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Darüber, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse tiefgreifend und in einem hohem Tempo ändern, besteht vermutlich weitgehend Konsens. Man kommt gar nicht mehr hinterher, das eigene Leben auf die immer neuen Veränderungen auszurichten, sich zu positionieren. Unternehmen würden von fehlender Planungssicherheit sprechen, und in der Tat mussten in den letzten Jahren auch sie, nicht nur wir Lebensunternehmer, stets flexibel sein. Der „flexible Mensch“ ist zum alltäglichen Rollenmuster geworden, sofern man es in dieser etwas paradoxen Form ausdrücken will.

Kein Wunder, dass Soziologen früher oder später eine „Veränderungserschöpfung“ diagnostiziert haben. Es geht alles zu schnell, man kommt nicht mehr zur Ruhe, kann sein Leben nicht mehr vernünftig organisieren. Morgen ist schon wieder alles anders.

„Veränderungserschöpfung“ war gestern. Jetzt haben wir, alles ist auch da schon wieder anders, eine ausgesprochene Disruptionslust. Es heißt, die Menschen hätten sich bequem eingerichtet, alles sei unendlich verkrustet, Innovationen kämen nicht voran, es dauere alles zu lange. So wie bisher könne es nicht weitergehen, es müsse sich grundsätzlich etwas ändern, wir bräuchten ein bisschen mehr Musk und Milei.

Was nun? Veränderungserschöpfung oder Disruptionslust? Hat sich auch unser Mindset einfach verändert? Oder fühlen die einen so, die anderen so? Oder ist das gar kein Widerspruch, sind das vielleicht nur zwei Seiten der gleichen Medaille? Wird Disruption attrativ, gerade weil uns die permanenten Veränderungen überfordern? Tabula rasa, der eine, große befreiende Schlag gegen das ewige Einbisschenanders, zumal wenn man es nicht mehr als kontinuierlichen Verbesserungsprozess erfährt, sondern nur noch als Hamsterrad des Schonwiederanders bei unveränderter Problemlage? Oder ist „Disruption“, man kennt ja die Verführungskraft symbolischer Politik, gar nur ein neues Chiffre für Weiter-so, weil man an den hohen Mieten, der Pflegemisere oder der maroden Bahn überhaupt nichts ändern will und es, umgekehrte Feuerbachthese, nur darauf ankommt, die Welt anders zu interpretieren, aber nicht zu verändern?

Kommentare (7)

  1. #1 DH
    28. Januar 2025

    Vor allem soll die Disruption immer nur für andere gelten, nicht für diejenigen die sie fordern.
    Dennoch ein interessanter Begriff weil er eine Radikalisierung des Bisherigen darstellt.
    So etwas kommt immer dann auffällig häufig vor wenn (Sub-)Systeme ans Ende ihrer Herrschaft gelangen.

  2. #2 hto
    29. Januar 2025

    Veränderungserschöpfung ist eine der wettbewerbsbedingten Konfusion entsprechende Eselei, denn Mensch könnte, wenn Mensch seine Vernunftbegabung fusionieren würde, sogar die Schwerkraft der Erde für Kurskorrekturen bestimmen.

    • #3 Joseph Kuhn
      29. Januar 2025

      Das ist neu, das schalte ich frei. Die meisten kriegen mit der ganzen versammelten Kraft ihrer Vernunft nicht mal besseres Wetter hin. Bei den tibetanischen Mönchen weiß man es nicht so genau. Beim gottähnlichen Trump auch nicht.

  3. #4 hto
    29. Januar 2025

    Ach das ist doch nicht neu. Ich behaupte, die Aborigines haben, in ihrer Traumzeit, wahrscheinlich mehr als eine Ahnung davon erhalten.

    • #5 Joseph Kuhn
      29. Januar 2025

      Tja, die Aborigines in der Taumzeit, was die alles konnten. Aber ob das bei finem temporis populo in unserer aktuellen Albtraumzeit auch ginge?

  4. #6 Soisses
    29. Januar 2025

    Ich bin für Veränderungslust, und die lässt sich wirklich stärken! Ich halte es mit Rio Reiser (“Wann”): Man kann die Welt gar nicht NICHT ändern, also sollte man gut wählen, wie man es anstellt. Und dann nicht zögern, es auch zu tun. Die ja doch in Gang kommende Energie- und Solarwende ist ein Beispiel dafür. Würde sich doch eine Wärme- und Verkehrswende auch so entwickeln! Das Management von Wasser und Abwasser! Sehr viele Dinge sind hinreichend erforscht, brauchen keineswegs mehr irgendein Pilotprojekt. Guckt in euren Geldbeutel, dämmt Eure Dächer …

  5. #7 hto
    wo ...
    29. Januar 2025

    @Soisses: “Guckt in euren Geldbeutel, dämmt Eure Dächer …”

    Guckt lieber NICHT in euren Geldbeutel, denn der Dachschaden lässt sich nur OHNE “Wer soll das bezahlen?” in hilfreiches Gemeinwohl ohne Sorgen auflösen, wenn ich König von Deutschland wär, bräuchte keiner Steuern zahlen, denn Steuern zahlen ist …!?

    Ich bin absolut auch für Veränderungslust.