Gestern Abend war Anton Hofreiter, Vorsitzender des Europaausschusses des Bundestags, in Dachau. Im Ludwig-Thoma-Haus bestritt er eine „Podiumsdiskussion“ zum Thema Ukraine und Europas Sicherheit. Mit Hofreiter auf der Bühne: Britta Jacob, Kulturraumwirtin, Direktkandidatin der Grünen für die Bundestagswahl im Februar, zwischenzeitlich einmal persönliche Referentin von Annalena Baerbock und für kurze Zeit Senior Managerin für Geopolitik bei der Bayer AG, sowie Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker mit Schwerpunkt SED-Diktatur. Die ebenfalls angekündigte Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik kam nicht, aufgrund einer Bahnverspätung, wie es hieß.

Eine „Podiumsdiskussion“ wurde der Abend jedoch nicht. Die drei auf dem Podium waren sich in allem einig und haben sich vor allem auch auf Themen beschränkt, in denen insgesamt breiter Konsens im demokratischen Parteien-Spektrum besteht: Dass Russland einen brutalen Angriffskrieg führt, dass Putin einen eurasischen Imperialismus verfolgt, dass die Menschen in der Ukraine unermesslich leiden, dass man die Ukraine militärisch unterstützen muss und die Verhandlungsforderungen von BSW und AfD derzeit wenig hilfreich sind.

Das Publikum, optisch arriviertes Bürgertum, teils weit angereist, applaudierte stets zustimmend, auch wenn es auf dem Podium zwischenzeitlich regelrecht zu populistischen Radikalisierungen kam, etwa Britta Jacobs These, man müsse sich eindeutig dafür entscheiden, dass die Ukraine nicht nur nicht verlieren darf, sondern dass Russland besiegt werden müsse. Was das konkret bedeutet, hat sie nicht gesagt. Jeder darf in diesen Satz hineinphantasieren, was er will, von der Wiederherstellung der territorialen Einheit der Ukraine bis zur Zerschlagung derjenigen Russlands. Die Moderation durch einen Regionalfunktionär der Grünen war zahnlos, nur stichwortgebend, in keiner Hinsicht gedanklich fordernd.

Anton Hofreiter, der, als er begrüßt wurde, huldvoll ins Publikum nickte wie Prinzregent Luitpold, rief dann am Ende mit getragenem Pathos in geradezu Scholz’scher Emotionalität zur Wahl auf: Man müsse wertschätzen, dass man als Wähler:in zwar nicht immer bekomme, was man wolle, aber immer, was man wähle. Deshalb solle man wählen. Noch gedankenloser kann man vermutlich Wahlverdruss nicht provozieren. Das war Sprechblasenrhetorik par excellence.

Die „Podiumsdiskussion“ beschränkte sich weitgehend auf eine macht- und militärpolitische Ebene. Vieles davon nicht verkehrt, aber wichtiger als das, was gesagt wurde, war das, was nicht gesagt wurde: Dass wir uns wieder darüber klar werden müssen, welche „westlichen Werte“ wir eigentlich verteidigen wollen, dass dazu z.B. auch eine menschenwürdige Pflege, bezahlbares Wohnen, Arbeitnehmerrechte und wirtschaftliche Chancen für alle und nicht nur für Konzerne gehören. Ein gutes Leben lohnt sich zu verteidigen, das ist dann auch Teil einer nichtmilitärischen Verteidigungskraft, die eine Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit autoritären Regimen ebenso braucht wie Panzer und Raketen. In all den genannten Politikfeldern sind die Grünen in den letzten Jahren nicht besonders vorwärtsdrängend gewesen.

Insofern hat der Abend keine neuen Ideen gebracht. Es war vor allem eine dem Wahlkampf verpflichtete konzertierte Propaganda-Veranstaltung für Hofreiters verteidigungspolitische Positionen. AfD und BSW wurden expressis verbis als „Feinde“ des Volkes und der Demokratie tituliert. So wichtig die Kritik an deren putingefälligem Populismus ist, solche Fronten richten sich wohl nicht ganz zufällig zugleich gegen zwei Parteien, die heute die Proteststimmen einsammeln, früher ein Geschäftsfeld der Grünen. Zudem wäre es notwendig, auf die Ängste der Menschen hierzulande vor Krieg bessere Antworten als AfD und BSW zu geben – geostrategische Belehrungen sind dafür nicht sonderlich geeignet. Insofern war es auch die Demonstration eines grünen Selbstverständnisses, dass sich maximal weit von den Grünen zur Zeit Petra Kellys oder Antje Vollmers entfernt hat. In manchen Punkten sicher zu Recht, aber mit solchen Veranstaltungen werden die Grünen nicht zum Salz der Erde (Matthäus 5,13).

Kommentare (11)

  1. #1 hto
    23. November 2024

    Zu solchen Veranstaltungen geht man nur, wenn man zuviel faules Obst, Gemüse oder zuviele Eier zu Hause hat.

    • #2 Joseph Kuhn
      23. November 2024

      @ hto:

      Aus dem Alter der vegetarischen Militanz bin ich raus.

  2. #3 ajki
    23. November 2024

    Kuhn: “…Jeder darf in diesen Satz hineinphantasieren, was er will, von der Wiederherstellung der territorialen Einheit der Ukraine bis zur Zerschlagung derjenigen Russlands. …”

    Ich kann mir wirklich nicht vorstellen noch kann ich es glauben, dass *irgendjemand* – und sei er auch noch so Russland-feindlich, inklusive den Ukrainern – sich eine “Zerschlagung” Russlands als “Kriegsziel” vornimmt oder auch nur wünscht. Wenn überhaupt, dann stellen sich wohl gelegentlich Kommentatoren vor, im Falle eines schlecht für Russland endenden Konflikts würden die inneren Spannungen in Russland so zunehmen, dass eine Auswechselung des derzeitigen Regimes erfolgen könnte – was leider nicht heißt, dass sich an der misslichen Positionierung Russlands auch nur ein Jota ändern würde.

    Im allgemen dürfte es wohl so sein, dass mit der Formulierung “Ukr. darf nicht verlieren” oder “Ukr. muss gewinnen” immer nur und ausschließlich gemeint ist, dass die okkupierten Regionen wieder zurückgewonnen werden. Obwohl es (zumindest mal mir) immer unwahrscheinlicher erscheint, dass die gelingen könnte.

  3. #4 hto
    23. November 2024

    @Kuhn #2

    Ich auch. 😉

    Zu “Salz der Erde” und Petra Kelly:
    “Es war seit jeher den Epigonen vorbehalten, befruchtende Hypothesen des Meisters in starres Dogma zu verwandeln und satte Beruhigung zu finden, wo ein bahnbrechender Geist schöpferische Zweifel empfand.” (Rosa Luxemburg)

  4. #5 knorke
    23. November 2024

    @3 ajki – nunja, irgendwie will sich aber trotzdem keiner festlegen, was das heißt. Weder “nicht verlieren” noch “gewinnen” werden von den sich gegenüberstehenden Positionen genauer erläutert, man ist sich nur einig, dass es grob fatal wäre, die jeweils andere Formulierung zu gebrauchen. Dadurch hat man eine virtuelle Defintion, wo der Wähler sich mal gefälligst für eine Position entscheiden soll, die ihm aber erst später offengelegt wird.

  5. #6 naja
    24. November 2024

    Was die Ukraine angeht, können wir mE nichts mehr machen, außer zusehen. Es ist jetzt auch egal, ob Merz oder Scholz Kanzler werden. Europa sollte daraus lernen, aber ich habe meine Zweifel. Wir hätten auch aus Trump 1 lernen sollen.
    Und wir sollten uns auf eine siebenstellige Zahl geflüchteter Ukrainer vorbereiten (was wir auch nicht tun werden), die im Verlauf der nächsten Jahre zu uns kommen, die kein Deutsch sprechen, ein Dach über dem Kopf brauchen, die erstmal in die Sozialsysteme einwandern. Die werden auch bleiben. Das ist die einzig logische Konsequenz aus den Forderungen nach weniger Waffen und Friedensverhandlungen über die Köpfe der Ukrainer hinweg (AfD und BSW), aus der zögernden Haltung von Biden, Scholz und Co in den letzten 3 Jahren. Und das ist richtig so. Wer da, wo er ist, keine Chance hat, der geht, wenn er kann. Das machen alle Tiere, dafür haben wir Beine.
    Ich könnte mir gut vorstellen, dass Putin und Trump den Konflikt erst mal “einfrieren”, was bedeuten würde, Russland kriegt Zeit, weiter zu mobilisieren, aufzurüsten und zu modernisieren, während der Westen froh ist, dass man der Ukraine keine Waffen mehr liefern muss. Trump und seine Fans fordern den Friedensnobelpreis und AfD und BSW klatschen frenetisch.
    Nach ein paar Jahren (wie 2014 – 2022) kann Russland dann den 24. Februar 2022 noch einmal probieren und Kiew einnehmen. Alternativ zB in Littauen an der Grenze russischstämmige Bürger militärisch “beschützen”, mit nuklearer Abschreckung drohen und gucken, ob die NATO reagiert. Wird die NATO für eine “russische Enklave” in Littauen einen Atomkrieg riskieren?

  6. #7 Tina
    24. November 2024

    Ein positives Ende für die Ukraine kann man sich im Moment nur schwer vorstellen.
    Eher sieht es so aus, dass es Russland gelingen könnte, seinen Machtbereich zunächst weiter nach Westen auszudehnen. Mit katastrophalen Folgen für die Ukrainer, denn wie wird ein Leben unter russischer Besatzung wohl aussehen? Also werden viele, vielleicht Millionen fliehen. Was das wiederum für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben wird, ist absehbar. Alleine das Dach über dem Kopf wird schwierig werden. Normale bezahlbare Wohnungen gibt es beispielsweise hier in Hamburg so gut wie gar nicht mehr, nur noch überteuerte Mini-Appartements und Wohnungen ab 2000 Euro aufwärts. Für Geflüchtete gibt es neben den üblichen Containern inzwischen auch wieder Zelte. Die würden dann allerdings nicht mehr reichen. Also wieder Turnhallen, leere Baumärkte, Messehallen usw. wie vor bald zehn Jahren. Was das bedeutet und welche Auswirkungen es haben wird, kann man sich vorstellen.

  7. #8 RGS
    24. November 2024

    Im Krieg in der Ukraine und Russland sind bisher 650.000 Russen und vermutlich ebensoviele Ukrainer gestorben.
    Russland versucht bis zum Amtsantritt von Trump im Januar soviel Gebiete zu erobern wie möglich.
    Angeblich hat Russland ca. 50.000 Soldaten um Kursk zusammengebracht um Kursk zurückzuerobern.
    Biden hat angekündigt, die Raketen Atacms (Reichweite 300km) zu liefern damit die Ukraine um Kursk die russischen Stellungen angreifen kann.
    Selensky war angeblich sehr sauer, dass die Biden die Lieferung angekündigt hat, damit die Russen sich vorbereiten konnten.
    China war vermutlich auch vorher über die Lieferung von den USA informiert worden.
    Eventuell auch Scholz vor dem Telefonat mit Putin.
    China hat kein Interesse, dass sich Nordkorea noch stärker am Krieg beteiligt.
    Die Trumpadministration möchte ab 20. Januar versuchen den Krieg einzufrieren. Ein demilitarisierter Sicherheitskorridor soll dann durch Europäische Truppen abgesichert werden.
    Bis dahin wird Russland versuchen soviel Gebiete zu erobern wie möglich: eventuell auch Odessa um der Ukraine den Zugang zum Meer abzuschneiden.

    Das Ziel Russlands ist die Zerstörung der europäischen Sicherheitsstruktur.

    Wenn wir im Westen es Russland durchgehen lassen, dass militärisch stärkere Länder ihre Nachbarn erfolgreich überfallen können, dann wird es weltweit Nachahmer geben.
    Außerdem kann dann die Folge sein, dass weitere Länder eine atomare Bewaffnung anstreben, weil sie dann nicht angegriffen werden. Das wird aber die Sicherheitslage der Welt verschlechtern.

    Das sagt Militärexperte Carlo Massala bei Lanz diese Woche:
    Ab Minute 18:05:
    https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-19-november-2024-100.html#xtor=CS5-95

    Hat denn die Podiumsdiskussion in Dachau auch über diese Dinge gesprochen?

  8. #9 schorsch
    24. November 2024

    Die Politik der Grünen, insbesondere wenn kombiniert mit autoritären SPD-Innenpolitikern wie dem Hamburger Innenpimmel Grote oder Frau Faeser, erweckt in mir zunehmend Assoziationen zum Austrofaschismus der 30er Jahre.

    Dazu gehört auch, dass die Grünen nicht nur tolerieren, sondern geradezu einen Holocaust für die Ukraine fordern. Denn nichts anderes bedeutet angesichts der Stärkeverhältnisse ihre Forderung eines “Kampfs bis zum Endsieg!”. Sie drückens verblümter aus, aber gerade hier zeichnet die Verblümung die speziellen Arschlöcher aus.

    Welchen Dachschaden haben Politiker, die einen tatsächlich unmöglichen Sieg der Ukraine über Russland nicht nur herbeifantasieren, sondern ihn sogar fordern? Offenkundige Schwachköpfe.

    Sollte die Ukraine jedoch Russland tatsächlich besiegen, bin ich gerne bereit, alle von mir gegen die Grünen et al. gerichteten Invektiven auf mich selbst zu beziehen. Da bin ich katholisch: Wenn die Hölle einfriert.

    • #10 Joseph Kuhn
      24. November 2024

      @ schorsch:

      “Assoziationen zum Austrofaschismus der 30er Jahre.”

      Solche Assoziationen müssten Sie vielleicht mit einem Psychoanalytiker besprechen. Ich bin nicht in der Lage, sie zu interpretieren.

      “Dazu gehört auch, dass die Grünen (…) geradezu einen Holocaust für die Ukraine fordern.”

      Mit Verlaub, aber wie auch immer man die Ukraine-Politik der Grünen oder speziell die von Herrn Hofreiter bewertet, das ist grober Unfug. Der Holocaust ist charakterisiert durch die fabrikförmige Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Und zum “Endsieg” hatte damals die Millionen Ermordeter niemand aufgefordert.

      “einen tatsächlich unmöglichen Sieg der Ukraine über Russland … Sollte die Ukraine jedoch Russland tatsächlich besiegen”

      Was heißt Russland besiegen?

  9. #11 hto
    25. November 2024

    @schorsch: “Sollte die Ukraine jedoch Russland tatsächlich besiegen, …”

    Das wird nicht passieren, es werden alle Seiten verlieren, wenn das so dämlich weiter geht.