Josef Stralau war von 1957 bis 1961 Leiter der Abteilung Gesundheit im Bundesinnenministerium und nach Gründung des Bundesgesundheitsministeriums 1961 dort bis 1971 Leiter der gesundheitspolitisch maßgeblichen Abteilung I. 1974 hat er zusammen mit Prof. Dr. med. Dr. phil. Hans Harmsen die Johann-Peter-Frank-Medaille des BVÖGD erhalten. Die Medaille wird für Verdienste um das Öffentliche Gesundheitswesen in Deutschland verliehen.

Zu der Zeit, als Josef Stralau die Johann-Peter-Frank-Medaille erhielt, galt er als Persönlichkeit, die sich um die öffentliche Gesundheit in Deutschland verdient gemacht hat. Dies mögen zwei andere Ehrungen veranschaulichen: Stralau wurde 1969 vom damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Hans Filbinger (dem „furchtbaren Juristen“), zum Professor ernannt. Bei der Ernennung wurden seine Verdienste auf dem Gebiet der Sozialhygiene und der öffentlichen Gesundheit hervorgehoben (Deutsches Ärzteblatt 43; 1969). 1973 hat Stralau das Bundesverdienstkreuz erhalten.

Inzwischen hat die medizinhistorische Forschung belegt, dass Josef Stralau in seiner Zeit am Gesundheitsamt Oberhausen aktiv und passiv an den Medizinverbrechen im Nationalsozialismus beteiligt war. Dies gilt sowohl für die Veranlassung von Zwangssterilisationen als auch – hier vermutlich nur in passiver Beteiligung – für Euthanasiemorde. 1989 waren Morde an Kindern aus dem Oberhausener St Vincenzhaus unter der Aufsicht des Gesundheitsamts Oberhausen auch Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Dortmund.

Einzelheiten zu Stralaus Beteiligung an den nationalsozialistischen Medizinverbrechen und eine Bewertung seiner Einstellung zur nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik sind erstmals umfangreicher in der Publikation des vom Bundesgesundheitsministerium aufgrund Beschlusses des Deutschen Bundestags geförderten Projekts über die frühen Jahre des Bundesgesundheitsministeriums dokumentiert (Kreller L, Kuschel F: Vom ‚Volkskörper‘ zum Individuum. Göttingen 2022, hier vor allem S. 176 ff).

Vor diesem Hintergrund hat der erweiterte Bundesvorstand des BVÖGD folgenden Beschluss gefasst:

„Aufgrund neuerer sachkundiger Erkenntnisse muss es als erwiesen gelten, dass Prof. Dr. med. Josef Stralau in NS-Zeiten maßgeblich an rassenideologischen Verfahren und Entscheidungen beteiligt war und sich auch später nicht erkennbar davon distanziert hat.

Der erweiterte Bundesvorstand des BVÖGD hat mit Beschluss vom 13.04.2023 ausdrücklich festgestellt, dass diese vormalige Ehrung des inzwischen verstorbenen Prof. Dr. med. Josef Stralau unter heutigen Erkenntnissen und Maßstäben nicht erfolgt wäre. Zu Lebzeiten wäre Herrn Prof. Dr. med. Josef Stralau die Johann Peter Frank-Medaille, nach Bekanntwerden seiner Funktion im NS-Regime, aberkannt worden.

Der BVÖGD distanziert sich klar von den Gräueltaten des Naziregimes, die auch mit und durch den damaligen öffentlichen Gesundheitsdienst ausgeübt wurden.“

Der Beschluss fügt sich in die Bemühungen des Verbands um eine Aufarbeitung der Vergangenheit des ÖGD im Nationalsozialismus ein. Ende April wurde er der Delegiertenversammlung des BVÖGD mitgeteilt, das weitere Verfahren läuft noch.

Stralau ist kein Vorbild für Ärzte und Ärztinnen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in einem Berufsverband, der sich der grundgesetzlich geschützten Menschenwürde und der sozialmedizinischen Verantwortung für die Schwächsten der Gesellschaft verpflichtet sieht.

Auch den Eugeniker Hans Harmsen, Stralaus Mitpreisträger, würde man heute sicher nicht mehr auszeichnen. Anders als Stralau hat er allerdings Euthanasie und Krankenmord abgelehnt und sich nach dem Krieg kritisch mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt.

Die Robert Koch-Stiftung, die Stralau Anfang 2023 noch in der Liste ihrer Ehrenmitglieder geführt hatte, hat ebenfalls auf die neuen Erkenntnisse von Kreller & Kuschel reagiert – hier mit einem Streichen aus der Liste der Ehrenmitglieder. Ob es weitere noch aktive Ehrungen Stralaus gibt, ist mir nicht bekannt.

Mancher wird solche Dinge vielleicht als verspätete Symbolpolitik abtun, ich finde sie wichtig. Der ÖGD erfüllt bevölkerungsmedizinische Aufgaben und in diesem Aufgabenfeld gilt es immer, das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem Interesse und individuellen Rechten auszubalancieren. Auch in der Coronakrise wurde darüber beständig diskutiert, mit guten und weniger guten Argumenten, und die aktuellen Forderungen nach einer „wirklichen Aufarbeitung“ der Krise speisen sich nicht zuletzt aus der Erfahrung dieses Spannungsfeldes.

Die Achtung der Menschenwürde markiert bei Public Health nach den Erfahrungen mit den nationalsozialistischen Medizinverbrechen eine ultimative Grenzlinie. Das 2018 verabschiedete „Leitbild für einen modernen ÖGD“, das die Public Health-Orientierung des ÖGD stärken will, hat die ethische Verpflichtung des ÖGD daher bewusst angesprochen. Das darf nicht durch falsche „Vorbilder“ konterkariert werden.

Bei der Jahrestagung des BVÖGD Ende April wurde die Gründung einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft des ÖGD beschlossen. Ein Ethikkodex für Ärztinnen und Ärzte des ÖGD, in Konkretisierung des ÖGD-Leitbilds, der Helsinki-Deklaration und der ethischen Vorgaben der ärztlichen Berufsordnung, sollte auf der Aufgabeliste der neuen Fachgesellschaft nicht fehlen.

Kommentare (6)

  1. #1 Uwe Lenhardt
    Berlin
    10. Mai 2023

    Die organisierte Medizin hat sich mit der “Aufarbeitung” ihrer Rolle im NS leider besonders viel Zeit gelassen. Das gilt auch für die – mir etwas vetrautere – Arbeitsmedizin. Es ist keine zehn Jahre her, dass deren wissenschaftliche Fachgesellschaft vom lange Zeit verehrten “Nestor” der Disziplin, Ernst Wilhelm Baader, der sich mit den Nazis gemein gemacht hatte, endlich abgerückt ist. Als ich Anfang der 2000er Jahre an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Berlin anfing, hing dort noch eine ganze Weile ein – in seiner Bildsprache echt widerliches – Gemälde von Baader. Irgendwann konnte man nicht mehr umhin, das Mistding abzuhängen.

  2. #2 M. Hahn
    10. Mai 2023

    In dem Zusammenhang danke für die Literaturempfehlung zu Götz Aly “Volk ohne Mitte”. Das letzte Kapitel darin, über die Vertuschungs- und Beschönigungsversuche in der Medizin, mit erbärmlichen menschlichen Abgründen und teils bis in die 90-er Jahre, hat mir die Haare zu Berge stehen lassen.

  3. #3 Joseph Kuhn
    10. Mai 2023

    @ Uwe Lenhardt:

    Vielleicht im Zusammenhang mit den großen Namen der Arbeitsmedizin auch von Interesse: https://scienceblogs.de/gesundheits-check/2014/05/25/franz-xaver-koelsch/

    @ M.Hahn:

    Inzwischen gibt es zu dem Thema viel Literatur, und einiges doch auch speziell zur Rolle des ÖGD im Nationalsozialismus, z.B. von Johannes Donhauser oder Annemone Christians.

    Wenn Sie Ihre Haare noch mal aufstehen lassen wollen, blättern Sie mal Ernst Klees “Deutsche Medizin im Dritten Reich” durch. Allein die Masse der dort aufgelisteten Ärzte verschlägt einem den Atem.

  4. #4 Staphylococcus rex
    15. Mai 2023

    Wenn es um die Frage der Verantwortlichkeit für Handlungen während der NS-Zeit geht, ist für mich ein wichtiger Aspekt die Frage nach dem Geburtsjahr der betreffenden Person. Wenn die Daten korrekt sind, wurde Josef Stralau 1908 geboren, das bedeutet, er war 1933 bereits 25 Jahre alt. In dem Alter sind die moralischen Grundprinzipien längst gelegt.

    Im o.g. Artikel geht es um die aktive Teilnahme an Zwangssterilisation und um die Duldung von Euthanasiemorden. Wenn dies stimmt, ist er für seine Handlungen voll verantwortlich. Und es muss ergänzend gefragt werden, welches Gedankengut in der deutschen Ärzteschaft bereits vor der Machtergreifung der Nazis 1933 akzeptabel war.

    In dem Fall würde ich die fehlende Aufarbeitung nach der NS-Zeit dahingehend werten, dass sie genau aus dem Grund ausgeblieben ist, weil nicht nur “fremdes” Gedankengut nach 1933, sondern auch “eigenes” Gedankengut vor 1933 aufzuarbeiten gewesen wäre.

    Auch im persönlichen Umfeld ist es auffällig, dass die NS-Zeit nie thematisiert wurde. Über die Widrigkeiten der Nachkriegszeit wurde viel erzählt, aber so gut wie nichts darüber, wie es war, wenn jüdische Mitmenschen aus dem Umfeld verschwanden.

  5. #5 Joseph Kuhn
    8. Juni 2023

    Stralau, Harmsen und …

    Carl Ludwig Paul Trüb, JPF-Preisträger 1973: “In der Unterabteilung Volksgesundheit und Volkspflege war Trüb im Ressort Erb- und Rassenpflege vermutlich für die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zuständig, sowie eventuell im Ressort Kranken- und Irrenanstalten für die Transporte im Rahmen der Aktion T4 zur Tötungsanstalt Hartheim.”

    https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Ludwig_Paul_Tr%C3%BCb

    Im Entnazifizierungsverfahren wurde er als “entlastet” eingestuft, aber dem “vermutlich” sollte man einmal nachgehen.

    Biografische Notizen gibt es z.B. in Spring (2009) “Zwischen Krieg und Euthanasie” oder in Pross (1988/2021) “Wiedergutmachung”.

  6. #6 Joseph Kuhn
    18. Juli 2023

    Update:

    Der BVÖGD hat nun in der Liste der Preisträger dem Namen Stralau den oben zitierten Beschluss hinzugefügt: https://www.bvoegd.de/jpf-medaille/

    Gut so.