Vor kurzem hatte ich hier die reichlich einseitige Schwerpunktsetzung der AfD-Bundestagsfraktion vorgestellt. Heute ist in der Süddeutschen eine ganzseitige Anzeige von Friedrich Merz, in der er erklärt, was er als Kanzler machen will.

Die Überschrift „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“ ist in Handschrift, ganz persönlich. Medienberater wissen, dass so was gut ankommt, genau wie eine Homestory. Merz wirbt schließlich für sich. Er stellt auch gleich ein „wir“ her:

Uns „alle beschleicht zunehmend das ungute Gefühl, dass die Fundamente, auf denen wir stehen, zu bröckeln beginnen. Unsere Wirtschaft lahmt, die öffentliche Infrastruktur ist in vielen Teilen nicht mehr zeitgemäß, es gibt immer größere Ungerechtigkeiten im Sozialsystem, die innere und äußere Sicherheit ist bedroht.“

Ein breites Spektrum an Defiziten, für fast jeden was dabei. Die CDU will ja Volkspartei sein. Der selbsterklärte Mittelschichtsmann Merz bedauert sogar „Ungerechtigkeiten im Sozialsystem“. Ungerechtigkeiten bei Einkommen und Vermögen beklagt er nicht, den eklatanten Mangel an bezahlbaren Wohnungen auch nicht, Pflegenotstand: Fehlanzeige.

Dafür kommt im nächsten Absatz:

„Wir wollen für eine begründete Zuversicht arbeiten und stellen uns den Populisten und Extremisten entgegen, die unser Land schlecht reden.“

Hoffentlich steht er sich da mal nicht selbst im Weg, auch wenn er natürlich kein Extremist ist, höchstens mal extrem floskelhaft.

Es folgt der im Handwerkskasten der politischen Rhetorik unverzichtbare Appell an die Kraft des Landes und seiner Leute:

„Denn ich glaube zutiefst an Deutschlands Potentiale und an die Kraft, die in uns steckt. (…) Wir sind es unseren Kindern und Enkelkindern einfach schuldig.“

Den alten Menschen in den Heimen und den Familien, die eine Wohnung suchen, sind „wir“ es eigentlich jetzt schon schuldig. Aber gut, „wir“ ist eh keiner, das sind immer die anderen.

Grundlage für unseren Wohlstand, so Merz, seien die Tugenden „Leistungsbereitschaft, Fleiß, Anstand, Gerechtigkeit und Gemeinwohlorientierung.“ Möge er das vorleben. Dann sagt er zur Rolle des Staates und dessen „eigentlichen Aufgaben“:

„Der Staat muss den richtigen Rahmen setzen und seine eigentlichen Aufgaben erfüllen. Dazu gehören eine effiziente und schlanke Verwaltung, innere und äußere Sicherheit, kontrollierte und geregelte Migration, eine funktionierende Infrastruktur in Stadt und Land, ein faires Steuersystem, gerechte Sozialsysteme und eine wirkungsvolle Klimapolitik“.

Wieder eine angenehm klingende, breite Umarmung verschiedener Gruppen der Bevölkerung. Nur: Der schlanke Staat hat uns den Mangel an Lehrern, Polizisten und Steuerfahndern beschert und in der Coronakrise die personell ausgezehrten Gesundheitsämter präsentiert, aber weniger Beamte kommt halt immer gut an. Die kaputte Infrastruktur ist ein Erbe der CDU-Regierung unter Merkel, daran sind ausnahmsweise die Grünen mal nicht schuld.

Ein “faires Steuersystem” wäre sicher gut, aber irgendwie habe ich das Gefühl, Merz meint damit keine Vermögens- oder Erbschaftssteuer oder höhere Steuern für Spitzenverdiener. Sätze als interpretationsoffene Projektionsfläche anzulegen, gehört auch zur rhetorischen Handwerkskunst, möge jeder sehen, was er sehen will. Und dass ausgerechnet Merz mit seiner CDU für eine „wirkungsvolle Klimapolitik“ wirbt, ist entweder politkommunikative Dreistigkeit oder ein subtiles Signal hinter Söders Rücken an die Grünen als potentiellen Koalitionspartner nach dem Ende der Ampel.

Es kommt sogar noch diverser:

„Jeder Mensch kann einen Beitrag dazu leisten (…). Und wer seinen Beitrag leistet, der steht in unserer Mitte, verdient Anerkennung und Respekt. Egal woher er kommt, woran er glaubt oder wen er liebt.“

Hauptsache er ist kein ministrierender fußballspielender Senegalese oder einer von denen, die ihm den Zahnarzttermin wegschnappen. Die „kleinen Paschas“ gehören ohnehin noch nicht dazu, die arbeiten ja noch nicht.

Eine Rückversicherungsklausel hat Merz auch noch im Gepäck:

“Als Kanzlerkandidat der Union werde ich nichts versprechen, was ich nicht halten kann.“

Rituelle Beschwörungen der Bescheidenheit sind im Moment, wo man nicht so recht weiter weiß, bei allen Parteien in Mode. Zu versprechen, den Bestand an Sozialwohnungen wieder auf das Niveau der 1990er Jahre zu bringen, oder für die Bahn so viel auszugeben wie die Schweiz, oder für Bildung so viel wie skandinavischen Länder, so was kann schließlich nur schiefgehen. Das wäre ja eine andere Politik als bisher.

Die Anzeige endet mit Appellen. „Ein Deutschland, in dem sich Leistung wieder lohnt“, zum Beispiel, der Evergreen all derer, die gerne Sozialleistungen kürzen, oder feiner formuliert, „Ungerechtigkeiten im Sozialsystem“ abbauen wollen. Und der Schlusssatz lautet: „Ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können.“ Ein Deutschland mit Weihnachtsbaum und Zimtsternen. Es grüßt „Ihr Friedrich Merz“, wieder handschriftlich, wegen dem Persönlichen, Sie wissen schon.

Jetzt bin ich gespannt, womit Olaf Scholz kontert. Der „Respekt“, mit dem er im letzten Wahlkampf von allen Plakaten auf uns herabschaute, passt nicht mehr. Aber mit einer Permutation der Merzschen Phrasen ließe sich ohne Mühe auch eine Ansprache des Kanzlers an die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger basteln. Phrasen sind das Schmiermittel der Gesellschaft. Manchmal braucht es allerdings mehr.

Kommentare (13)

  1. #1 hto
    wo Konfusion konsolidiert ...
    24. September 2024

    “Phrasenkandidat” – Der Friedrich ist die Spitze eurer gebildeten Suppenkaspermentalität auf der Suche nach einem Weg zu Kapitalismus-light, was die “soziale” Marktwirtschaft schon nicht umsetzen konnte.
    🙂

    • #2 Joseph Kuhn
      24. September 2024

      @ hto:

      Der Suppenkaspar war ein notorischer Neinsager, der an seinem notorischen Neinsagen zugrunde ging. Das erinnert mich eher an Sie als an Friedrich Merz.

  2. #3 RPGNo1
    24. September 2024

    Was man mit Sicherheit sagen kann: Friedrich Merz hat mit Sicherheit nicht ChatGPT, Perplexity AI oder eine andere KI für seinen “aufmunternden” Appell verwendet. Deren Texte klingen wesentlich intelligenter.

    Wahrscheinlich hat Merz den Text auf einer alten Festplatte aus dem Jahr 1998 wieder entdeckt, mit der er sich damals um den Vorsitzend der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beworben hat. 😀

  3. #4 RPGNo1
    24. September 2024

    Korrektur: Wahrscheinlich hat Merz den Text, mit dem er sich 1998 um den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beworben hat, auf einer alten Festplatte wieder entdeckt und recycelt. 😉

  4. #5 naja
    24. September 2024

    „Wir wollen für eine begründete Zuversicht arbeiten und stellen uns den Populisten und Extremisten entgegen, die unser Land schlecht reden.“

    Indem wir deren Narrativ kopieren.

  5. #6 hto
    wo das originäre Publikum den Applaus für ...
    24. September 2024

    In einer Welt von Phrasen, wo die Götter der Phrasen die Sterne der Lach- und Sachgeschichten für TV und Arenen sind, ist es weder Wunder noch Phänomen, wenn die Kandidaten für das oberste Amt der Phrasendrescherei nicht nur daherkommen wie ein Geschenk des Himmels!? 😉

    • #7 Joseph Kuhn
      24. September 2024

      @ hto:

      “das oberste Amt der Phrasendrescherei”

      Keine Angst, den Titel macht Ihnen keiner streitig.

  6. #8 rolak
    24. September 2024

    Wir sind es unseren Kindern und Enkelkindern einfach schuldig.

    Schuldig blieb er, was wir schuldig sein sollen, worauf sich das ‘es’ bezieht. Doch wohl nicht auf seinen Glauben an was auch immer, das einzige in dem Absatz erwähnte Mitgebbare?

  7. #9 Spritkopf
    24. September 2024

    @hto

    die Kandidaten für das oberste Amt der Phrasendrescherei

    Dass die ungewollte Ironie in Ihrer Formulierung ungefähr im Erde-Sonne-Abstand an Ihnen vorbeirauscht, wundert mich kein bißchen.

  8. #10 RGS
    24. September 2024

    AI-Chat von Ecosia:
    Eingabe: mache einen Vorschlag für eine Dankesrede für die nominierung als Kanzlerkandidat der CDU für friedrich merz.

    Antwort von AI-Chat:
    Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der CDU,

    ich stehe heute hier mit großer Dankbarkeit und Demut, nachdem ich für die Nominierung als Kanzlerkandidat unserer Partei ausgewählt wurde. Diese Auszeichnung ist nicht nur eine persönliche Ehre, sondern auch ein Zeichen des Vertrauens, das Sie in mich setzen. Dafür möchte ich Ihnen allen von Herzen danken.

    In den kommenden Wochen und Monaten werden wir gemeinsam die Herausforderungen angehen, vor denen unser Land steht. Wir müssen die Stärken der CDU nutzen, um Lösungen zu entwickeln, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Es ist an der Zeit, die Weichen für eine zukunftsfähige Politik zu stellen, die den sozialen Zusammenhalt fördert und wirtschaftliche Stabilität gewährleistet.

    Ich bin überzeugt, dass wir als Partei die Kraft haben, Veränderungen herbeizuführen und die Zukunft Deutschlands positiv zu gestalten. Lassen Sie uns gemeinsam für die Werte eintreten, die uns verbinden: Freiheit, Verantwortung und Solidarität.

    Ich freue mich auf den Austausch mit Ihnen allen und darauf, gemeinsam für unsere Visionen zu kämpfen. Lassen Sie uns die Herausforderungen annehmen und die Chancen ergreifen, die vor uns liegen.

    Vielen Dank für Ihr Vertrauen.

  9. #11 Richard
    25. September 2024

    #10:
    perfekt, ist Friedrich Merz eigentlich echt oder auch KI? 🙂

  10. #12 hto
    wo die Suppenkaspermentalität die Zeichen der Zeit nicht ...
    25. September 2024

    Letztendlich muss man über Merz sagen das er skrupellos und mutig ist, denn die anderen die es machen könnten und sicher bessere Chancen hätten gewählt zu werden, wissen offenbar was die Stunde geschlagen hat und man sich nur noch das Fell verbrennen kann, wenn man nicht konsequent und kompromisslos den einen noch verbleibenden Weg des Kreislaufes bereit ist zu gehen – Wettbewerb, es kann nur einen geben!?

  11. #13 Joseph Kuhn
    30. September 2024

    Der nächste Phrasenkandidat:

    “Das Gesundheitssystem priorisiert Krankheit statt Gesundheit.”

    “Andere Länder machen das besser.”

    “Statt primär Symptome zu behandeln, müssen wir das Gesundheitssystem grundlegend therapieren.”

    “Überfällige, pragmatische und visionäre Änderungen sind in bestimmten Bereichen dringend notwendig.”

    “Wir müssen Partikularinteressen überwinden und eine pragmatische Neuausrichtung anstreben.”

    “Es gibt keine einfachen Lösungen, aber Mut und konstruktive Zusammenarbeit sind unverzichtbar, um diese Herausforderungen zu bewältigen.”

    Und so geht es weiter. Mehr davon: https://hendrikstreeck.de/gesundheitspolitik

    Inhaber dieses wunderbaren Phrasenschatzes: Prof. Hendrik Streeck, bekannt aus Funk und Fernsehen, demnächst für die CDU im Bundestag und vielleicht …