Die Meldung vom angeblichen sprunghaften Anstieg plötzlicher Sterbefälle im ersten Quartal 2021, die der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert auf einer Pressekonferenz am 12.12.2022 in die Welt gesetzt hat, zieht weiter ihre Kreise durch die Medien. Auf der einen Seite kochen die einschlägigen querdenkernahen Foren ihr Süppchen von den angeblich unterschlagenen Impftoten weiter, auf der anderen Seite werden immer wieder die Einwände wiederholt, die schon unmittelbar nach der Pressekonferenz gegen diese Interpretation der AfD vorgebracht wurden, aber auch nicht so richtig erklären, womit es man nun bei diesen Daten zu tun hat.
Die AfD stützt sich auf eine Datenlieferung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung liegen Abrechnungsfälle für gesetzlich Versicherte vor. Aus diesen Daten hat der „Datenanalyst“ Tom Lausen für die AfD Auswertungen wie diese angefertigt:
Im Vergleich zu den Jahren 2016 bis 2020 sieht man 2021 und 2022 einen massiven Anstieg bestimmter sterbefallbezogener Diagnosen. Aber:
• Die KBV hat keine Zahlen zu „Toten“ geliefert, sondern Zahlen über Abrechnungsfälle. Ein Personenbezug besteht nicht ohne Weiteres. Wie die Relation Fälle-Personen bei den abgebildeten ICD-Ziffern ist, weiß ich nicht.
• Gehen wir einmal davon aus, dass man Fälle und Personen mehr oder weniger gleichsetzen darf. Im Jahr 2021 sind in Deutschland 1.023.687 Menschen gestorben. Die Fälle in der Grafik über vier Quartale aufsummiert sind 57.069 Fälle. Das wären, als Personen gezählt, 5,6 % der 1.023.687 Sterbefälle in Deutschland.
• Hintergrund des kleinen Anteils der Sterbefälle in den KV-Daten: Die Kassenärztlichen Vereinigungen erhalten nicht systematisch Sterbefallinformationen. Sie haben nur Daten von den niedergelassenen Ärzt/innen, die aus irgendwelchen Gründen bei den Sterbenden oder gerade Verstorbenen abrechnungsfähige Leistungen erbracht haben. Die dokumentierten ICD-Ziffern sind in der Regel vermutlich auch keine Ergebnisse der Leichenschau, weil die Leichenschau zur Feststellung der Todesursachen keine Kassenleistung ist. Leichen sind nicht krankenversichert. In dem Zusammenhang wäre es übrigens interessant, zu den Diagnosen auch die EBM-Ziffern über die abgerechneten Leistungen zu sehen, aber das ist eine andere Geschichte.
• Die gegenüber der Gesamtzahl der Verstorbenen kleine Zahl in den KBV-Daten wäre kein Problem, wenn man annehmen dürfte, dass die Daten aller Jahre auf methodisch gleicher Basis beruhen.
• Zahlensprünge wie in der Grafik deuten in der Regel jedoch auf methodische Brüche hin. Das ZI sagt auch dementsprechend, es seien nur Daten für Personen übermittelt worden, für die 2021 ärztliche Leistungen abgerechnet wurden. Ungeklärt bleibt dann aber, wie Sterbefälle der Jahre 2016-2020 in den Datensatz gekommen sind. Dass die Toten nach ihrem Ableben noch einmal zum Arzt gingen, ist nicht anzunehmen.
• Die inhaltliche Interpretation der AfD, den abrupten Anstieg der Fallzahlen 2021 mit der Coronaimpfung in Verbindung zu bringen, ist nicht plausibel, weil die Impfungen kontinuierlich zugenommen haben und nicht schlagartig auf einem Niveau waren, auf dem sie dann bis 2022 verharrt sind. Ebenso unplausibel ist allerdings die erste Entgegnung der KBV, hier würden sich Sterbefälle infolge der Coronafolgen zeigen. Auch hier passen der Verlauf der vermeintlichen Ursache und der Verlauf der vermeintlichen Folgen nicht zusammen.
• 57.096 Fälle sind im Vergleich mit allen Toten nicht viel, aber eine Verdreifachung gegenüber früher wäre trotzdem aufgefallen. Diese Verdreifachung müsste sich des Weiteren auch in der Todesursachenstatistik bei den in der Grafik genannten Diagnosen zeigen. Die Todesursachenstatistik 2021 soll noch vor Weihnachten vorliegen. Ich wage die Prognose: Die genannten ICD-Ziffern haben sich nicht verdreifacht.
Ergo bleibt man so schlau wie bisher: Was die Daten zeigen, ist unklar. Die von der AfD präsentierten Vermutungen kann man beiseitelegen, aber die Erklärungen von KBV und ZI sind auch nicht befriedigend.
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Disclaimer: Dieser Beitrag kritisiert den Umgang der AfD mit den Daten der KBV und den Umgang der KBV mit ihren Daten. Hier wird weder behauptet, dass die Coronaimpfung in seltenen Fällen nicht auch schwerwiegende Folgen einschließlich von Sterbefällen haben kann, noch dass die Datenlage zu den Nebenwirkungen besonders gut ist.
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Nachtrag 16.12.2022: Heute hat das Statistische Bundesamt die Todesursachenstatistik 2021 veröffentlicht. Wie vermutet, sind die von Herrn Lausen gewählten ICD-Ziffern unauffällig.
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Nachtrag 20.12.2022: Zum Verhältnis der Sterbefallzahlen in den KV-Daten und in der Todesursachenstatistik sei noch darauf hingewiesen, dass die meisten Todesursachen in den KV-Daten nicht als solche identifizierbar sind, z.B. der akute Herzinfarkt, weil hier nicht im Code steht, ob der Patient verstorben ist oder wieder gesund wurde. Vergleicht man nur die ausgewählten ICD-Codes, so sind 2021 deutlich mehr Fälle in den KV-Daten (57.069) als Verstorbene in der Todesursachenstatistik gezählt wurden (34.909).
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