Die Frage in der Überschrift ist natürlich rhetorisch – und, siehe unten, entlehnt. Ja, eine Aufarbeitung der Pandemie ist nötig, von den infektionsepidemiologischen bis hin zu den juristischen und sozialen Aspekten. Vielfach geschieht das auch, “Lessons-learned-Papiere” zur Pandemie gibt es seit langem, ebenso wie Evaluationsstudien zu den Infektionsschutzmaßnahmen. Diese Aktivitäten einer “wirklichen” Aufarbeitung werden auch weitergehen, es gibt noch viel zu tun.

Mit dem aktuellen Auslaufen der letzten Corona-Maßnahmen gehen jetzt auch vermehrt Statements einher, in denen man eine Art Coping-Bedürfnis angesichts der gesellschaftlichen Erschütterungen infolge der Pandemie sehen kann, ein Bedürfnis, das, was da im Verhältnis zwischen Virus und gesellschaftlicher Reaktion in tausenden einzelner Ereignisse stattgefunden hat, oft die Menschen samt ihrem Nachdenken überwältigend, in einem Gesamtbild zu ordnen und zu verarbeiten – jenseits der von den Querdenkern gezeichneten verschwörungstheoretischen Bilder eines „Great Reset“ oder einer gezielten weltweiten Machtergreifung finsterer Eliten.

Im Hessischen Ärzteblatt ist gerade unter dem Titel “Covid-19-Pandemie – wirkliche Aufarbeitung tut not” ein solcher Rückblick von Ursel Heudorf erschienen, irgendwo zwischen fachlichen Anmerkungen, der Klage über Einseitigkeiten im politischen, medialen und gesellschaftlichen Diskurs und vielleicht auch der individuellen Verarbeitung des Geschehens durch die Autorin zu verorten.

Das Zeichnen von großen Linien läuft natürlich Gefahr, die feinen Ziselierungen der Sache zu übergehen, Dinge, die nicht ins Bild passen, etwa die durchaus angesprochenen, von Anfang an vernehmbaren kritischen Stimmen oder, noch mehr vom Vergessen bedroht, differenzierte Positionierungen seitens der Politik wie z.B. den GMK-Beschluss TOP 6.1 vom 16.6.2021, zu sehr in den Hintergrund zu rücken und so den zu Recht beklagten Einseitigkeiten mit eigenen Einseitigkeiten zu begegnen.

Als Basis für Preparedness-Strategien mögen solche Bilder daher nicht geeignet sein, aber sie sind wohl zur diskursiven Bewältigung der Erfahrungen während der Pandemie notwendig, als Teil einer nachholenden gesellschaftlichen Verständigung, die vielleicht erst mit einigem Abstand zu den akuten Ereignissen möglich wird. Die „wirkliche“ Aufarbeitung wäre dann eine, die unterschiedliche Positionen unter diskussionsfähigen Gesprächspartnern in einen „wirklichen“ Diskurs bringt, statt Schwarz-Weiß-Bilder gegeneinander zu stellen.

Kommentare (11)

  1. #1 hto
    Holographische Konfusion
    7. April 2023

    Antwort: Wenn der “Diskurs” nicht nur zur weiteren Manifestierung des wettbewerbsbedingten Stumpf-, Blöd- und Wahnsinns bestimmt wird, JA – Aber das ist “natürlich” nur …!? 😉

  2. #2 2xhinschauen
    7. April 2023

    Seitdem die Kirchen das Wort “Aufarbeitung” zur anhaltenden und systematischen Veharmlosung ihrer Verbrechen und zur Strafvereitelung benutzen, mag ich es nicht mehr hören. Bzw. stelle es unter entsprechenden Generalverdacht. Ähnliches konnte man ja auch bei der einen oder anderen “Aufarbeitung unserer Nazivergangenheit” etc. beobachten.

    “Aufklärung” (im kriminalistischen Sinne) oder wenigstens “Erforschung” wären mir lieber. The world according to me… *seufz

  3. #3 BPR
    7. April 2023

    Danke für den lesenswerten Beitrag von Frau Heudorf. Ein Problem solcher Nachlesen ist: es fehlen belastbare Angaben über den kontrafaktische Verlauf der Epidemie. MIT Lockdown, Schulschließungen etc. haben wir kumulativ mehr als 170.000 Coronatote, (laut DIVI) rund 253.000 abgeschlossene Intensivfälle mit C (wegen C vielleicht halb so viele) und (gestern) noch 74 C-Neuaufnahmen auf Intensivstationen. Wie viele wären es OHNE Lockdown, Schulschließungen etc. wohl gewesen? Und wie würden wir auf tägliche Zugunglücke dieser Größenordnung reagieren? Erst vor einem quantifizierbaren Hintergrund lässt sich über die Verhältnismäßigkeit der Kontrollstrategie oder einzelner Maßnahmen “wirklich” diskutieren. Für die Hochrechnung eines kontrafaktischen Verlaufs braucht man gute und vergleichende epidemiologische Daten und (horribile dictu) Modellierer.

  4. #4 Beobachter
    7. April 2023

    @ 2xhinschauen:

    ” … “Aufklärung” (im kriminalistischen Sinne) oder wenigstens “Erforschung” wären mir lieber. … ”

    Mir nicht.
    Denn:
    Kriminalistisch “aufgeklärt” werden Verbrechen/justiziable Vergehen, und “erforschen” muss man etwas noch (völlig) Unbekanntes.
    Beides trifft auf die Covid-19-Pandemie doch wohl nicht zu. Der Umgang mit der Pandemie in DE war/ist weder ein Verbrechen noch etwas völlig Unbekanntes (nach über 3 Jahren).

    “Aufarbeitung” ist m. E. das richtige und passende Wort, denn es ist ja auch vieles schiefgelaufen.

    Alternativ: Wie wär`s mit z. B. “Nachbereitung” oder “Analyse” ?
    Um den Corona-Langzeitfolgen (medizinisch, sozial, …) auf der Spur zu bleiben und sie in den Griff zu bekommen, zu beheben – und um dazuzulernen und für die nächste Pandemie besser vorbereitet zu sein?

  5. #5 Joseph Kuhn
    13. April 2023

    Lehren aus der Pandemie und ihre Leerstellen

    Wie gesagt, an lessons-learned-Statements ist gerade kein Mangel. Lars Fischer hat bei spektrum auch ein paar eingesammelt: https://www.spektrum.de/news/corona-die-lehren-aus-der-pandemie/2121132

    Alles gute Punkte. Aber interessant ist, dass allen sechs Statements ein recht technokratischer und infektionsepidemiologischer Blick gemeinsam ist. Ob es an den Fragen lag? Oder ob auch Public Health-Fachleute sich noch schwer damit tun, darauf zu schauen, was die Pandemie an Problemen für das soziale Zusammenleben, den Umgang mit Grundrechten, die Wirtschaft usw. mit sich gebracht hat, oder welche positiven Aspekte es auch gab?

  6. #6 Beobachter
    14. April 2023

    An “technokratischen Statements” auf dem Papier herrscht kein Mangel – aber an praktischer, kompetenter Hilfe für z. B. Long Covid-Betroffene sehr wohl:

    https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/kritik-geplante-ankerzentren-long-covid-patienten-100.html

    “NACH RUNDEM TISCH ZU LONG COVID

    Long Covid: Warnung vor zu hohen Erwartungen an Ankerzentren
    … ”

    ” … Der Verband der Ersatzkassen teilte dem SWR mit, es sei unklar, woher die Ärzte für die Ankerzentren kommen und welche Qualifikation sie mitbringen sollen. Unklar sei auch, wie die Long-Covid-Zentren finanziert werden können. Das Gesundheitsministerium hat angekündigt, pro Anlaufstelle 50.000 Euro zur Verfügung zu stellen.

    Die Ärztekammer erklärte auf SWR-Anfrage, das reiche bei weitem nicht aus. Ebenfalls unklar ist die Bezahlung der Ärzte. Die Kassenärztliche Vereinigung teilte mit, dass man für die Behandlung von Long-Covid-Patienten in zentralen Anlaufstellen bundesweit einheitliche Vergütungsregeln brauche. Ebenso benötige man bundesweit einheitliche Vorgaben für eine Therapie der Betroffenen.
    … ”

    Und das ist “nur” die Lage in RLP.
    Wie ist sie dann erst bundesweit?!
    Was machen die vielen Betroffenen bis dahin – bis man sich irgendwann mal auf eine (einheitliche) Regelung, auf deren praktische Umsetzung und auf die Finanzierung geeinigt hat?!

  7. #7 Joseph Kuhn
    20. April 2023

    Noch eine Forderung zur Aufarbeitung

    Im Ärzteblatt wird heute auf eine weitere Forderung zur Aufarbeitung aufmerksam gemacht: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/142522/Wissenschaftler-rufen-zur-Aufarbeitung-der-Pandemie-auf-Kommission-gefordert

    Der Aufruf selbst: https://pandemieaufarbeitung.net/

    Leider sind unter den “weiteren Unterzeichnern” ein paar ausgewiesene Schwurbelköpfe und Querdenker, was den Aufruf mit einem unguten “Gschmäckle” versieht.

    Nachtrag: Vermutlich würde eine alles umfassende Abschlusskommission thematisch ohnehin überfordert sein, man wird die Pandemie eher themenspezifisch und in dementsprechend unterschiedlichen Formaten aufarbeiten müssen.

  8. #8 Beobachter
    20. April 2023

    Lesenswerter Blog-Beitrag von Stefan Sell:

    https://aktuelle-sozialpolitik.de/2023/04/15/long-covid-und-die-ausfallzeiten/

    ” … Da war und ist doch noch was? Long Covid bzw. das Post-Covid-Syndrom. Einerseits nicht so viele Fälle, andererseits lange Ausfallzeiten
    … “

  9. #9 zimtspinne
    20. April 2023

    Long bzw Post-Covid-19-Syndrom wird übrigens mittlerweile ‘nebenbei’ noch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet bzw der Blick dorthin gelenkt:

    Was ist tatsächlich gesicherte Diagnose (in Form eines Codes, des sogenannten ICD-Diagnoseschlüssels) und was ist… ja, wie nenne ich das am besten, ohne Empörungsstürme des Beobachters zu riskieren – “Selbstdiagnose”?

    Wird offenbar nur in spezialisierten Kreisen Gegenstand einer Debatte, denn ich fand auf die Schnelle nicht mal ein paar links dazu.

    Auf Psiram hatten wird das jedenfalls und dort findet sich auch die Wortmeldung eines ah.. Facharztes für Psychiatrie.

    Nein, ich leugne weder Covid-19 noch P/LCS noch allerlei weitere Langzeitfolgen (in unterschiedlichen Disziplinen/Lebensbereichen) – es geht eher darum, dass hier keine Aufweichung stattfindet und tatsächlich an diesen Folgen leidende Patienten nicht mehr ernst genommen werden, wegen infaltionären Gebrauchs dieses Krankheitsbildes.
    Auch in meinem Umfeld hörte ich das wahnsinnig oft, nachgefragt nach Diagnoseverfahren (interessiert mich tatsächlich), kam dann in den meisten Fällen, man sei deswegen noch bei keinem Arzt gewesen. Man wisse am besten selbst, was man habe und könne das beurteilen. Also Selbstdiagnose.

  10. #10 Beobachter
    20. April 2023

    @ zimtspinne, # 9:

    Bisher lässt man die tatsächlich oder vermeintlich betroffenen Patienten offenbar ziemlich im Regen stehen – weil man sich in Diagnostik und Therapie bisher zu wenig auskennt.

    Und weil es dafür im Medizin-Betrieb auch zu wenig kompetente ärztliche Ansprechpartner gibt.
    Ich denke, dass man in den meisten Hausarztpraxen mit Long Covid-(Verdachts)Fällen völlig überfordert ist und gar nicht weiß, wohin man diese Patienten zur diagnostischen Abklärung schicken/überweisen soll.
    Und wenn man es vielleicht weiß, sind dort die Wartelisten ellenlang.
    Und was machen die kranken Betroffenen in der Zwischenzeit (Monate)?!

    https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Long-COVID/Inhalt-gesamt.html

    ” … Personen mit Long COVID berichten über sehr unterschiedliche körperliche und psychische Symptome. Diese können sowohl einzeln als auch in Kombination auftreten und von sehr unterschiedlicher Dauer sein. Bislang lässt sich daher kein einheitliches Krankheitsbild abgrenzen. Zudem sind die zugrunde liegenden Mechanismen noch nicht geklärt, was die Diagnostik und Behandlung gesundheitlicher Langzeitfolgen erschwert. Dementsprechend ist eine umfangreiche Erhebung belastbarer epidemiologischer Daten essenziell, um das Ausmaß der Problematik abzubilden und notwendige Anpassungen für eine adäquate Versorgung von Personen mit Long COVID zu gewährleisten.
    … ”

    Man kann nun als unkritischer Impffanatiker und Pharmalobbyist natürlich auch sagen, dass fast alle Betroffenen nicht ernst zu nehmende “Selbstdiagnostiker” und “Schwurbler/Querdenker” sind –
    genauso wie solche Leute auch eine Aufarbeitung der Covid 19-Pandemie für prinzipiell unnötig halten und Aufrufe dazu diskreditieren, nur weil ein paar “Schwurbler/Querdenker” dort mitunterschrieben haben.

    Das wird aber weder der bestehenden Situation noch den Patienten gerecht.

    (Anm.:
    Psiram halte ich bzgl. dieser Long Covid-Problematik für keine gute und seriöse Quelle und auch für kein gutes Diskussionsforum.)

  11. #11 Beobachter
    23. April 2023

    Lesenswerter Artikel in den “Blättern”:

    https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/maerz/drei-jahre-corona-die-illusion-der-normalitaet

    “Drei Jahre Corona: Die Illusion der Normalität
    … “