Gestern ist das Grundgesetz 75 Jahre alt geworden. Es hat der Bundesrepublik eine Grundlage für eine demokratische Entwicklung gegeben, die nach dem Nationalsozialismus, dem Krieg und all den innerlichen Undemokraten, die sich nach 1945 neu orientieren mussten, nicht selbstverständlich war. Natürlich haben dazu die äußeren Umstände, von der anfänglichen Aufsicht durch die Alliierten über die Westintegration bis zum Wirtschaftswunder, viel beigetragen, trotzdem ist das ein Anlass zum Feiern.
Drei Tage „Demokratiefest“ – gerne. Auch wenn es im Wesentlichen nur in Berlin stattfindet, als ob Rostock, Saarbrücken oder der Landkreis Cham nicht auch Anlass zum Feiern hätten, wird es dazu beitragen, den Besucher:innen das Thema Demokratie näher zu bringen. Vielleicht sogar auch mit Events wie „Insektenverkostung – Ein kulinarisches Erlebnis am BMZ-Stand ist die Verkostung von Insekten: Sie können als proteinreiches Superfood einen wichtigen Beitrag leisten, den Hunger in der Welt zu mindern.“ Der Geist des Grundgesetzes würde hier allerdings in eine andere Richtung weisen und daran erinnern, dass für die Bekämpfung des Hungers in der Welt mehr als ernährungstechnische Vorschläge nötig sind, z.B. gerechte Welthandelsbeziehungen und ein globales Verständnis davon, was Art. 1 GG vorgibt. Wenn im Kongo Kinder Kobalt für unsere Akkus abbauen, oder Menschen in Bangladesh unsere verschrotteten Schiffe ohne jede Schutzausrüstung abwracken und ihre Gesundheit ruinieren, wenn sie das machen müssen, weil sie sonst verhungern, ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde weit weg, eine Menschenwürde, die doch für alle gilt und die Menschheit weltweit verbinden sollte.
Und wie greifbar ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde hierzulande, wenn man pflegebedürftig geworden ist? Oder im Niedriglohnsektor arbeiten muss? Wie gut schützt unser Staat die Menschenwürde z.B. von Menschen mit schwarzer Hautfarbe in manchen Regionen unseres Die-Menschenwürde-ist-unantastbar-Landes? Warum haben wir in der Medizin ein Zweiklassen-System, bei dem gesetzlich Versicherte Monate auf einen Arzttermin warten müssen? Sind vor dem Gesetz nicht alle gleich (Art. 3 GG)? Oder gilt das nicht im Medizinrecht? Und wie gut haben wir Art. 14 (2) des Grundgesetzes in die Lebenswirklichkeit umgesetzt? „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ – so kann man dort lesen. In unserer Gesellschaft ist das erkennbar oft nicht der Fall.
Solche Versäumnisse, das Grundgesetz aus dem Papier ins Leben zu übersetzen, hat der Bundespräsident in seiner Ansprache zum Geburtstag des Grundgesetzes nicht angesprochen, bestenfalls ganz abstrakt ganz am Rande gestreift und gleich wieder positiv verpackt: „Nicht alles, aber so vieles ist uns seitdem gemeinsam gelungen.“ Wer wollte dem widersprechen? Und dennoch, wenn man wie der Bundespräsident die aktuelle Gefährdung unserer Demokratie durch Gewalt, durch Kriege, durch den Klimawandel anspricht, dann sollte man auch die hausgemachten Versäumnisse nicht ausblenden. Wenn sich heute viele Menschen, wie der Bundespräsident richtigerweise feststellt, enttäuscht von der Demokratie abwenden, obwohl mit ihr so viel „gemeinsam gelungen“ ist – und auch in sozialen Auseinandersetzungen, Streiks, Protesten und zivilem Ungehorsam, so hat das auch damit zu tun, dass es mit der sozialen Verfassung Deutschlands derzeit nicht zum Besten steht. Pflegenotstand, Wohnungsmangel, schlecht bezahlte Arbeit: auch das gefährdet die Demokratie. Auch das macht manche gleichgültig gegenüber Putins Angriffskrieg.
Der Bundespräsident sieht es auch, wenn er sagt: „Denn in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft, in der nur noch ‚die da unten‘ von ‚denen da oben‘ reden, schwindet das Vertrauen in demokratische Institutionen.“ Vielleicht darf man dann „denen da unten“ nicht so viel berechtigten Anlass geben, über „die da oben“ zu klagen, oder stellvertretend, über die noch weiter unten, über Bürgergeldempfänger und Flüchtlinge?
Insofern wäre es gut, wenn wir 75 Jahre Grundgesetz nicht nur feiern, den Geist des Grundgesetzes nicht nur rituell beschwören, sondern auch wieder mehr im Alltag lebendig werden lassen. Da müsste der Bundespräsident dann weniger an die Bürger:innen appellieren und mehr an die politischen und wirtschaftlichen Eliten.
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