In der SPIEGEL-Ausgabe 40/2024 gibt es einmal mehr eine Diskussion darüber, ob die Ukraine „Russland besiegen“ könne und was man denn damit konkret meine. Die Formel „Russland besiegen“ begleitet mit unterschiedlichen Vorstellungen dahinter eigentlich schon den ganzen Krieg.
Ich bin kein Militärexperte und kann über die realen militärischen Aussichten der Ukraine, in Abhängigkeit von dieser oder jener Unterstützung und in Abhängigkeit von dieser oder jener Reaktion Russlands nicht viel sagen.
Aber „Russland besiegen“ ist in der Tat eine auslegbare Formel. Nur für die wenigsten wird sie vermutlich bedeuten, dass Russland das gesamte Territorium der Ukraine umstandslos räumt oder gar kapituliert. Das wäre wohl nur um den Preis eines Weltkriegs zu erreichen. Häufiger hört man, es gehe darum, dass der Krieg an einen Punkt kommt, an dem Russland seine Maximalziele in der Ukraine aufgibt. Der Unterschied zu der Formel, „Ukraine darf den Krieg nicht verlieren“, wird dann einem der Psychologie und der Option wechselseitiger Gesichtswahrung. Und man könnte auch noch überlegen, ob „die Ukraine muss siegen“ das Gleiche bedeutet wie „Russland besiegen“, oder ob eine Selbstbehauptung der Ukraine mit Aussicht auf einen EU-Beitritt auch schon ein Sieg wäre, was auch immer das wiederum von „die Ukraine darf nicht verlieren“ unterscheiden würde.
Ist es im Nahostkonflikt ähnlich vieldeutig, wenn Israel die Hamas oder die Hisbollah „besiegen“ will? Umgekehrt: Haben Hamas oder die Hisbollah z.B. schon „gesiegt“, wenn Israel sie nicht auslöschen kann oder die Solidarität mit Israel aufgrund der vielen Toten im Gazastreifen bröckelt und das Massaker am 7. Oktober 2023 in der Konfliktbewertung in den Hintergrund tritt?
Steht die Formel vom „Siegen“ einem Waffenstillstand im Wege oder kann sie, in der etwas weniger totalen Form, im Gegenteil auch ein Weg zum Waffenstillstand sein, in der Ukraine wie in Nahost? Ist ein gewisses Maß an Uneindeutigkeit samt unterschiedlichen Verwendungen dieser Formel Teil der kommunikativen Auseinandersetzung, also gewollt? Und welche Varianten sind eher innenpolitisch adressiert, welche eher außenpolitisch? Wie lenkt Sprache hier die Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten, wie beeinflussen sich hier Sprache und Realität gegenseitig?
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