In der SPIEGEL-Ausgabe 40/2024 gibt es einmal mehr eine Diskussion darüber, ob die Ukraine „Russland besiegen“ könne und was man denn damit konkret meine. Die Formel „Russland besiegen“ begleitet mit unterschiedlichen Vorstellungen dahinter eigentlich schon den ganzen Krieg.

Ich bin kein Militärexperte und kann über die realen militärischen Aussichten der Ukraine, in Abhängigkeit von dieser oder jener Unterstützung und in Abhängigkeit von dieser oder jener Reaktion Russlands nicht viel sagen.

Aber „Russland besiegen“ ist in der Tat eine auslegbare Formel. Nur für die wenigsten wird sie vermutlich bedeuten, dass Russland das gesamte Territorium der Ukraine umstandslos räumt oder gar kapituliert. Das wäre wohl nur um den Preis eines Weltkriegs zu erreichen. Häufiger hört man, es gehe darum, dass der Krieg an einen Punkt kommt, an dem Russland seine Maximalziele in der Ukraine aufgibt. Der Unterschied zu der Formel, „Ukraine darf den Krieg nicht verlieren“, wird dann einem der Psychologie und der Option wechselseitiger Gesichtswahrung. Und man könnte auch noch überlegen, ob „die Ukraine muss siegen“ das Gleiche bedeutet wie „Russland besiegen“, oder ob eine Selbstbehauptung der Ukraine mit Aussicht auf einen EU-Beitritt auch schon ein Sieg wäre, was auch immer das wiederum von „die Ukraine darf nicht verlieren“ unterscheiden würde.

Ist es im Nahostkonflikt ähnlich vieldeutig, wenn Israel die Hamas oder die Hisbollah „besiegen“ will? Umgekehrt: Haben Hamas oder die Hisbollah z.B. schon „gesiegt“, wenn Israel sie nicht auslöschen kann oder die Solidarität mit Israel aufgrund der vielen Toten im Gazastreifen bröckelt und das Massaker am 7. Oktober 2023 in der Konfliktbewertung in den Hintergrund tritt?

Steht die Formel vom „Siegen“ einem Waffenstillstand im Wege oder kann sie, in der etwas weniger totalen Form, im Gegenteil auch ein Weg zum Waffenstillstand sein, in der Ukraine wie in Nahost? Ist ein gewisses Maß an Uneindeutigkeit samt unterschiedlichen Verwendungen dieser Formel Teil der kommunikativen Auseinandersetzung, also gewollt? Und welche Varianten sind eher innenpolitisch adressiert, welche eher außenpolitisch? Wie lenkt Sprache hier die Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten, wie beeinflussen sich hier Sprache und Realität gegenseitig?

Kommentare (24)

  1. #1 Ludger
    9. Oktober 2024

    Wie so oft hilft Wikipedia weiter (Zitate von https://de.wikipedia.org/wiki/Strategischer_Sieg )

    Als Strategischer Sieg wird in der Kriegswissenschaft bzw. Kriegskunst ein Sieg oder eine Summe von Einzelsiegen in Schlachten oder Gefechten oder eine Summe von Erfolgen bezeichnet, die zur Erreichung des zentralen Kriegsziels oder mehrerer zentraler Kriegsziele aufgrund einer einheitlichen Strategie führen.

    Die Kriegsziele sind für Angreifer und Verteidiger unterschiedlich.

    Für den Angreifer definiert also die Ermöglichung des Erreichens folgender typischer Kriegsziele (in tendenziell aufsteigender Feindseligkeit) einen strategischen Sieg:

    […]
    Die Eingliederung des ganzen angegriffenen politischen Gebildes in das Reich oder Kolonialreich des Eroberers (z. B. die Eroberungskriege der frühen Reiche im Zweistromland, Alexanders des Großen, der Römer, von König Zheng von Qin, von Dschingis Khan, der Osmanen, der Azteken und Inkas, des Spanischen Kolonialreichs, des Russischen Kaiserreichs und des Britischen Weltreichs, bisher das größte Reich).
    […]

    Das versucht der Verteidiger zu verhindern:

    Der (strategische) Verteidiger erzielt umgekehrt einen strategischen Sieg, wenn eine Verteidigungshandlung, also z. B. eine Abwehrschlacht oder die wirksame Unterbrechung der Versorgung des Angreifers, die Moral des Angreifers bricht, so dass er seine feindselige Absicht, also sein Kriegsziel, aufgibt oder wenn er die Möglichkeit zum weiteren Angriff verliert, insbesondere durch weitgehende Vernichtung der Truppen oder Verlust von deren Angriffsmoral.
    […]

    Beim Beispiel Ukraine schwanken die Kriegsziele des Angreifers.
    Die Kriegsziele der Verteidiger bleiben bisher konstant: Vertreiben der Angreifer vom völkerrechtlich anerkannten Gebiet der Ukraine.
    Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.

    • #2 Joseph Kuhn
      9. Oktober 2024

      @ Ludger:

      “Wie so oft hilft Wikipedia weiter”

      Mir hilft es in dem Fall nicht weiter, zumal ich weder die (wechselnden?) Kriegsziele Russlands noch die der Ukraine kenne und auch nicht weiß, wie eng die Verwendung des Begriffs “Sieg” mit dem (vollständigen?) Erreichen von (öffentlich erklärten?) Kriegszielen verbunden sein muss. Da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!

  2. #3 Ludger
    9. Oktober 2024

    Die Überschrift heißt:Was heißt „Russland besiegen“?
    Die Antwort heißt: Wenn die Ukraine die Russische Armee zwingen könnte, aus der Ukraine abzuziehen, wäre Russland besiegt.
    Wenn Russland langfristig und unangefochten über die Ukraine bestimmen könnte, wäre die Ukraine besiegt.

    • #4 Joseph Kuhn
      9. Oktober 2024

      @ Ludger:

      Ist das die einzige Antwort oder eine Antwort unter mehreren Antwortmöglichkeiten? Darum geht es in dem Beitrag.

  3. #5 Ludger
    9. Oktober 2024

    Auf die Frage:” Was heißt „Russland besiegen”? ” ist die Vertreibung der Russischen Armee aus der Ukraine m.E. die einzige Antwort. Das heißt aber nicht, dass es die wahrscheinlichste Lösung des Problems ist. Das ist wie bei einem Zivilprozess in Deutschland. Ein “Sieg” vor Gericht ist langwierig, teuer und nicht sicher. Daher vergleichen sich die Parteien, obwohl es nicht als gerecht empfunden wird. Wann im Falle des Ukrainekrieges der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist, weiß ich nicht. Das hängt auch damit zusammen, wie effektiv die Ukraine den Nachschub für die Russische Armee unterbrechen kann und wieviel Verluste an Menschen und Material beide Seiten tolerieren.

  4. #6 naja
    10. Oktober 2024

    Die Frage ist, wenn man diese Kriege beendete, was dann? Wie lange kann ein “Frieden” halten, wenn die Konfliktparteien einander nicht trauen oder hassen und Nachbarn sind? Wie schwierig ist es, einen Waffenstillstand auszuhandeln und wie schwierig ist es einen zu halten?

    Warum sollte Putin sich darauf einlassen, dass die Ukraine der EU beitritt? Er hat mWn gerade wieder die Kriegskasse um 30% aufgestockt.

    Der Krieg in Nahost wird mE nicht mit einem ausgehandelten Frieden enden, sondern von einer heissen irgendwann wieder in eine kühlere Phase übergehen. Hoffentlich.

  5. #7 hto
    wo "Kriegslinguistik" ...
    10. Oktober 2024

    Wenn die Ukrainer den großen Bruder Russland besiegen, dann werden wir ihr Land wieder aufbauen und sie haben die Chance im Club von Nato und EU aufgenommen zu werden – Na wenn das kein Anreiz ist ein rein wettbewerbsbedingtes Mitglied zu werden, besonders wenn man sehen kann, wie die Mitglieder zunehmend autoritär wie Russland und der Rest der Welt werden!?

  6. #8 hto
    wo Konfusion konsolidiert ...
    10. Oktober 2024

    Linguistik = Sprachwissenschaft – Wenn man sich z.B. Politik- und Religionswissenschaft anschaut, dann wird vor allem klar, dass Wissenschaft kein Garant für vernunftbegabte Veränderung ist. Es ist also kein Wunder oder Phänomen, daß Krieg oder Klimawandel nur eine Kriegslinguistik und/oder Wissenschaft von Krieg und Klimawandel hervorbringt. 😉

  7. #9 N
    10. Oktober 2024

    Ein Blick in die Vergangenheit hilft weiter.
    1961 erschien das Buch The End of the Battle von Evelyn Waugh.
    Der Buchtitel wurde abgeändert in Unconditional Surrender.

    Die englische Sprache erlaubt eine differenzierte Betrachtung des „Siegens“.
    Die Beendigung der Kampfhandlungen lässt die Zukunft offen.
    Bedingungslose Kapitulation legt die Zukunft fest im Sinne des Gewinners.
    Im Weltkrieg II haben die USA und Churchill auf einer bedingungslosen Kapitulation der Achsenmächte gepocht. Sie wollten damit auch eine politische Umgestaltung Mitteleuropas erreichen.

  8. #10 Staphylococcus rex
    10. Oktober 2024

    Die Diskussion ist aus meiner Sicht derzeitig etwas einseitig. Alle reden über die Ziele von Angreifer und Verteidiger. Wir hier sind Außenstehende und für meinen persönlichen moralischen Kompaß ist die Frage entscheidend, was hilft der Zivilbevölkerung im jeweiligen Kriegsgebiet?

    In Bezug auf den Ukrainekrieg bedeutet dies, Putin ist der Aggressor und ein Kriegsverbrecher. Das bedeutet aber nicht, dass ich die ukrainische Seite vorbehaltlos unterstütze. Vor kurzem gab es einen Spiegel-Artikel über eine ukrainische Sprachpolizei in Lwow, die die eigenen russischsprachigen Flüchtlinge aus der Ostukraine drangsaliert. Ich habe Vorbehalte dagegen, dass sich die EU vorbehaltlos mit den ukrainischen Nationalisten verbündet. Die EU hätte die Macht die Ukraine zu einer Verfassungsänderung zu zwingen, welche dort der russischen (und übrigens auch der ungarischen Minderheit) die Minderheitenrechte einräumt, die offiziell EU-Standard sind. Wenn diese Verfassungsänderung erfolgt ist, dann hätte ich auch kein Problem damit, dass Deutschland seine Militärausgaben für die Dauer des Ukrainekrieges auf 5% BIP erhöht, um die Ukraine angemessen zu unterstützen und Putin seine Grenzen aufzuzeigen.

    Eine Ähnliche Ambivalenz empfinde ich beim Nahostkonflikt. Die Hamas ist der Aggressor und deren Anführer sind Kriegsverbrecher. Die Wurzeln der Hamas als Untergrundorganisation führen dazu, dass die israelische Regierung mit militärischen Mitteln die Hamas zwar schwächen, aber nicht vernichten kann. Die Vernichtung der Hamas ist eine politische Aufgabe, die nur mit der Unterstützung der jeweiligen Zivilbevölkerung möglich ist (das gleiche gilt auch für die Hisbollah und den Libanon). Mit jedem militärischen Erfolg gegen einzelne Kommandeure rückt das Ziel der Beseitigung dieser Terrorgruppen als politische Organisation in weitere Ferne, auch wird dies mit hohen Kollateralschäden für die jeweilige Zivilbevölkerung erkauft. Die aktuelle Eskalationsspirale der Gewalt wird nicht die von Netanjahu gewünschte Friedhofsruhe bringen und der israelischen Zivilbevölkerung keine zusätzliche Sicherheit bringen. Dagegen wird sich Netanjahu der Frage stellen müssen, was hat seine Eskalationspolitik den verschleppten Geiseln gebracht?

    Es ist leider eine historische Tatsache, je länger ein Konflikt dauert, desto stärker ist die Polarisierung der jeweiligen Konfliktparteien. Wenn ein schneller militärischer Sieg nicht möglich ist, dann können die Protagonisten der jeweiligen Konfliktparteien nicht einfach über ihren Schatten springen, sondern es muss abgewartet werden, bis die allgemeine Erschöpfung und die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung die Konfliktparteien dazu zwingt. In Deutschland gab es einen 30-jährigen Krieg, in Frankreich einen 100-jährigen Krieg, die Geduld kann also sehr lange strapaziert werden.

  9. #11 knorke
    10. Oktober 2024

    Letztlich ist der Begriff so dehnbar wie ein Schnippsgummi und so auslegbar wie eine Gummimatte.

    Nach dem was Russland sagt, wäre ein Sieg über Ukraine die Neutralisierung (aka Regime Change zum Marionettenstaat) der Ukraine, die Verpflichtung, sich nicht der NATO oder EU anzuschließen und die Streitkräfte massiv zu reduzieren.

    Nach dem was Ukraine sagt wäre es, die voll staatliche Souveränität zu behalten, freie Bündniswahl zu behalten, alle völkerrechtlich legitimen Territorien incl. der Krim zurückzuerhalten. Nebenbedingung ist eine belastbare Sicherheitsgratanie aus dem Westen. Zumindest sind das wesentliche Punkte Zelenskyis Friedensplans, von dem er mit bisher mittelmäßigem Erfolg den Rest der Welt zu überzeugen versucht.

    Abseits davon bemühen sich westliche Staatschefs darum, sich möglichst nicht festzulegen, damit man hinterher so viel wie möglich als Erfolg verkaufen kann.

    Fakt ist, dass alles ausser die vollständige territoriale Restauration der Ukraine letztlich eine Niederlage des internationalen Völkerrechts wäre, da damit nachträglich die völkerrechtswidrigen Annexionen seitens des Kreml sanktioniert wären – wenn nicht de jure, so doch zumindest de facto.

    Auf einer weniger deklarativen Ebene dessen, was Politiker toll mit Handshake und Unterschrift zelebrieren können hat russland mit diesem gesamten Krieg eine strategische und öknomische Selbstdemonatition eingeleitet und ist eigentlich bereits jetzt strategischer Verlierer mit zunehmender Abhängigkeit von China. Zudem wird das Zeitfenster, in dem Russland diesen Krieg noch durch militärische Erfolge selbst positiv für sich entscheiden kann immer kürzer, da die Geldreserven schwinden, die Waffenbestände abschmelzen und die Situation immer weniger an der Bevölkerug vorbei vorangetrieben werden kann. Wirtschaftlich im Niedergang, galoppierende Inflation, demokraphisches problem verstärkt, weltweit Einfluss verloren und die NATO erweitert – Russland bezahlt sehr viel und ich bezweifle, dass es die offiziell deklarierten Ziele wird erreichen können.

    Meiner Meinung nach macht es sich der Westen zu einfach damit, wenn man Russland bis zur Erschöpfung weitermachen lässt und dann ukrainisches Territorium gegen Frieden tauscht. Aber das scheint offenbar der einzige Weg in einer Welt von zögerlichen Politikern die reden können, aber beim Handeln Angst vorm eigenen Schatten bekommen.

  10. #12 hto
    wo die "Strategen" des "freiheitlichen" ...
    10. Oktober 2024

    Kriegslinguistik heißt Menschen verheizen!!!

    @knorke: “… und dann ukrainisches Territorium gegen Frieden tauscht. Aber das scheint offenbar der einzige Weg in einer Welt von …”

    Nee, absolut nicht der einzige Weg!

  11. #13 hto
    10. Oktober 2024

    Russland besiegen heißt: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg – China, Nordkorea, …

  12. #14 Staphylococcus rex
    10. Oktober 2024

    In der Kriegslinguistik gibt es eine wichtige Asymmetrie bzw. Besonderheit: Der Angreifer muss um seine Kriegsziele zu erreichen seine Überlegenheit beweisen. Der Verteidiger muss für seine Kriegsziele lediglich seine Nichtunterlegenheit beweisen. Eine militärische Pattsituation ist für den Angreifer eine politische Niederlage und für den Verteidiger ein politischer Sieg.

    Russland ist eine Atommacht, ein militärischer Sieg gegen eine Atommacht impliziert einen vorher stattfindenden Atomkrieg. Die Formulierung “Russland” besiegen kann also nur als politische Niederlage beim Nichterreichen der primären Kriegsziele interpretiert werden.

    Beim Nahostkonflikt ist die Rechnung der Hamas so einfach wie auch zynisch und pervers. Das langfristige Kriegsziel der Hamas ist zwar die Vernichtung Israels, aber das kurzfristige Ziel der Hamas war der Angriff mit möglichst vielen Opfern und Geiseln und anschließend das Ziel die Gegenreaktion Israels irgendwie zu überleben und damit den politischen Sieg für sich zu reklamieren.

    • #15 Joseph Kuhn
      10. Oktober 2024

      @ Staphylococcus rex:

      „ein militärischer Sieg gegen eine Atommacht impliziert einen vorher stattfindenden Atomkrieg“

      Dann hätte Algerien nicht gegen Frankreich „gesiegt“, Nordvietnam nicht gegen die USA, die Mudschahedin nicht gegen die Sowjetunion, die Taliban nicht gegen die USA?

  13. #16 N
    10. Oktober 2024

    Beim bestehenden Konflikt sind drei Prinzipien zu unterscheiden: Restauration, Legitimität und Solidarität.

    Rußland steht für Restauration, die EU und die USA stehen für Legitimität und Solidarität.
    Sollte es also zu Verhandlungen kommen, dann werden diese drei Prinzipien maßgebend werden.

  14. #17 Staphylococcus rex
    10. Oktober 2024

    @ Joseph Kuhn, wahrscheinlich habe ich mich unpräzise ausgedrückt. Ein kompletter militärischer Sieg beinhaltet die bedingungslose Kapitulation eines Staates. Nach meiner Kenntnis ist dies bisher bei einer Atom-Macht noch nie passiert. Die erwähnten Beispiele sind alles eine Kombination aus Kolonialkriegen und Stellvertreterkriegen, die nicht auf dem Heimatgebiet der Atom-Macht geführt wurden. In allen drei Beispielen konnten die drei Atom-Mächte nicht ihre lokale Überlegenheit beweisen. Eine militärische Pattsituation führt nicht automatisch zu einem Frieden, aber die Kombination aus Zermürbung, fehlender Unterstützung an der Heimatfront und einer negativen Gewinn/Verlustrechnung führten zu einer Begrenzung des militärischen Engagements und damit sekundär zu einer lokalen militärischen Niederlage. Der Einsatz von Atomwaffen unterblieb, weil dies in einem Kolonialkrieg unverhältnismäßig wäre und bei einem Stellvertreterkrieg zu unkalkulierbaren Risiken geführt hätte. Da der Krieg außerhalb des eigenen Staatsgebietes geführt wurde, bestand aber auch keine existenzielle Bedrohung für die Atom-Macht als begründbare Rechtfertigung.

    Um es etwas präziser zu formulieren, ein primärer militärischer Sieg der Ukraine würde einen Marsch auf Moskau bedeuten und ist ohne den vorherigen Einsatz taktischer Atomwaffen durch Rußland (auf eigenem Gebiet) und allen Folgerisiken schlecht vorstellbar. Die Alternative ist ein Zermürbungskrieg gegen die russischen Truppen auf ukrainischem Territorium (und in diesem Fall ggf. auch auf russischem Grenzgebiet). Wenn der Preis für die Fortführung des Krieges (z.B. einer drohenden Palastrevolution) höher ist als der Preis für die Beendigung des Krieges, erst dann wird Putin seine Niederlage eingestehen. In Ermangelung eines besseren Begriffs würde ich dies als sekundären militärischen Sieg bezeichnen.

    Welche Einzelfaktoren in der Gewinn/Verlustrechnung ein besonderes Gewicht haben, hängt ab vom konkreten Einzelfall und dürfte im Fall Putin für Außenstehende besonders schwer kalkulierbar sein.

  15. #18 N
    11. Oktober 2024

    Was heißt es die USA besiegen ?
    Keine Antwort ?
    Territoriale Auseinandersetzungn sind kein Schachspiel, wo nur nach Regeln gekämpft wird.
    Ein Blick in die Geschichte der europäischen Großmächte kann nicht schaden.
    Beginnen wir beim Krimkrieg 1855, alle gegen Rußland. Rußland hat verloren, aber ohne große Nachteile für seine folgende Entwicklung. Die Zaren setzten ihre Politik fort, bis eben 1918 die Kommunisten die Macht übernommen haben.

    Die Machtübernahme der Kommunisten mit dem Bürgerkrieg Rote gegen Weiße nutzten die Europäer um ihren Einflussbereich in Vorderasien bis hin zum Kaukasus auszudehnen.

    Dann kam der 2. Weltkrieg, wieder mit der Gegenbewegung Rußlands , das sich jetzt Sowjetunion nannte, nach Westen mit der militärischen Besetzung der osteuropäischen Länder.

    Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde die osteuropäischen Länder wieder unabhängig, aber nicht nur das , die Ukraine jetzt zum ersten Male in seiner Geschichte souverän, machte sich auf ,sich dem Westen, der EU anzuschließen.

    Und in dieser Situation sind wir jetzt. Rußland will das verhindern, die EU pocht auf das Völkerrecht.

    Also, Nix Neues im Osten.
    Fazit: Selbst eine militärische Niederlage Rußslands wird es nicht abhalten, an seinem langfristigen Ziel fest zu halten, das größte Land der Erde zu bleiben.

  16. #19 hto
    11. Oktober 2024

    Israel greift zum wiederholten Male die UN-Friedenstruppen im Libanon an – Das ist Kriegslinguistik vom Feinsten und bedeutet: Verpisst euch!?

  17. #20 N
    13. Oktober 2024

    #19
    “Das ist Kriegsliguistik vom Feinsten”
    Das ist die Folge einer Liguistik, die nur die Begriffe Sieg und Niederlage kennt. Genau genommen ist es eine eingeengte Denkweise von Männern. Die Kriege im Nahen Osten sind die Kriege böser alter Männer.
    Der Ukrainekrieg gehört auch in diese Kategorie, denn die Leiden der Opfer werden nicht genannt.

  18. #21 Dietmar Hilsebein
    14. Oktober 2024

    “Was heißt „Russland besiegen“?”

    So wie ich das derzeit sehe, ist der Westen an einer strategischen Niederlage Rußlands interessiert. An einen Sieg der Ukraine glaubt kein Mensch. Rußland muß schlicht und ergreifend, wenn schon nicht militärisch, so doch ökonomisch eine Nullstunde erfahren, um einen Reset Rußlands zu starten. Das setzt aber voraus, daß man Rußland als irgendwie notwendig erachtet. Deutschland ’45 war die Speerspitze des Westens gegen den russischen Bolschewismus. Rußland könnte als Speerspitze gegen China dienen. Klingt zynisch, aber politisch.

  19. #22 N
    14. Oktober 2024

    #21
    “So wie ich das derzeit sehe, ist der Westen an einer strategischen Niederlage Rußlands interessiert.”

    Anstatt zu spekulieren , wieder ein Blick zurück an die Besetzung Moskaus durch Napoleon 1812.
    September 1812 , der Bürgermeister von Moskau übergibt den Schlüssel der Stadt persönlich an Napoleon und Napoleon residiert im Kreml. Napoleon fühlt sich als Sieger.
    Dazu muss man wissen, dass die Grand Armee auf 600 000 Soldaten geschätzt wurde.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Russlandfeldzug_1812#Die_Besetzung_von_Moskau

    Oktober 1812 Die Magazine sind leer geräumt, ein Brand bricht in Moskau aus, wahrscheinlich hat der Zar dazu den Auftrag gegeben.

    November 1812 Napoleon erkennt, dass er einer Täuschung aufgesessen ist, der Zar verhandelt nicht mit ihm. Napoleon verlässt Moskau in Richtung Preußen.

    Dezember 1812 Ein früher Wintereinbruch bis minus 40 Grad Celsius, der Rest der Großen Armee mit 50 000 Soldaten verlässt Moskau.

    And der Beresina bricht die Brücke und ein Großteil der Armee ertrinkt oder erfriert in den kommenden Nächten.

    Im Frühjahr 1813 findet man am Wege über 250 000 Tote.
    In den Geschichtsbüchern findet man diesen Spruch:” Mit Mann, Ross und Wagen hat sie der Herr geschlagen.”
    Soviel zum Thema Sieg.
    Man soll nicht glauben, dass mit der Besetzung der Hauptstadt der Sieg besiegelt ist.
    Und jetzt mal der Gedanke, Russland besetzt Kiew. …

  20. #23 Staphylococcus rex
    10. Dezember 2024

    Jetzt nach dem Machtwechsel in Syrien ist es vielleicht ein guter Zeitpunkt einer Standortbestimmung in diesem Krieg. Der Angriff auf die Ukraine war konzipiert als schnelle Militäraktion (“Spezialoperation”). Dies wurde vereitelt. Nach 2 3/4 Jahren haben wir einen Auszehrungskrieg, bei dem beide Seiten vom Krieg gezeichnet sind.

    Russland zahlt zunehmend einen hohen Preis für Putins imperiale Gelüste. Nachdem bereits Armenien im Stich gelassen wurde, ist der Machtwechsel in Syrien bereits die zweite Demütigung Russlands als Schutzmacht. Die zunehmende Inflation ist eine Bedrohung für die russische Kriegswirtschaft. Wenn die Ersparnisse der Bürger in die Kriegswirtschaft gelenkt werden, geht dies nur solange gut, wenn die Bürger die Hoffnung haben, nach dem Krieg den Konsum nachholen zu können. Bei einer galoppierenden Inflation wird jedem Bürger klar, dass er mit dem eigenen Ersparten den Krieg bezahlt.

    Russland ist angeschlagen, aber noch lange nicht besiegt. Eine Eskalationsstufe steht Putin noch offen, nämlich den totalen Krieg zu erklären (in Russland heißt dies vaterländischer Krieg). Er könnte damit zusätzliche Reserven mobilisieren, dies würde nach meiner Einschätzung die großen Zentren Moskau und Petersburg besonders treffen, die bisher von Einberufungen weniger betroffen waren und die bisher mit einer “Wohlfühblase” von den negativen Kriegsfolgen abgeschirmt wurden. Auch käme Putin dann in Erklärungsnot, wie aus einer “Spezialoperation” plötzlich ein “Dritter Vaterländischer Krieg” (nach Napoleon und Hitler) werden konnte.

    Als Außenstehender habe ich nur ein sehr grobes Bild der Situation. Militärisch ist Russland im Vorteil. Schwächen hat Russland bei der Rekrutierung von Soldaten, bei der zunehmenden Auszehrung der eigenen Wirtschaft und bei der Kriegsmüdigkeit der eigenen Bevölkerung. Wirtschaftlich kann Russland diesen Krieg vielleicht noch ein Jahr durchhalten, bei einer Eskalation in Richtung vaterländischer Krieg auch zwei Jahre, im letzteren Fall aber mit hohen Risiken bei der Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung.

    Paradoxerweise fällt es mir wesentlich schwerer abzuschätzen, wie schwer die Ukraine durch diesen Krieg ausgezehrt ist und wie lange die Ukraine dies noch durchhalten kann.

  21. #24 RPGNo1
    10. Dezember 2024

    @Staphylococcus rex

    Schwächen hat Russland bei der Rekrutierung von Soldaten, bei der zunehmenden Auszehrung der eigenen Wirtschaft und bei der Kriegsmüdigkeit der eigenen Bevölkerung.

    Das möchte ich noch ergänzen. Russland zehrt von der strategischen Reserven, die zur Zeit der SU eingelagert wurden. Nachdem z.B. in 2022 und 2023 relativ moderne Panzertypen T-72 und T-80 (*) reaktiviert und repariert wurden, ist man inzwischen dabei, T-62 und T-54/55 irgendwie wieder kampftauglich zu machen. Bei Schützen- und Transportpanzern oder fahrbarer Artillerie sieht es ähnlich aus. Was jetzt an die Front geschickt wird, war in den 1950 Jahren state-of-the-art.

    Aber auch diese Reserven werden immer mehr ausgedünnt, wie Satellitenaufnahmen zeigen. Die russischen Lager leeren sich mit hoher Geschwindigkeit, und die russischen Militärproduzenten sind trotz Umstellung auf Kriegswirtschaft auch aufgrund der internationalen Sanktionen bei weitem nicht in der Lage, vor allem die technisch hochwertigen Verluste auszugleichen. Deshalb auch der Rückgriff auf die Lieferungen von Verbündeten wie Iran oder Nordkorea, welche aber bei weitem nicht die Lücken in der russischen Industrie stopfen können.

    (*) Eine Anekdote: Letztes Jahr wurde von der russischen Führung lauthals verkündet, dass die Produktion des T-80, welche Mitte der 1990er Jahre eingestellt wurde, wieder aufgenommen werden soll, weil die russischen Panzerwerke nicht genügend T-90 produzieren können, welche u.a. Bauteile aus dem Westen benötigen. Diese Ankündigung sorgte für einige Aufregung in den deutschen Medien. Geschehen ist seitdem nichts.