Die Renten
Im Jahr 2024 gab die Deutsche Rentenversicherung ca. 380 Mrd. Euro aus. Die Ausgaben werden in erheblichem Umfang durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt gestützt und stellen im Bundeshaushalt inzwischen einen der größten Ausgabeposten dar. Durch den demografischen Wandel nimmt zudem seit Jahren das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentnern ab. 1960 kamen sechs Beitragszahler auf einen Rentner, heute sind es nur noch zwei. Die Beiträge drohen dadurch weiter zu steigen. Zugleich nimmt die Öffentlichkeit die deutlichen Unterschiede zwischen Rentnern und Pensionären kritisch auf, oft wird eine Verbreiterung der Einnahmebasis durch Einbeziehung der Beamten gefordert. Dies umschreibt in aller Kürze die aktuelle Rentenreformdebatte – im Grunde wie auch alle früheren Rentenreformdebatten.
Ein Vorschlag: Boomer-Soli und Pflichtjahr
Diese Tage war im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Titel des Interviews: „Die Babyboomer müssen endlich Verantwortung für ihr Handeln übernehmen“, eine Paraphrase einer Äußerung Fratzschers im Interview.
In dem Interview geht es u.a. um zwei Vorschläge Fratzschers zur aktuellen Sozialstaatsdebatte in seinem neuen Buch „Nach uns die Zukunft“: den „Boomer-Soli“ und das „Pflichtjahr für Ältere“. Beide Vorschläge haben viel Kritik provoziert. Beim Boomer-Soli geht es darum, die Probleme der Rentenfinanzierung durch eine Umverteilung innerhalb der Gruppe der Älteren, Rentner wie Pensionäre, anzugehen. Ab einem Einkommen von gut 1.000 Euro sollen die Älteren an einem Umverteilungssystem teilnehmen, um kleine Alterseinkommen zu stützen. Beim Pflichtjahr für Ältere sollen Ältere ein Jahr soziale Dienste leisten, hier weiß man nicht genau, welches Problem damit konkret gelöst werden soll. Fratzscher hat dazu zu verschiedenen Gelegenheiten unterschiedliche Ziele genannt, von der Linderung von Engpässen in der Pflege oder der Verteidigung über ein „Signal der Solidarität“ bis hin zur gesellschaftlichen Teilhabe Älterer.
Beide Vorschläge sollen Druck von den jüngeren Jahrgängen nehmen, beide Vorschläge rücken in der sozialpolitischen Diskussion die Dimension Arm-Reich in den Hintergrund und betonen demgegenüber die Dimension Jung-Alt. Folgerichtig fordert er einen „neuen Generationenvertrag“ statt eines neuen Sozialvertrags. Das eröffnet vom Arrangement her Kompromissräume hin zu den wirtschaftsliberalen Reformvorschlägen, nach denen es keine Steuererhöhungen geben solle, sondern „mehr und länger gearbeitet“ werden müsse, mithin also Kompromissräume für die schwarz-rote Koalition. Ob dies das eigentliche Ziel Fratzschers war, ist unklar.
Offen ist auch, inwieweit diese Ideen rechtlich überhaupt umsetzbar sind. Ein Pflichtjahr wäre durch internationales Recht beispielsweise auf wenige Tätigkeitsbereiche eingegrenzt, ein Pflichtjahr auch für ältere Frauen würde sogar eine Grundgesetzänderung voraussetzen, und Rentenansprüche unterliegen dem Eigentumsschutz. Vom bürokratischen Aufwand eines Pflichtjahrs für Ältere ganz abgesehen.
Gesellschaftliche Entwicklung und Verantwortung
Hier soll aber ein anderer Punkt thematisiert werden: die im Titel des Interview formulierte Verantwortung der Boomer. Sie sollen „endlich Verantwortung für ihr Handeln übernehmen“. Im Interview sagt Marcel Fratzscher dann noch:
„Die Babyboomer sollen für ihre Entscheidungen geradestehen. Sie haben wenige Kinder bekommen, und die Arbeitszeit stieg kaum mit der Lebenserwartung.“
Ein Kind zu bekommen oder nicht, ist natürlich eine Entscheidung. Aber es ist keine Entscheidung im gesellschaftlich luftleeren Raum. Der jahrzehntelange Rückgang der Geburtenrate in Deutschland kann nicht einfach als Folge individuell zu verantwortender „Entscheidungen“ verstanden werden. Veränderungen der Geburtenrate sind ersichtlich massenstatistische Entwicklungen, die soziale und ökonomische Gründe haben. Dazu gehört beispielsweise die mit dem Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft einhergehende Auflösung tradierter Mehrgenerationenfamilien, ökonomisch insofern sinnvoll, dass die Beschäftigten zeitlich und räumlich flexibler sind. Ein weiterer Punkt ist etwa die Gleichberechtigung von Frauen auch in beruflicher Hinsicht. Beides hätte durch einen massiven Ausbau von Kinderbetreuungs- und Pflegeangeboten begleitet werden müssen. Das ist nicht geschehen, sicher keine Folge individueller Verantwortung der Boomer, und hat mit dazu beigetragen, dass weniger Kinder geboren wurden. Des Weiteren gab es in den letzten Jahrzehnten eine in vielen Studien dokumentierte Arbeitsverdichtung. Die Leistungsansprüche sind gestiegen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat auch darunter gelitten, gerade auch in den qualifizierten Berufen. Die „DINKS“ – Double income, no kids“ galten zeitweise, wie die abschätzig so genannte „kinderlose Karrierefrau“, die „Rabenmutter“, als Signaturen der neuen Arbeitswelt.
Wenn man solche säkularen Entwicklungen, die es in allen Industrieländern gab, im Nachhinein zu persönlich zu verantwortenden „Entscheidungen“ macht, ist das eine Individualisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, ähnlich wie der Vorwurf gegenüber Arbeitslosen, sie seien selbst schuld an ihrer Situation oder wollten eh nicht arbeiten. Medial ausbeutbare Fälle lassen sich stets finden, richtiger werden Umdeutungen gesellschaftlicher Verhältnisse in individuelle Entscheidungen dadurch allerdings nicht.
Generationenvertrag oder Sozialvertrag?
Inwieweit Marcel Fratzscher diese Umdeutung bewusst vornimmt, ist unklar. Die sozialpsychologische Funktion solcher Umdeutungen ist dagegen durchaus klar: Indem der Eindruck erweckt wird, es gehe darum, die Folgen für das eigene Handeln zu übernehmen, entsteht moralischer Druck, Zugriffe auf Lebenszeit und Geld zu akzeptieren. Für die Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen müsste man dagegen auch die Gesellschaft insgesamt in die Pflicht nehmen, z.B. die vermögenden Profiteure eines flexibilisierten Arbeitsmarkts, zumal, wenn man jahrelang auf deren Steuern für den Ausbau von Kitas und Pflegeangeboten verzichtet hat.
Der demografische Wandel mag einen neuen Generationenvertrag erforderlich machen, wie ihn Fratzscher fordert, aber das ganze Bild ist das nicht. Das ganze Bild wäre ein gesellschaftlicher Konsens für eine gerechte sozialökologische Transformation, ein neuer Sozialvertrag mit einem weitergehenden Lastenausgleich. Das scheint derzeit wenig Fürsprecher zu haben.



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