Bei großen Versprechen in der Medizin lohnt sich immer ein genaueres Hinsehen. Dieses genauere Hinsehen war für Jürgen Windeler als Chef des IQWIG bis zu seinem Ruhestand 2023 berufliche Pflicht. Das IQWIG ist ein zentraler Baustein der Evidenzbasierung im gesetzlichen Krankenversicherungssystem. Die private Krankenversicherung hat so etwas übrigens nicht. Den kritischen Blick auf große Versprechen hat Jürgen Windeler aber auch im Ruhestand nicht abgelegt, wie seine bissigen Kommentare etwa beim Observer zeigen, z.B. zum geplanten Herzgesetz oder zuletzt zur Opt-out-Regelung bei der elektronischen Patientenakte.
Um die KI ranken sich im Moment auch viele große Versprechen. Manche sind berechtigt, aber manchmal ist der Kaiser auch nackt. Ein kleines, aber vielsagendes Beispiel stellt Jürgen Windeler hier in einem Gastbeitrag dar.
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KI ist so toll!
Gastbeitrag von Jürgen Windeler
Sie kennen die berühmte Frage an Radio Eriwan: “Ist es wahr, dass der Kosmonaut Juri Gagarin eine Reise in die USA gewonnen hat?“
An die Antwort fühlt man sich erinnert, wenn man einer Äußerung von BÄK-Präsident Reinhardt auf der Bitkom Digital Health Conference 2024 nachgeht. Ihn faszinierte „das Thema Mustererkennung mit der KI“. Er habe von Londoner „KI-Forschern“ gehört, sie hätten „Frauen dazu bewegt, ihren Warenkorb scannen zu lassen … Und da hat man festgestellt, dass neun Monate vor dem Auftreten und der Erstdiagnose vom Eierstockkrebs das Einkaufsverhalten dieser Frauen sich typisch verändert hat.“ „Solche Aspekte von KI, wo ich durch Zusammenführen von Mustern Dinge unter Umständen früher erkenne, finde ich total spannend und faszinierend“. Früherkennung von Krebs durch Scannen von Warenkörben?
„Im Prinzip ja“, hätte Radio Eriwan geantwortet, aber guckt man sich nun diese Studie genauer an, dann stellt man fest:
a. Nein, es geht nicht allgemein um „Einkaufsverhalten“ oder „Warenkorb“, sondern nur darum, ob die Frauen bestimmte frei verkäufliche (OTC-)Medikamente (insbesondere Schmerzmittel) gekauft haben.
b. Nein, mit KI hat das nichts zu tun; da wurden ganz normale statistische Verfahren benutzt.
Die Äußerung geht offenbar auf diese Aussage in einem Interview zurück: „Und über die Daten von Shopping-Kundenkarten konnte an unserem Zentrum Eierstockkrebs bis zu acht Monate vor der eigentlichen Diagnose erkannt werden, weil die Patientinnen ihre Symptome oft mit rezeptfreien Medikamenten behandeln, bevor sie sich an die Hausärzt*in wenden.“
Im Prinzip ja, aber …
c. Nein, nicht „konnte erkannt werden“, sondern vielleicht: „wurde eine statistische Korrelation gefunden”, zumal noch nicht einmal klar ist, ob die Beschwerden, gegen die die Frauen die Medikamente gekauft haben, etwas mit der späteren Diagnose zu tun hatten.
d. Nein, die „Studie“ sagt und zeigt überhaupt nichts. Denn hier wurden 100 Frauen mit bekanntem Ovarial-Ca befragt. Ohne Kontrollgruppe weiß natürlich niemand, ob Frauen mit anderen Krankheiten oder aus anderen Gründen ebenso irgendwann Schmerzmittel kaufen.
e. und zu der Interpretation „could potentially be useful” hätte man auch ohne irgendwelche Daten kommen können.
Aber da keiner nachguckt oder an einer kritischen Bewertung kein Interesse hat oder dazu nicht in der Lage ist, verbreitet sich diese Mücke nach dem Stille-Post-Prinzip, wird größer und größer, nähert sich den Ausmaßen eines Elefanten – und demnächst wird ein „Gutes-Ovar-Gesetz“ vorgelegt, in dem die Forderung des Berufsverbandes der Frauenärzte geregelt wird, vor jeder Apotheke ein „Sono-Mobil“ aufzustellen. „Sie haben Schmerzmittel gekauft? Da sollten wir aber gleich mal …“. KI ist so toll!
Was antwortete Radio Eriwan? “Im Prinzip ja, aber es war nicht der Kosmonaut Juri Gagarin, sondern ein Rentner, und er hieß nicht Juri, sondern Oleg, und auch nicht Gagarin, sondern Gaganoff, und es war nicht ‘in die USA’ sondern ‘in Kiew’ und er hat keine Reise gewonnen, sondern ein Fahrrad, und er hat es auch nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen!”
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