müssen wir alle sterben und sind daher gut beraten, uns rechtzeitig Gedanken darüber machen, wie wir leben wollen.
Starnberger See, Evangelische Akademie Tutzing, 10.4.2022, Foto JK
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