Mit dieser – natürlich rhetorischen – Frage hat vor ein paar Tagen Bernd Hontschik in der Ärztezeitung darauf aufmerksam gemacht, dass die Todesursachenstatistik sich über wichtige Aspekte dessen ausschweigt, was sie bezeichnet, nämlich die Ursachen des Sterbens. Sie kennt den Herzinfarkt, aber nicht den jahrelangen Bewegungsmangel, sie kennt den Lungenkrebs, aber nicht das regelmäßige Rauchen, und auch die vielen tausend Hitzetoten der letzten Jahre finden sich dort nicht explizit als solche dokumentiert. Hontschik:
„Noch nie haben wir auf Totenscheinen Armut, Hunger, Lärm oder schlechte Luft als Todesursache eingetragen. Auch der Eintrag „Hitze“ kommt bei uns nicht vor. Stattdessen benutzen wir überdehnte synonyme Umschreibungen für Tod, zum Beispiel Multiorganversagen oder Herz-Kreislaufstillstand.“
Ob Herz-Kreislaufstillstand nur eine „überdehnte synonyme Umschreibung“ für den Tod ist, sei einmal dahingestellt, und dass „Hitze“ als Eintrag in der Todesursachenstatistik nicht vorkommt, trifft so nicht zu, es gibt die ICD-Diagnose T67 (Schäden durch Hitze und Sonnenlicht), aber Hontschiks Fazit spricht dennoch einen wichtigen Punkt an:
“Wenn man aber tiefer forscht, dann sind Armut, Schmutz, Lärm, Hitze und medizinische Fehler die weitaus häufigsten Todesursachen, obwohl sie kein einziges Mal auf den Totenscheinen vermerkt worden sind. Todesursachen sind ein Politikum ersten Ranges.“
Todesursachen werden seit Jahrhunderten dokumentiert. Die ICD-Klassifikation wird in Deutschland für die Todesursachenstatistik seit 1932 angewandt. Sie soll Todesursachenstatistiken international vergleichbar machen und für die leichenschauenden Ärzte und Ärztinnen praktikabel sein. Das ist bei medizinischen Diagnosen einfacher als bei der Zuordnung von Sterbefällen zu Risikofaktoren. Man wird im Todesfall kaum aus statistischen Gründen eine Einkommensprüfung vornehmen können, um „Armut“ als sozialmedizinische Todesursache festzustellen, oder Luftschadstoffmessungen durchführen, um „schlechte Luft“ auf der Todesbescheinigung eintragen zu können. Eine tiefergehende Ursachenbestimmung gibt es nur für die ICD-Hauptgruppe XIX, den Verletzungen und Vergiftungen, sie wird fallzahlgleich auch in der Hauptgruppe XX, den „äußeren Ursachen“, abgebildet.
Welcher Anteil der Sterbefälle auf das Rauchen oder die Hitze entfällt, wird durch epidemiologische Analysen auf der Basis attributabler Risiken abgeschätzt. Das ist übrigens auch der Fall bei vielen Todesursachen mit eindeutiger ICD-Ziffer, die aber bei der Leichenschau nur unzureichend dokumentiert werden. Neben den Hitzetoten – von 1998 bis 2020 wurden gerade einmal 420 Fälle mit dem Grundleiden T67 dokumentiert – gilt das z.B. auch für die Influenza.
Trotz der pragmatischen Gründe für die Wahl medizinischer Diagnosen in der Todesursachenstatistik kann man natürlich grundsätzlich die Frage nach der angemessenen Kategorisierung von Todesursachen an sich stellen. Die Sichtbarmachung sozialer bzw. gesellschaftlicher Ursachen ist schließlich ein zentrales sozialmedizinisches Anliegen und für die Prävention, d.h. die Bestimmung vermeidbarer (vorzeitiger) Sterbefälle essentiell. Ein „natürliches“ Ordnungssystem dafür gibt es jedoch nicht, hier kommen notwendigerweise gesellschaftstheoretische Perspektiven ins Spiel.
Auch die gängige Todesursachenstatistik ist übrigens kein „natürliches“ Ordnungssystem, sondern geprägt von der westlichen Medizin mit ihren tradierten Perspektiven auf Geist und Körper. Ein Blick auf das Kapitel V mit den psychischen Störungen und der anhaltenden Diskussion um die Wissenschaftlichkeit dieser Diagnosen mag das verdeutlichen. Mit den Krankheiten verhält es sich ein bisschen wie in der berühmten “chinesischen Enzyklopädie“ von Jorge Luis Borges mit der Einteilung der Tiere. Ordnungssysteme sind uns selten von den Dingen selbst her vorgegeben. In Borges Worten:
„Die Tiere lassen sich wie folgt gruppieren:
a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, i) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“
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Nicht nur am Rande bemerkt:
Was für die Toten recht ist, ist für die Lebenden billig. Amartya Sen warnt in seinem Buch „Die Identitätsfalle“ davor, Menschen einfach auf eindimensionale Identitäten festzulegen. Damit würden Stereotypen erzeugt, die Freiheit einschränken. Menschen seien z.B. nie nur „Moslems“ oder „Hindus“, sondern gehörten immer einer Vielzahl von Gruppen mit unterschiedlichen Abgrenzungen und Überschneidungen an und könnten zudem die Bedeutung von Identitätsbestimmungen in vielen Fällen gewichten und verändern. Borges lehrt, wie taxonomische Freiheit geht.
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Edit: Absatz nach dem ersten Zitat korrigiert, siehe Kommentar #1
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