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Die Medizin war zwischen 1933 und 1945 auf vielfältige Weise Teil der nationalsozialistischen Rassenpolitik, bis hin zur aktiven Beteiligung an den Morden an behinderten Menschen oder den Medizinverbrechen in den KZs. Nach dem Krieg haben viele Täter ihre Rolle im Nationalsozialismus verheimlicht oder kleingeredet. Manche, wie Prof. Werner Heyde, eine der zentralen Figuren des Behindertenmords, sind unter falschem Namen untergetaucht und waren, teilweise gedeckt durch Mitwisser, als scheinbare Saubermänner wieder medizinisch tätig.

Auch Angehörige des Öffentlichen Gesundheitsdienstes haben sich nicht selten so verhalten. Es muss daher nicht verwundern, wenn mancher nach dem Krieg sogar geehrt wurde, sei es mit dem Bundesverdienstkreuz, sei es durch Auszeichnungen medizinischer Fachverbände. Auch der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes hat ein paar braune Schafe in den Reihen der Preisträger der Johann-Peter-Frank-Medaille, der höchsten Auszeichnung des Berufsverbands.

Im Mai 2023 hat der Bundesverband auf der Grundlage von aktuellen medizinhistorischen Recherchen in der Liste der Preisträger einen Hinweis zur Nazi-Vergangenheit Josef Stralaus angebracht. Jetzt ist mit der gleichen Formulierung auch Paul Trüb die Rolle des Vorbilds abgesprochen worden.

Prof. Dr. Paul Trüb hatte im Jahr 1973 die Johann-Peter-Frank-Medaille erhalten. Paul Trüb war vor 1945 beim Reichsstatthalter in Wien tätig. Er war dort in der Unterabteilung Volksgesundheit und Volkspflege in Referat Ic Medizinalangelegenheiten leitend als Regierungs- und Medizinalrat tätig und in dieser Funktion auch für die Erb- und Rassenpflege zuständig, möglicherweise auch mit Transporten in die Tötungsanstalt Hartheim befasst.

Seine Entnazifizierungsakte liegt im Landesarchiv NRW. In seinem Entnazifizierungsverfahren hat er eine NSDAP-Mitgliedschaft eingeräumt, eine SS-Mitgliedschaft dagegen verneint. Zur Mitgliedschaft im NS-Ärztebund ist in der Akte vermerkt: “Nur als Anwärter”. Des Weiteren enthält die Akte Entlastungsaussagen Dritter (das sind oft von der betroffenen Person selbst nachgesuchte und eingereichte Entlastungsaussagen, sog. “Persilscheine”).

Im Berlin Document Center ist der “Parteistatistische Erhebungsbogen” für Paul Trüb archiviert, Stand 1. Juli 1939. Dort ist als Eintrittsdatum in die NSDAP der 1. Juli 1933 dokumentiert, Paul Trüb war also ein überzeugter Nationalsozialist von Beginn an. Des Weiteren ist auch seine SS-Mitgliedschaft dort vermerkt, ebenso die Mitgliedschaft im NS-Ärztebund. Dieser Bogen ist von Paul Trüb persönlich unterschrieben.

Paul Trüb hat somit in seinem Entnazifizierungsverfahren unwahre Angaben gemacht, der entlastende Bescheid ist zu Unrecht ergangen und seine Mitgliedschaft in der SS war auch bei der Preisverleihung unbekannt. Inwiefern er in Wien direkt an der nationalsozialistischen Mordmaschinerie mitgewirkt hat, konnte noch nicht geklärt werden.

Die biografischen Eckdaten zu Paul Trüb wurden erstmals in dem Buch „Wiedergutmachung – Der Kleinkrieg gegen die Opfer“ von Christian Pross 1988 veröffentlicht. Paul Trüb war nach dem Krieg Medizinalbeamter im Regierungspräsidium Düsseldorf und dort u.a. an Wiedergutmachungsverfahren beteiligt. Die Belege für seine Positionen und Ämter im Nationalsozialismus waren jedoch zunächst nicht mehr auffindbar und mussten erneut in verschiedenen Archiven recherchiert werden, seine Falschangaben in der Entnazifizierungsakte waren bislang unbekannt.

Wie man mit solchen Biografien umgeht, ist immer eine Frage des konkreten Einzelfalls. Nähere Umstände, z.B. Tatbeteiligungen, sind oft nicht mehr oder nur mit großem Aufwand aufzuklären. Dennoch sollte man auch nach 80 Jahren nicht einfach achselzuckend über diese „Vorbilder“ hinwegsehen. Es sind keine Vorbilder für den ÖGD.

Kommentare (18)

  1. #1 Fjord Springer
    19. Dezember 2024

    Ich wäre dafür, diesen Leuten alle Preise und Auszeichnungen, die sie nach1945 erhalten haben, abzuerkennen. Schon allein als Signal an all jene, die diese fürchterliche Diktatur gar nicht so schlimm fanden und sie heute, entgegen allem Wissen, verklären.

  2. #3 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    19. Dezember 2024

    XXX

    [Edit: Kommentar gelöscht. Schreiben Sie künftig einfach “cetero censeo”, das reicht angesichts Ihrer repetitiven Fixierung. JK]

  3. #4 Fjord Springer
    19. Dezember 2024

    @ Joseph Kuhn

    Ihr Vorschlag klingt durchdachter, dem schließe ich mich an. Was die Aberkennung des Bundesverdienstkreuz betrifft, wundere ich mich mal wieder einfach nur. Das ist eine von Menschen geschaffene Regel, für die, wenn sie nicht abgeschafft werden soll, es eine Ausnahmeregel geben könnte.

    Hat man Angst, dass man das Ansehen der Auszeichnung zerstören könnte, gäbe es so eine Ausnahme? Aber wenn Leute mit dem Bundesverdienstkreuz geschmückt werden, die es ihrer Geschichte und ihres Verhaltens wegen einfach nicht verdient haben – liegt dann nicht darin die eigentliche Zerstörung, sozusagen die Entehrung, des Ordens?

    • #5 Joseph Kuhn
      20. Dezember 2024

      @ Fjord Springer:

      Ich weiß nicht, was rechtlich möglich ist und was man rechtlich möglich machen könnte. Das müssten Juristen kommentieren, falls es keine einschlägige Quelle im Internet gibt.

      Inhaltlich stimme ich Ihnen zu.

  4. #6 RGS
    20. Dezember 2024

    Das Gesundheitsamt und der Landkreis könnten kontinuierlich Transparenz über die NS Vergangenheit herstellen über diverse Medien.

  5. #7 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    20. Dezember 2024

    Lieber Joseph

    Da sprichst Du erfreulicherweise über Paul Trüb, den Organisator der Euthanasie in Wien. Aber von heutiger Euthanasie wie der z.B in Kanada oder der, die jetzt im UK eingeführt wird, willst Du vermutlich genauso wenig wissen wie von Konkretem der Nachkriegskarriere Trübs in Köln – vor allem aber der heutige Bezug zu experimenteller Medizin scheint Dich zu stören (darauf bezog sich ja mein gelöschter Beitrag). Trüb war ja in Köln dann mit der Seuchenbekämpfung befasst, ein ganz aktuelles Thema.

    Schade.

    Falls Du diese Zeile hier durchlassen könntest, dieser Text von Claudia Spring von 2009 wäre eine Empfehlung für Mitleser, die sich über das Paradebeispiel Trüb informieren möchten, wie “Public Health” nach dem Zusammenbruch des Nazireichs wieder aufgebaut wurde:

    https://tile.loc.gov/storage-services/master/gdc/gdcebookspublic/20/19/66/72/83/2019667283/2019667283.pdf

    • #8 Joseph Kuhn
      20. Dezember 2024

      @ Volker Birk:

      “Paul Trüb, den Organisator der Euthanasie in Wien”

      Ob er das war, wäre zu belegen. Es ist zumindest für mich nicht möglich gewesen, Dokumente über konkrete Tatbeteiligungen zu finden, aber erstens bin ich kein archiverfahrener Medizinhistoriker, zweitens war das für meinen Zweck, einen distanzierenden Hinweis in der JPF-Preisträgerliste, nicht unbedingt nötig.

      “von heutiger Euthanasie”

      Das ist wieder Ihr cetero censeo, eine unreflektierte und unappetitliche Gleichsetzung von Dingen, die nicht gleichzusetzen sind.

      “willst Du vermutlich genauso wenig wissen wie von Konkretem der Nachkriegskarriere Trübs in Köln”

      Geht es nie ohne persönliche Herabwürdigung? Nochmal: Ich wollte keine Biografie über Paul Trüb schreiben. Dass er nach dem Krieg ungebrochen weiter Karriere gemacht hat, ist bekannt.

      “der heutige Bezug zu experimenteller Medizin scheint Dich zu stören”

      Nein, nur die Gleichsetzung von Sachverhalten, die man nicht gleichsetzen darf, stört mich. Ansonsten setze ich mich mit dem Thema immer wieder auseinander, auch unter dem Aspekt der Überwältigung der Individuen aus kollektiven Interessen heraus. Siehe z.B. den Leitbegriff zu Ethik in der Prävention oder auch die diversen Blogbeiträge dazu hier.

      “Falls Du diese Zeile hier durchlassen könntest, dieser Text von Claudia Spring von 2009 wäre eine Empfehlung für Mitleser”

      Dieser Text ist bereits vor mehr als einem Jahr in einem Kommentar zum Blogbeitrag über Josef Stralau verlinkt worden. Mit Frau Spring hatte ich außerdem auch einen Mailaustausch zu Paul Trüb. Eventuelle handfeste Belege für Trübs Taten in Wien wären vor allem für eine umfassendere Aufarbeitung der Preisträgerliste hilfreich, das kann ich aber nicht leisten und das war, um es noch einmal zu wiederholen, nicht mein Ziel. Ich hatte auch die Gedenkstätte der Tötungsanstalt Hartheim kontaktiert, dort hat man keine Unterlagen zu Paul Trüb gefunden.

      “wie “Public Health” nach dem Zusammenbruch des Nazireichs wieder aufgebaut wurde”

      Erst einmal gar nicht. Sie bringen auch hier alles Mögliche durcheinander, die fortgesetzten Karrieren von Nazi-Medizinern, das lange Schweigen der Ärzteschaft und das Thema Public Health in Deutschland nach dem Krieg. Das mag für Sie irgendwie alles eins sein, aber nur Nachts sind alle Katzen grau.

  6. #9 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    20. Dezember 2024

    Lieber Joseph

    Wir werden ja nicht zusammen kommen. Trotzdem möchte ich Dir den Hinweis auf heutige Formen der Euthanasie nicht vorenthalten:

    https://www.canada.ca/en/health-canada/services/health-services-benefits/medical-assistance-dying.html

    Aus der List of Recommendations des AMAD Committee des kanadischen Parlaments:

    «That the Government of Canada undertake consultations with minors on the topic of MAID, including minors with terminal illnesses, minors with disabilities, minors in the child welfare system and Indigenous minors, within five years of the tabling of this report.

    That the Government of Canada amend the eligibility criteria for MAID set out in the Criminal Code to include minors deemed to have the requisite decision-making capacity upon assessment.

    Übersetzung:

    Die kanadische Regierung sollte innerhalb von fünf Jahren nach Vorlage dieses Berichts Konsultationen mit Minderjährigen zum Thema MAID-Euthanasieprogramm durchführen, einschließlich Minderjähriger mit unheilbaren Krankheiten, Minderjähriger mit Behinderungen, Minderjähriger im Kinderfürsorgesystem und indigener Minderjähriger.

    Die kanadische Regierung sollte die im Strafgesetzbuch festgelegten Kriterien für die Inanspruchnahme des MAID-Programmes dahingehend ändern, dass auch Minderjährige einbezogen werden, bei denen nach einer Prüfung davon ausgegangen wird, dass sie über die erforderliche Entscheidungsfähigkeit verfügen.»

    • #10 Joseph Kuhn
      20. Dezember 2024

      @ Volker Birk:

      Jetzt überlegen Sie doch selbst mal, wie gut diese Sachen zu parallelisieren sind:

      1. Geht es in Kanada um ein zwangsweises Screening von rassisch oder anderweitig als “lebensunwert” erklärten Lebens?
      2. Geht es um das massenhafte Töten von Menschen gegen deren Willen?
      3. Ist der Aufbau von Tötungsfabriken wie Hartheim geplant?
      4. Oder geht es eher um die schwierige Frage der Sterbehilfe bei Menschen, die sterben wollen?
      5. Wäre nicht eher die Zwangssterilisation von Indigenen in Kanada bis in die 1970er Jahre eine Parallele?

      Sie müssen mir auch nicht durch die Art Ihrer Rhetorik unterstellen, dass ich Menschenrechtsverletzungen in anderen Zusammenhängen gutheiße. Es ging ganz konkret darum, ob Paul Trüb noch als Vorbild für den ÖGD anzusehen ist. Deswegen schreibe ich hier nichts über den Völkermord in Ruanda, den Krieg in Gaza, Putins mörderisches Vorgehen in der Ukraine und viele andere Dinge, ohne dass ich deswegen davon “nichts wissen will”.

      Ich würde den kanadischen Weg bei der Sterbehilfe auch nicht als Vorbild für Deutschland sehen. Dort ist “Tötung auf Verlangen” erlaubt, das will in Deutschland niemand, zudem scheint der Zugang zur Palliativversorgung schwieriger als bei uns zu sein, aber ich habe mich damit nicht näher beschäftigt. Eine Regelung der Sterbehilfe in Deutschland wird ohne gute Suizidprävention und einen Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung ungute Tendenzen entfalten, ähnlich wie schon in der Schweiz.

      Das Thema Sterbehilfe haben wir im Blog übrigens auch schon angerissen, durchaus im Zusammenhang mit der Euthanasie, z.B. hier: Selbstbestimmung und Sterben.

  7. #11 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    20. Dezember 2024

    Lieber Joseph

    Zu 1.: Man könnte den Vorschlag, “Indigenous minors” beim Selbstmord zu “helfen”, “rassisch” nennen.

    Zu 2.: Sicher wollen Kinder von Sozialfällen oder Leute mit schweren Krankheiten gar nicht Leben. Zwar nennt man das in anderen Ländern als Kanada eine “Depression”, aber die wollen ja alle freiwillig sterben, nicht wahr?

    Zu 3.: Tötungsfabriken sind nicht geplant. Heute wird individuell getötet, z.B. mit ganz humanen Tötungsmaschinen wie der hier: https://www.augsburger-allgemeine.de/panorama/Sterbehilfe-Ex-Senator-will-Toetungsmaschine-einfuehren-id3557466.html In der Schweiz ist man da schon weiter, es sieht aus wie ein Sarg zum selber reinliegen.

    Zu 4.: kurz nochmal von oben wiederholt, weil Du es bestimmt überlesen hast, wem beim, äh, “Selbstmord” “geholfen” werden soll:

    «Die kanadische Regierung sollte innerhalb von fünf Jahren nach Vorlage dieses Berichts Konsultationen mit Minderjährigen zum Thema MAID-Euthanasieprogramm durchführen, einschließlich Minderjähriger mit unheilbaren Krankheiten, Minderjähriger mit Behinderungen, Minderjähriger im Kinderfürsorgesystem und indigener Minderjähriger.»

    Zu 5.: die Zwangssterilisation ist auch eine gute Parallele, das ist wohl wahr.

    • #12 Joseph Kuhn
      21. Dezember 2024

      @ Volker Birk:

      Ja natürlich habe ich das „bestimmt überlesen“. Sie sind wirklich eine Marke.

      Wenn Sie aber meinen, ich recherchiere jetzt für Sie, was es mit Ihrem Whataboutism mit den „indigenous minors“ auf sich hat, muss ich Sie enttäuschen. Wie wäre es, Sie klären selbst, wie die Formulierung in den Text kam, worum es konkret geht und ob damit wirklich gemeint ist, was Sie meinen.

      Sollte dem so sein, wäre das natürlich ein Skandal erster Ordnung. Aber weder würde ich das dann gutheißen, noch wäre es mit dem industrialisierten Massenmord der Nazis gleichzusetzen.

  8. #13 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    21. Dezember 2024

    Lieber Joseph

    Ich habe nicht gesagt, dass Du das gutheissen würdest. Im Gegenteil, ich dachte mir bereits, dass Du das ablehnst.

    Deshalb schreibe ich hier überhaupt noch – Deinetwegen.

    Und es geht nicht nur um indigene Kinder und Jugendliche, sondern auch um Sozialfälle, denen beim Selbstmord geholfen werden soll – genau wie behinderten Kindern.

    Wir sind auch nicht im “Whataboutismus” (der ja sowieso meistens nur ein Kampfbegriff und eine Ausrede darstellt in Diskussionen).

    Sondern ich mache Dich zum wiederholten Male darauf aufmerksam, dass sich die Ideologie wiederholt – sowohl beim Nationalsozialismus wie auch bei den technokratischen und globalistischen Oligarchen haben wir es mit Utiliaristen zu tun.

    • #14 Joseph Kuhn
      21. Dezember 2024

      @ Volker Birk:

      “es geht nicht nur um indigene Kinder und Jugendliche, sondern auch um Sozialfälle, denen beim Selbstmord geholfen werden soll”

      Wie gesagt, ob dem so ist und man in Kanada wirklich Kindern beim Sterben helfen will, nur weil sie arm sind oder indigen, oder ob Sie da etwas missverstanden haben, recherchieren Sie bitte selbst. Ich bin sicher, dass es dazu seriöse Hintergrundinformationen gibt.

      ““Whataboutismus” (der ja sowieso meistens nur ein Kampfbegriff und eine Ausrede darstellt”

      Siehe dazu “Vergleiche und Whataboutism”.

      “sowohl beim Nationalsozialismus wie auch bei den technokratischen und globalistischen Oligarchen haben wir es mit Utiliaristen zu tun”

      Nein. Der Nationalsozialismus war kein Utilitarismus, sein Ziel war nicht das Glück oder Wohlbefinden der größtmöglichen Zahl, ihm ging es um andere kollektivistische Normen. Vielleicht kann man den Kommunismus als Utilitarismus einordnen, aber ich habe darüber bisher nicht nachgedacht und nichts dazu gelesen.

      Richtig ist, dass Nationalsozialismus und Utilitarismus kollektivistisch denken und das Kollektiv höher werten als das Individuum. Deswegen beginnt das Grundgesetz in Deutschland mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde, als verfassungsrechtlich kodifizierter Schranke staatlicher Verfügung über das Individuum.

      An dieser Norm kann man ansetzen, wenn Public Health oder auch utilitaristische Ansätze der Gesundheitsökonomie die Lehren aus Nationalsozialismus zu sehr zu vergessen drohen. Deswegen hatte ich Ihnen den Leitbegriff zur Ethik in der Prävention verlinkt. Aus diesem Grund wäre beispielsweise aus meiner Sicht eine Corona-Impfpflicht für Kinder allein mit der Begründung, die alten Menschen zu schützen, verfassungswidrig gewesen, weil man damit die Kinder verdinglicht und auf ein Mittel zum Zweck reduziert hätte. Das lässt Art. 1 GG nicht zu. Meine Bewertung wie gesagt, ich bin kein Jurist.

      All das ändert nichts daran, dass Regelungen zur Sterbehilfe, trotz aller Gefahr sozialer Determinanten des Sterbewunsches, nicht mit dem zwangsweisen Selektieren und dem fabrikmäßigen Töten angeblich “lebensunwerten Lebens” gegen den Willen der Betroffenen gleichzusetzen sind. Das ist unanständig und verharmlost die Massenmorde im Nationalsozialismus.

  9. #15 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    22. Dezember 2024

    Lieber Joseph

    Im Historischen Wörterbuch der Philosophie kann man nachlesen:

    “«„Wichtige Unterschiede in den Spielarten des U. ergeben sich in bezug auf die Frage der Bilanzierung des Nutzens: Geht es um Maximierung des Gesamtnutzens («total-view») oder des Durchschnittsnutzens («averageview»)?”

    Insofern geht es in der Argumentation der Nationalsozialisten mit dem “gesunden Volkskörper” und der “Volksgesundheit” um das (im Kollektivismus übliche) Stellen des Gesamtnutzens über den Einzelnen.

    Wenn mein Grossonkel sich in einem seiner Gedichte freute “alles Alte und Kranke wird jetzt verbrannt”, dann drückte er damit aus, wie sehr das (seiner ideologisch verdrehten) Ansicht nach dem vermeintlichen Gesamtnutzen dienlich sein sollte. Insofern stehen die Nationalsozialisten im Kontext des Utiliarismus.

    Zurück zum heutigen Kanada: Kinder von Sozialfällen, unerwünschte indigene Kinder und behinderten Kindern einen Selbstmord zu “empfehlen”, ist natürlich noch etwas anderes, als sie gleich zu ermorden. Jedoch ist es in der Wirkung für den Teil der Kinder, die eine Depression erleiden, nicht unähnlich: sie werden vom Staat getötet.

    Im übrigen verharmlost man nicht den Nationalsozialismus, wenn man heutige Formen des Kollektivismus und Korporativismus kritisch betrachtet. Im Gegenteil, wenn man aus dem ersten Zeitalter des Faschismus im 20. Jahrhundert etwas lernen sollte, dann neue Formen des Faschismus wie den heutigen totalitären Korporativismus mit Argusaugen zu beobachten, nun um die Gefahr wissend.

    • #16 Joseph Kuhn
      22. Dezember 2024

      @ Volker Birk:

      “Insofern geht es in der Argumentation der Nationalsozialisten mit dem “gesunden Volkskörper” und der “Volksgesundheit” um das (im Kollektivismus übliche) Stellen des Gesamtnutzens über den Einzelnen.”

      Nein, es geht um kollektivistisches (bzw. ideologisches) Denken, aber nicht um einen Gesamtnutzen im Sinne des Utilitarismus. Der “gesunde Volkskörper” der Nazis ist kein utilitaristisches Konzept. Sie sollten den Nazis nicht im Nachhinein gute Absichten andichten.

      Ihr Zitat aus dem Wörterbuch hat im Übrigens mit dem springenden Punkt, was als “Nutzen” im Sinne des Utilitarismus gelten kann, gar nichts zu tun, sondern hebt auf Verteilungsaspekte eines Nutzens ab.

      “dem vermeintlichen Gesamtnutzen dienlich”

      Das trifft es eher. Sozusagen eine Utitilarismus-Illusion.

      “Insofern stehen die Nationalsozialisten im Kontext des Utiliarismus.”

      Nein. Da werden wieder alle kollektivistischen (bzw. ideologischen) Katzen grau.

      Noch einmal: Den Nazis ging es nicht um das Glück der größtmöglichen Zahl, sondern um die Reinheit der Rasse, die Dominanz der arischen Rasse, das Ausmerzen aller Schwachen usw. – ihre Moral des “Gattungsbruchs” (Rolf Zimmermann) könnte man mit guten Gründen auch als anti-utilitaristisch bezeichnen.

      “Kinder, die eine Depression erleiden (…) werden vom Staat getötet”

      Das stimmt nicht. Auch in Kanada wird niemand wegen einer Depression getötet, man wird nur nicht von der Antragstellung auf Sterbehilfe ausgeschlossen, wenn man psychisch krank ist; zudem wird dort auch niemand “vom Staat” getötet.

      Es gibt doch genug berechtigte Kritikpunkte an den Regelungen zur Sterbehilfe in Kanada, falsche Vorwürfe verwirren nur die Diskussion.

      “Im übrigen verharmlost man nicht den Nationalsozialismus, wenn man heutige Formen des Kollektivismus und Korporativismus kritisch betrachtet.”

      Das hat auch niemand behauptet. Sie sind intelligent genug, um zu verstehen, was ich an Ihren Aussagen kritisiert habe …

      “neue Formen des Faschismus wie den heutigen totalitären Korporativismus”

  10. #17 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    26. Dezember 2024

    Lieber Joseph

    Let’s agree to disagree. Deshalb nur noch eines:

    Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Die allermeisten Menschen sind keine Zyniker. Sie glauben, das Richtige zu tun.

    Schöne Festtage!

    • #18 Joseph Kuhn
      26. Dezember 2024

      @ Volker Birk:

      “Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.”

      Das ist auf jeden Fall richtig. Das ist ein Menetekel, das sich auch der Utilitarismus zu Herzen nehmen muss (Stichwort Coby Howard), so wie jede Orientierung an überindividuellen Zielen (Gott, Menschheit, öffentliches Interesse usw.), und natürlich haben auch manche Anhänger des Ver-Führers geglaubt, das Richtige zu tun. Insofern: Let’s agree to agree in some points 😉