Der Tod der Queen hat ein außerordentliches Medienecho hervorgerufen. Demgegenüber war der Tod Gorbatschows medial geradezu ein Nebenthema. Die Queen war zweifellos eine Jahrhundertgestalt, die Respekt verdient. Die Paparazzi-Berichterstattung der Boulevardmedien, die im Detail erzählt, wer wann vom Tod erfahren hat und was nun auf die Königsfamilie zukommt, ist wohl ein Stück weit unvermeidlich. Selbst die ARD hat sich dazu Sondersendungen mit einer eigenen „ARD-Königshausexpertin“ gegönnt. Wofür die emotional besondere Aufladung in diesem Fall möglicherweise noch steht, etwa eine Sehnsucht nach gesellschaftlicher Geborgenheit und Stabilität in Zeiten, in denen diese in vielen westlichen Ländern brüchig geworden sind, ist nebenan schon andiskutiert worden.
Dass sich die Person der Queen offensichtlich für Projektionen gesellschaftlicher Geborgenheit eignet, auch das gilt es durchaus anzuerkennen. Bei Putin wäre das sicher anders und besser wäre es natürlich, die damit verbundenen Hoffnungen der Menschen könnten sich auf die realen Lebensbedingungen statt auf die Queen als Symbol stützen, als „Illusion“, wie es Kurt Kister gestern in der Süddeutschen Zeitung formuliert hat. Damit einher geht zwangsläufig auch die Verdrängung von Aspekten, die nicht „ins Bild“ passen, deren Sichtbarmachung schnell als „unpassend“ empfunden wird.
Aber wie damit in angemessener Form umgehen? Die Problematik sei an einem Beispiel verdeutlicht. Nach ersten Medien-Reaktionen unmittelbar zum Tod der Queen sowie den Kondolenzbekundungen von Politiker/innen weltweit gibt es jetzt vermehrt auch Rückblicke auf ihr politisches Wirken und dabei wiederum auch kritische Stimmen, vor allem, was ihre Rolle im Zusammenhang mit der britischen Kolonialvergangenheit angeht. Exemplarisch dazu einige Links:
• evangelisch.de: https://www.evangelisch.de/inhalte/205648/10-09-2022/die-queen-und-afrika-von-der-kolonialherrscherin-zur-umstrittenen-freundin
• Zeit.de: https://www.zeit.de/zett/politik/2022-09/elizabeth-ii-grossbritannien-kolonialismus-rassismus
• Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/politik/historiker-jurgen-zimmerer-die-queen-hat-sich-nie-zum-kolonialismus-geaussert-8630203.html
• Hamburger Abendblatt: https://www.abendblatt.de/hamburg/article236396759/hamburger-historiker-queen-hat-persoenlich-vom-kolonialismus-profitiert-koenigin-elisabeth-kronjuwelen-raubkunst-kriegsverbrechen.html
• Guardian: https://www.theguardian.com/us-news/2022/sep/10/queen-death-colonies-atrocities-british-empire
• CNN: https://edition.cnn.com/2022/09/10/africa/colonialism-africa-queen-elizabeth-intl/index.html
• Washington Post: https://www.washingtonpost.com/opinions/2022/09/10/britain-colonial-brutalities-queen-elizabeth-death-commentary/
• Reuters: https://www.reuters.com/world/africa/mixed-feelings-among-some-africa-queen-elizabeth-2022-09-09/
Den richtigen Ton dabei zu treffen, ist nicht einfach, weil hier Erwartungen an eine respektvolle Reaktion auf den Tod der Queen und Erwartungen an eine historisch korrekte Berichterstattung leicht in Konflikt geraten. Das kann von beiden Seiten aus unglücklich enden, wie z.B. ein Kommentar der WELT auf einen unguten tweet der amerikanischen Professorin Uju Anya zeigt, den die WELT wiederum für ihren Kampf gegen alles „Woke“ instrumentalisiert hat.
Die hier gelisteten Links zeigen aber, dass man es sich so einfach nicht machen darf. Der tweet der amerikanischen Professorin mag sprachlich und menschlich nicht angemessen gewesen sein, aber wer hat das Recht, ihr ihre Emotionen abzusprechen? Die WELT? Und muss über die Rolle der Queen in der britischen Kolonialgeschichte geschwiegen werden, so wie auch sie selbst darüber geschwiegen hat? Das betrifft auch gut gemeinte politische Kondolenzbekundungen. Wie verträgt sich beispielsweise Winfried Kretschmanns Satz, die Queen sei “uns allen in ihrem Pflichtbewusstsein ein großes Vorbild” gewesen, mit dem Schweigen der Queen über die britischen Kolonialverbrechen? Er hat ja sicher nicht gemeint, dass dieses Schweigen Teil ihres vorbildlichen Pflichtbewusstseins war und uns auch Vorbild sein sollte.
Gehört das Thema Kolonialverbrechen also in Rückblicke auf ihre Regentschaft, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, aber z.B. nicht in Kondolenzbekundungen von Politiker/innen? Oder sollte es dort zwar mitgedacht, aber nicht explizit angesprochen werden? Oder dürfen das afrikanische Politiker/innen, weil sie die betroffenen Länder repräsentieren, aber nicht europäische Politiker/innen? So wie sich z.B. der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis anlässlich des Todes von Gorbatschow kritisch zu dessen Rolle bei der versuchten Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegung im Baltikum äußern konnte, es aber für deutsche Politiker/innen vielleicht der falsche Zungenschlag gewesen wäre? Oder muss das Recht, die historischen Fakten zu benennen, zu jedem Zeitpunkt gelten und für jedermann, oder jede Frau?
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