In der Süddeutschen Zeitung hat Sebastian Herrmann vor ein paar Tagen eine neue Studie von Granulo et al. vorgestellt. Armin Granulo arbeitet an der TU München am Lehrstuhl für Marketing, seine Koautoren Christoph Fuchs und Robert Böhm an der Uni Wien.

Die Studie zeigt, dass Menschen neue Verhaltensregeln zunächst als Einschränkung ihrer Freiheit wahrnehmen, dann die Vorteile sehen und doch akzeptieren. Beispiele sind etwa der Sicherheitsgurt oder die Rauchverbote. Die Autoren weisen darauf hin, dass man dies nutzen könne, indem man zu Beginn mehr den gesellschaftlichen Nutzen der Maßnahmen betont. Armin Granulo zieht das Fazit:

„Wer sich der psychologischen Mechanismen bewusst ist, kann die Reaktionen vieler Menschen, den Verlauf der Debatten und die Erfolgsaussichten von Gesetzen besser beurteilen und danach handeln.“

Es geht also um „psychologische Mechanismen“, d.h. um etwas hinter dem Rücken der betroffenen Subjekte und diese Mechanismen kann derjenige nutzen, der sich dessen bewusst ist. Das scheinen nicht die Betroffenen zu sein, sondern die, die Regeln erlassen und durchsetzen wollen. Die Autoren schreiben, „we provide causal evidence“, also hartes Faktenwissen darüber, wie Menschen funktionieren, aber eben nur die den Regeln ausgesetzten Menschen, nicht die Regelsetzer. Ob hier nicht eine sozialtechnologische Manipulationsstrategie propagiert wird. Vielleicht ist das das Wesen des Marketings, aber ist das gute Psychologie?

Und was bedeutet das für die Politik? Bei der Einführung des achtjährigen Gymnasiums in Bayern mit dem Schuljahr 2004/2005 gab es zunächst auch Kritik bei den Eltern, dann Akzeptanz und 2017 wurde die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium beschlossen. Psychologisch gesehen alles gut gelaufen?

Versucht man, die Einführung neuer Regeln aus der Sicht der betroffenen Menschen zu denken, leuchtet ein, dass wahrgenommene Einschränkungen der Freiheit zunächst Ablehnung motivieren und später erfahrener Nutzen dazu beiträgt, die Regeln anders zu bewerten. So weit so gut. Aber ist das wirklich unabhängig vom Inhalt der Regeln, wie die Autoren meinen? Gibt es keinen Unterschied zwischen der Gurtpflicht und – Extrembeispiel – der bei den Nazis geltenden Vorschrift, Juden an die Gestapo zu melden?

Wenn dem so wäre, wäre das nicht hochgradig alarmierend, weil es bedeuten würde, dass sich die normalen Menschen zumindest nicht ohne Weiteres der „psychologischen Mechanismen“, denen sie folgen, bewusst werden können, diese Mechanismen aber für beliebige Zwecke eingesetzt werden können? Und müsste man dann nicht an der Stelle fragen, was dazu beiträgt, dass sich die Menschen Gedanken über die konkreten Inhalte der Regeln machen, den blinden „Mechanismus“ der Reflexion und dem bewussten Handeln verfügbar zu machen, statt als „Mechanismus“ den politischen Planern anheimzustellen?

Am Ende des Artikels schreiben die Autoren:

„our findings highlight the complex nature of public reactions to system-level policies aimed at achieving socially desirable outcomes.“

Mir scheint, die Studie unterläuft eher die komplexe Natur menschlicher Reaktionen und sie verdeutlicht vielmehr, dass der Gegensatz zwischen demokratischem und potentiell autokratischem Denken manchmal auch in scheinbar nur „interessanten“ psychologischen Studien relevant wird. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob man Menschen mit „psychologischen Mechanismen“ zum vermeintlich gesellschaftlich nützlichen Verhalten bringen oder sie zur informierten Entscheidung befähigen will, wem man also das Heft des Handelns in die Hand gibt. Das gilt auch, wenn es um das Gute im Interesse aller geht.

Kommentare (6)

  1. #1 BPR
    16. Mai 2025

    Nicht alle unsere Entscheidungen sind reflektiert. Für unser evolutionäres Überleben und im heutigen Alltag sind begrenzt rationale oder “frugale” Entscheidungen wichtig, wie u.a. Gigerenzer uns erklärt.
    “Making the healthy choice the easy choice” ist eine verhaltensökonomisch begründete (nudge) Empfehlung in der Prävention.

    Granulo et al. wechseln in ihrem Ansatz das Referenzszenario. Von Kahneman et al. wissen wir, dass Verluste intensiver bewertet werden als Gewinne. Was im Kontext ex ante als Verlust erscheint und (daher) abgelehnt wird, wird im Kontext ex post (dem neuen Status quo) neu bewertet. Dann liegt der Verlust woanders, eventuell bei einer erneuten Veränderung. Also entscheiden die Menschen neu.
    Opportunismus würde ich das nicht nennen, denn beide Entscheidungen können im jeweiligen Kontext stimmig sein. Geändert hat sich nicht der Mensch, sondern der Kontext.

    • #2 Joseph Kuhn
      16. Mai 2025

      @ BPR:

      So ist es. Heuristiken, wie sie die Verhaltensökonomie bücherweise aufzeigt und experimentell untersetzt, sind im Alltag wichtig. Manche werden evolutionär angelegt sein, manche durch gesellschaftliche Denkmuster, manche durch individuelle Erfahrungen …

      Den Hinweis auf die Verlustaversion sowie geänderte Kontexte als Elemente bei der zeitlichen Veränderung der Bewertung von Regeln ist interessant. Die Autoren diskutieren das in ihrem Artikel nicht, falls ich es beim Überfliegen des Textes nicht übersehen habe.

      Ergänzend dazu ein Passus aus einem Artikel im aktuellen Themenheft Sozialpsychologie des “Forum Kritische Psychologie NF”, der ähnlich meines Blogbeitrags auf implizite Dienstbarkeiten von Begriffen abhebt, eine Etage über unmittelbar empirischen Zusammenhängen:

      “Im Einstellungsbegriff verdichtet sich so eine Demokratievorstellung, aus der die sachliche Urteilsfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder faktisch eliminiert ist. Diese Auffassung konvergiert mit der Flemings (1967), der in seinen Überlegungen zur Genese der Vokabel attitude zu dem Ergebnis kommt, die Entstehung des Einstellungskonzept habe einem „historical need“ entsprochen, „the incorporation of the masses into public affairs“ mit einem Terminus zu belegen, der – „neutral and uninvidious in tone“ – ihnen gleichzeitig die Kompetenz dazu faktisch abspreche (358). Insofern kann Einstellung als zeitgemäßer Terminus einer zeitgemäßen Massenpsychologie gelten, deren Ziel die demokratieförmige Aufrechterhaltung der Kontrolle über die Gesellschaftsmitglieder ist.“

      (Markard M: “Einstellung” – eine kategorial-analytische Kritik, FKP NF 6, 2025, S. 37f.)

  2. #3 Staphylococcus rex
    16. Mai 2025

    “Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit” (Engels im Anti-Dühring über Hegel). Natürlich ist und bleibt jede Regel eine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Eine Einschränkung der persönlichen Freiheit ist aber nicht gleichbedeutend mit gefühlter Unfreiheit. Der entscheidende Unterschied ist die Akzeptanz der Regel und der damit verbundenen Einschränkungen.

    Beim Sicherheitsgurt sollte die Akzeptanz einfach sein, weil die Einhaltung der Regel persönliche Vorteile (beim Überleben nach Verkehrsunfall) bringt. Hier muss “nur” die evidente Faktenlage bis zum Bewusstsein des Anwenders vordringen.

    Beim 8- oder 9-jährigen Gymnasium werde ich nichts weiter sagen, da ich beides für grundlegend falsch halte und dies den Rahmen dieser Diskussion sprengen würde.

    Beim Versuch, Menschen als Blockwart und Handlanger eines rechtsextremen Regimes zu instrumentalisieren möchte ich auf den Umstand hinweisen, dass für eine Akzeptanz auch die moralisch-ethischen Grundwerte eine Rolle spielen. Bei einer Indoktrinierung von Kindesbeinen an ist es schwierig eine humanistische Weltanschauung aufzubauen, ein Erwachsener ist fähig zu Ausübung eines freien Willens und trägt Verantwortung für seine Entscheidungen.

    Deshalb zur Frage, ob die Akzeptanz einer Regel vom Inhalt abhängt, ein ganz klares Ja. Für die Akzeptanz bestimmter Regeln ist eine passende Weltanschauung eine notwendige Voraussetzung.

  3. #4 Staphylococcus rex
    19. Mai 2025

    Schade dass die Diskussion zu diesem interessanten Thema so früh abgestorben ist. Prinzipiell sind die Aussagen zu den psychologischen Effekten bei einschränkenden Regeln richtig. Aber es gibt auch ein paar wichtige Einschränkungen.

    Ein weiteres Beispiel sind das Verhalten der Querdenker zu den Regeln Maskentragen und Impfungen während der Coronapandemie.. Diese Regeln sind rational begründbar, leider muss man hier aber auch ganz klar sagen: Ideologie schlägt Verstand.

    Bei der Frage moralisch-ethische Grundwerte würde ich folgendes ergänzen: Diese Grundwerte, wenn sie wirklich verinnerlicht sind und Teil der Grundüberzeugungen sind, sind nicht korrumpierbar. Wenn dagegen diese moralisch-ethischen Werte lediglich anerzogen sind und aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung befolgt werden (“man tut so etwas nicht”), dann sind diese Werte manipulierbar. Am einfachsten geht dies, wenn man sagt, die Regeln gelten für diesen speziellen Fall nicht. Aus diesem Grund mußte man den Juden erst ihr Menschsein absprechen, bevor man sie vernichten konnte. Aus diesem Grund muss man Flüchtlinge erst als feindliche Kämpfer ihrer Schutzrechte berauben, bevor man sie ohne Gerichtsurteil in Gefängnisse nach Mittelamerika abschieben kann.

    Diese psychologischen Tricks zur Aushebelung moralischer Bedenken sind bekannt und werden benutzt, aber sie erfordern bei den Zielpersonen tiefsitzende Vorurteile und die Bereitschaft, aktiv am Selbstbetrug mitzuwirken.

  4. #5 noch'n Flo
    Schoggiland
    20. Mai 2025

    @ Staphylococcus rex:

    Ideologie schlägt Verstand

    Genau das wird, in umgekehrter Form, heutzutage mehr und mehr zum Problem. Immer häufiger erleben wir, vor allem im Internet, dass sich zwei Parteien gegenseitig ideologisches Denken vorwerfen, während sie den Verstand für sich selber reklamieren.

    Gut zu beobachten derzeit vor allem (aber nicht nur) in den USA, wo Donald Trump, der sich ja offenkundig immer noch für ein “stabiles Genie” hält, alles, was ihm nicht passt, pauschal als “Ideologie” bezeichnet.

    • #6 Joseph Kuhn
      20. Mai 2025

      … eine Konstellation, die schon Karl Mannheim in “Ideologie und Utopie” (1929) Sorgen bereitet hat. Manches kommt wieder. Hoffentlich nicht alles.