1992 schrieb der Volkswirt Adolf Wagner in seinem Bändchen „Volkswirtschaft für jedermann“ unter dem Eindruck des Jugoslawienkonflikts (Wagner 1992:14):
„In Kriegs- und Krisenzeiten erfährt der alte Schopenhauer immer wieder, tausendfach und auf ganz entsetzliche Weise die Bestätigung seines dunklen Menschenbildes. Man kann vom Umgang der Serben, Kroaten und Bosnier miteinander (…) und aus beliebigen Bänden der Menschheitsgeschichte Anschauungsmaterial bis zum Überdruß beziehen. Es ist deshalb wichtig, daß eine Volkswirtschaft, die Bestand haben soll, nicht auf das Gute im Menschen, nicht auf einen erdachten und erst noch heranzuziehenden besseren, neuen Menschen angewiesen ist. Für Systeme der volkswirtschaftlichen und der staatlichen Steuerung ist der Mensch so zu nehmen, wie er ist.“
Der Krieg damals war für Wagner Anlass, darauf hinzuweisen, dass der Markt, wenn man ihn nur lässt, den Menschen von der Verantwortung für sein Handeln entlastet. Er sorgt dafür, dass sich das Handeln des Menschen, trotzdem er ist, „wie er ist“, zum Guten wendet. Seit Mandevilles Bienenfabel wird dieses geheimnisvolle Wirken immer wieder bemüht. Wagner: „Per Marktmechanismus folgt aus den eigenmotivierten Aktivitäten ein Gesamtergebnis, das ‚Wohlstand für alle‘ ermöglicht.“ (ebd. S. 15). Zum Marktmechanismus im Großen gehört im Kleinen der Mechanismus des rationalen Nutzenmaximierens, verkörpert im Modell des homo oeconomicus. Wagner dazu (S. 15):
„Als Unternehmer will der homo oeconomicus für seinen Einsatz Gewinn statt Verlust, und einen möglichst hohen Gewinn hat er lieber als einen niedrigen. Als Privathaushalt verfolgt der homo oeconomicus das Ziel, mit Geldausgaben für Konsum möglichst viel Genuß zu erleben und mit Arbeitseinsatz möglichst hohe Entlohnung zu erlangen. Wird er als Beamter fest besoldet, zeigt er eine gewisse, vernünftige Neigung, seine Leistung zu minimieren.“
Ob der Beamte Wagner hier seine Denkleistung minimiert hat, sei dahingestellt, jedenfalls sind damit die Zutaten für den Basismythos des volkswirtschaftlichen Mainstreams beisammen. Der Mensch, „wie er ist“, mit seinen realen Bedürfnissen und Bewegungsgründen, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Das Erdachte wird zum Wirklichen, das Wirkliche zur auszublendenden statistischen Störgröße. Leute wie der Wirtschafts-Nobelpreisträger Gary Becker wollen hier sogar Grundsätzliches aus der menschlichen Anthropologie erkennen: Alles menschliche Verhalten ist als Suche nach dem ökonomischen Vorteil zu verstehen. Damit wird der Mensch in dem Maße irrationalisiert, in dem er vom Ideal des homo oeconomicus abweicht. Wer an so etwas wie Freundschaft glaubt, ist demnach ökonomisch dumm. Amartya Sen, ebenfalls Wirtschafts-Nobelpreisträger, sah umgekehrt den homo oeconomicus als „rationalen Dummkopf“. Bis heute scheint jedenfalls auch in steuerberaterisch bestmöglich optimierten Partnerschaften nicht der homo oeconomicus die Beziehungsgrundlage zu sein. Mit dem Satz „ich liebe dich nicht, aber du nützt mir“ beginnt keine Hollywood-Romanze.
Wer wäre überhaupt der ideale homo oeconomicus? Der Modellfall des Modells? Viren? Denken Viren ökonomisch? Viren denken nicht, aber sie repräsentieren sicher in guter Weise das Verhalten, das manche als Inbegriff des egomanen Wettbewerbs sehen: Survival of the fittest. Viren stehen in einem evolutionären Wettbewerb untereinander, mit dem Immunsystem ihrer Wirte und den Rahmenbedingungen ihres Biotops insgesamt. Menschen sind aber keine Viren. Sie denken, zumindest sind sie im Prinzip dazu in der Lage, und sie leben gesellschaftlich, nicht als Monaden, sofern man nicht Thatchers „there is no such thing as society“ für wahr hält. Ihre individuelle Existenz ist gesellschaftlich vermittelt. Bereits der frühkindliche Spracherwerb zeigt das. Kein Kind auf der Welt kommt als Individuum, als Kaspar Hauser, zur Sprache. Man kann es bei so verschiedenen Geistern wie Michael Tomasello oder Klaus Holzkamp nachlesen.
Ein anderes geeignetes Modell könnten Maschinen sein. Mit Henry Fords Bemerkung, Autos würden keine Autos kaufen, muss es ja nicht zu Ende sein. Vor ein paar Jahren hatte ich hier dazu auf offene Fragen der Roboter-Ökonomie hingewiesen, unter Verweis auf Science Fiction-Geschichten über intelligente und selbständige Maschinen. Bei Stargate sind es die Replikatoren, bei Battlestar Galactica die Zylonen, intelligente Roboter, die sich nicht nur gegen die Menschen erhoben haben, sondern auch ihr Zusammenleben und ihre Reproduktion autonom organisieren. Roboter sind sicher in der Lage, in idealer Weise als homo oeconomicus zu funktionieren, Vorteile und Nachteile von Handlungsweisen sachlich rational abzuwägen und das verfügbare Wissen optimal zu nutzen. Vielleicht bräuchten sie nicht einmal Märkte, weil jedes Individuum über alle relevanten Informationen verfügen könnte, die bei uns wissensmäßig unzulänglichen Menschen, nur der Markt bereitstellen könne, wie z.B. Friedrich August v. Hayek glaubte, noch ein Wirtschafts-Nobelpreisträger.
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