Klimastatistik
Friedrich Merz neigt auch im Kanzleramt noch immer zu steilen Thesen. Vor kurzem hatte er eine absurde Rechnung zur Rolle Deutschlands bei der Bekämpfung des Klimawandels aufgemacht: Weil Deutschland nur 2 % der Treibhausgase weltweit beisteuere, würde es, selbst wenn wir morgen gar nichts mehr emittieren, am Lauf der Dinge nichts ändern. Eine Argumentation, die man identisch anbringen könnte, wenn es um den Beitrag der eigenen Stimme zum Wahlergebnis bei Bundestagswahlen geht oder um den Beitrag der eigenen Steuer zum Steueraufkommen des Landes. Trittbrettfahrer beim Impfschutz argumentieren übrigens auch so, vom Impfen könnte er also auch noch abraten, auf eine Impfung mehr oder weniger kommt es bei der Impfquote der Bevölkerung schließlich wirklich nicht an.
Man kann darauf nur eines sagen: Was, wenn alle so denken? Davon, dass nicht alle so denken, hängen Wahlergebnisse, Steuern, Impfschutz und eben auch der Klimaschutz ab. Gemeinschaftliche Erfolge erzielt man oft nicht durch individuellen Egoismus, auch wenn schlichte wirtschaftsliberale Geister das Wirken der unsichtbaren Hand des Marktes gerne so verstehen: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Ob Merz je von spieltheoretischen Szenarien wie der „Tragik der Allmende“ gehört hat? Vermutlich ja. Gehört und gleich verdrängt, bevor man noch ins Nachdenken kommt.
Sozialversicherung
Jetzt hat er sich zu einem anderen Aspekt des Zusammenspiels von Solidarität individuellem Vorteil geäußert, dem dualen Krankenversicherungssystem. Kurz zur Erinnerung: In Deutschland sind ca. 90 % der Bevölkerung in der GKV, ca. 10 % in der PKV. Die Hälfte der PKV-Versicherten sind Beamte, denen die Beihilfe bei den Prämien zur Seite steht, die vor allem im Alter ziemlich hoch werden können. Privat Versicherte sind im Durchschnitt wohlhabender als GKV-Versicherte, und dem Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit folgend, auch gesünder. Manche Hochrisikogruppen wie Bürgergeldempfänger sind ganz überwiegend in der GKV – für die wenigen in der PKV nimmt die PKV für sich in Anspruch, besonders solidarisch zu sein. Ansonsten verweist sie gerne auf die Ärzte, die von ihr profitieren.
Ein Nebeneinander von gesetzlicher und privater Vollversicherung mit der damit verbundenen Risikoselektion gibt es in Europa sonst nicht und auf der Welt nur als seltenste Rarität. Das PKV-System gilt auch nicht als besonderes effizient, die Verwaltungskosten sind, auch wenn man sie nicht gut beziffern kann, vermutlich höher als in der GKV.
Sozialversicherungsstatistik
Das Ärzteblatt berichtet jetzt davon, was Friedrich Merz letzten Freitag in der Bundespressekonferenz zum dualen Versicherungssystem gesagt hat:
„Wenn man sich die Beitragszahlen genauer ansehe, würde man erkennen, dass Menschen, die privatkrankenversichert seien, „einen weit überproportionalen Beitrag für das System leisten“, sagte Merz. „Wenn Sie den Mercedes verbieten, wird der Golf teurer“, prognostizierte er die Folge einer möglichen Zusammenlegung beider Versicherungen.
„Das kann man machen. Nur zu glauben, dass nur die einfache Lösung darin besteht, mal eben die Zahl der Beitragszahler zu erhöhen, ist ein gewaltiger Irrtum“, so der Kanzler. Beitragsbemessungsgrenzen anzuheben oder Teile der Versicherung nicht mehr zu erlauben, würden kein einziges Problem beseitigen, erklärte er.“
Das hat er „erklärt“, aber nicht im Sinne von Erklären, warum es so sein soll, sondern im Sinne von Erklären als Behaupten, dass es so sei.
Zunächst zum „weit überproportionalen Beitrag“ der PKV für das System: Im Jahr 2023 lagen die bundesweiten Ausgaben für die Kranken- und Pflegeversicherung der Gesundheitsausgabenrechnung des Statistischen Bundesamtes zufolge bei ca. 378 Mrd. Euro. Auf die PKV entfielen ca. 40,9 Mrd. Euro, ein Anteil von 10,8 %. Im gleichen Jahr waren ca. 74,3 Mio. Menschen gesetzlich versichert, ca. 8,7 Mio. privat, oder ca. 10,5 % der Gesamtversichertenzahl. Ob 10,8 % gegenüber 10,5 % nun „weit überproportional“ sind oder nicht, darf jeder selbst entscheiden. Wer in absoluten Eurosummen rechnet, wird vielleicht etwas mehr Sympathie für die Rechenkünste von Merz aufbringen können.
Weiter: Wenn die privat Versicherten das aktuelle Prämienaufkommen in die GKV einbringen würden, oder gar einkommensabhängige Beiträge zahlen würden, warum würde das System dann teuer? Wenn man einen Liter Wasser in ein 5-Liter-Becken kippt, wird es dann weniger? Verlieren würden die Arztpraxen, die sich gegenwärtig stark durch PKV-Versicherte finanzieren, weil dann nicht mehr wenige privat Versicherte im Krankheitsfall viel Geld mitbringen würden, sondern viele gesetzlich Versicherte etwas mehr. Um beim Gießkannenbild zu bleiben: Wenn das Wasser der 1-Liter-Kanne bisher für die besonders schönen Blumen reserviert war und die neue große Kanne gleichmäßig auf alle Blumen verteilt wird, werden die besonders schönen Blumen wohl etwas weniger bekommen.
Aber warum sollte das System insgesamt verlieren? Weil, wenn man den Mercedes verbietet, der Golf teurer wird, so Merz. Das ist die in Autometaphern übersetzte Trickle-Down-Theorie. Geht es den Reichen gut, fallen auch Brosamen für den anderen ab. Unter den Reichen und ihren politischen Freunden ist der Glaube an diese Theorie weit verbreitet, und vor allem möchten sie, dass die weniger Begüterten daran glauben. Die Wissenschaft ist skeptisch, was an dieser Idee wirklich dran ist, und im Fall der Versicherungssysteme versteht man gar nicht, wie das gehen soll.
Ganz besonders merkwürdig ist das duale Versicherungssystem in der Pflege – da sind die Leistungen gleich, nur die Einnahmen infolge der Risikoselektion nicht. Mercedes und Golfklasse halt.
2020 hatte die Bertelsmann-Stiftung noch einmal eine Analyse in Auftrag gegeben, was es denn für die Finanzierung der Krankenversicherung bedeuten würde, wenn man eine Bürgerversicherung einführt. Das Ergebnis war, wie schon bei einer ganzen Reihe von früheren Untersuchungen: Der allgemeine Beitragssatz könnte etwas sinken, wenn auch nicht viel. Kombiniert mit einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze kommt etwas mehr in die Kassen, von bis zu 3 Prozentpunkten ist die Rede.
Dass die Einführung einer Bürgerversicherung rechtlich nicht einfach ist, etwa mit Blick auf das Eigentum an den Altersrückstellungen, ist unstrittig. Schrittweise umzusetzen, wäre sie aber, z.B. indem neue Beamte nicht mehr über das Beihilfesystem in die PKV geführt werden, manche Bundesländer bieten solche Modelle bereits an. Vielleicht könnte man auch einen Risikostrukturausgleich zwischen PKV und GKV entwickeln, idealerweise unter Berücksichtigung aller Einkommen. Aber dann würden am Ende alle Toyota fahren, und das geht eben nicht.



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