In den letzten Jahren hat das früher etwas verschlafene Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) eine rege wissenschaftliche Publikationstätigkeit entfaltet. Eine aktuelle Studie des BiB hat nun die Lebenserwartung in europäischen Grenzregionen untersucht. Im Hintergrund stand die Überlegung, zu schauen, wie sich die europäische Integration auf die Lebenserwartung der Grenzregionen gegenüber dem Kernland und gegenüber den angrenzenden Ländern auswirkt. Grenzen können erheblichen Einfluss auf die Lebenserwartung haben, wie beispielsweise die Entwicklung der Lebenserwartung in Nordostbayern im Gefolge der europäischen Teilung nach 1945 gezeigt hat. Bis heute hat sich Nordostbayern davon nicht vollständig erholt.

Einer der Befunde dieser Studie ist wenig schmeichelhaft für Deutschland: Dass Deutschland bei der Lebenserwartung im Vergleich mit den westeuropäischen Ländern nicht gut dasteht, ist bekannt. Aber nun hat das BiB herausgefunden, dass auch die Lebenserwartung in den Grenzregionen auf der deutschen Seite niedriger ist als in den Grenzregionen der westeuropäischen Nachbarn und dass dieser Unterschied zwischen 1995 und 2019 auch noch zugenommen hat (der Vergleich endet 2019, um Sondereffekte durch Corona auszuschließen). Mit anderen Worten: Bei der Lebenserwartung schlägt sich die europäische Integration in den deutschen Grenzregionen kaum nieder.

Besonders groß waren die Unterschiede der Lebenserwartung bei den Männern gegenüber der Schweiz, mit einer gut 2 Jahren niedrigeren Lebenserwartung auf der deutschen Seite. Bei den Frauen war die Differenz gegenüber Frankreich mit etwa 1,5 Jahren am größten.
Die Lebenserwartungsdifferenzen sind bei den Männern ausgeprägter als bei den Frauen, was auf sozioökonomische Einflüsse und Verhaltensfaktoren hindeutet. Dem BiB zufolge unterscheide sich zwar die Bevölkerung diesseits und jenseits der deutschen Grenzen von der sozioökonomischen Struktur her gar nicht so sehr, aber hier sind vielleicht doch relevante Einflussfaktoren unter dem Radar geblieben. Das BiB bringt das Gesundheitswesen als mögliche Ursache ins Spiel, aber auch das ist erst einmal nur eine Spekulation, ohne einen Nachweis konkreter Defizite des deutschen Gesundheitswesens gegenüber dem der westeuropäischen Nachbarn und ohne das Aufzeigen plausibler Wirkpfade.

Wie heißt es so schön: Further research is needed. In dem Fall ist die Forderung berechtigt. Die BiB-Studie zeigt einmal mehr, dass das Forschungsfeld regionaler Unterschiede der Sterblichkeit noch lange nicht ausgereizt ist – und noch weniger der Themenbereich „Geografie und Gesundheit“ insgesamt, zu dem übrigens gerade ein weiteres Schwerpunktheft des Bundesgesundheitsblatts erschienen ist.

Kommentare (6)

  1. #1 Ludger
    29. September 2025

    Die Idee, die Grenzregionen zu untersuchen ist ja ganz nett. Aber ist sie auch zielführend? Und wie gut sind Daten zur Lebenserwartung vergleichbar, wenn sie von Statistikämtern in unterschiedlichen Ländern erhoben wurden? Daraus eine Wertung abzuleiten (“We also observed overall negative trends for western German border regions compared with border regions in neighbouring countries and the Western European average.” aus dem verlinkten Artikel “Getting closer to each other?”), halte ich für gewagt. Und warum ist es wichtig, die Grenzregionen zu untersuchen? Vergleicht man dann Aachen mit Eupen oder Flensburg mit Klipleff (DK) oder Freilassing mit Salzburg? Wäre es vielleicht sinnvoller Aachen mit Lüttich zu vergleichen oder Hamburg mit Genua?
    Ich lobe mir da die Schlussfolgerung aus der anderen verlinkten Studie (von J. Kuhn1 , A. Zirngibl1 , M. Wildner1 , W. H. Caselmann2 , G. Kerscher2

    1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Bayern
    2Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz, Bayern):

    “Diskussion: Die diagnosespezifischen Ergebnisse deuten darauf hin, dass Verhaltensfaktoren im Zusammenhang mit den sozioökonomischen Faktoren eine Rolle spielen (ein weiteres Forschungsprojekt soll diese Fragen untersuchen)”.

    • #2 Joseph Kuhn
      29. September 2025

      @ Ludger:

      “Aber ist sie auch zielführend?”

      Zielführend in Bezug worauf? Wenn man wissen will, ob Grenzen an Einfluss auf die Lebensbedingungen verlieren, schon.

      “Und wie gut sind Daten zur Lebenserwartung vergleichbar, wenn sie von Statistikämtern in unterschiedlichen Ländern erhoben wurden?”

      Die Daten sind recht gut, bei der Zahl und dem Alter der Gestorbenen wüsste ich nicht, wie die unterschiedlich erfasst werden sollten, eine gewisse Ungleicheit könnte es bei den Bevölkerungszahlen geben.

      “Daraus eine Wertung abzuleiten (…), halte ich für gewagt.”

      Die Beschreibung der Datenlage ist nicht sonderlich gewagt, siehe oben. Unklar sind die Ursachen.

      “Und warum ist es wichtig, die Grenzregionen zu untersuchen?”

      Siehe oben: weil Grenzen mitunter einen starken Einfluss auf die Lebensbedingungen diesseits und jenseits der Grenze haben.

      “Ich lobe mir da die Schlussfolgerung aus der anderen verlinkten Studie”

      Danke, aber sie steht nicht in Widerspruch zur BiB-Studie, im Gegenteil.

  2. #3 Ludger
    30. September 2025

    Danke für die Antwort!
    zu 1. “zielführend”
    Wenn man Unterschiede zwischen z.B. Aachen und Eupen herausarbeiten will, ist die Studie vielleicht zielführend. Aber ist der Vergleich der Unterschiede in der Lebenserwartung relevant?
    zu 2. “Lebenserwartung”
    Damit meint man ja nicht das durchschnittliche Sterbealter. “Lebenserwartung” (“divergence patterns of life expectancy”) ist nach meinem Verständnis eine Prognose. Sind diese Abschätzungen einheitlich? Und was nützt es bei guter Datenlage, wenn man völlig verschiedene soziale Gruppen miteinander vergleicht und daraus wertende Schlüsse zieht?
    zu 3. “Lebensbedingungen”
    Als ich noch in Aachen gelebt habe, haben in der Gegend von Eupen (“Ostkantone” in Belgien) viele Flamen gewohnt, um an der Uniklinik Aachen ihre Facharztausbildung zu machen. In dem Grenzort Vaals (Niederlande) haben viele Menschen gewohnt, die in Aachen an der Universität (RWTH) gearbeitet haben. Das waren alles junge Leute, die nach einigen Jahren wieder umgezogen sind. Zu den Lebensbedingungen in dieser Grenzregion (Euregio) gibt es sicher interessante Fragen. Aber werden die durch die Änderung der Prognose der Lebenserwartung beantwortet?

    • #4 Joseph Kuhn
      30. September 2025

      @ Ludger:

      zu 1: Ich habe mich dazu ja schon geäußert. Da Ihnen das nicht genügt, und auch nicht, was die Autor:innen selbst dazu schreiben, müssen Sie wohl warten, ob sich sonst noch jemand hier zu dem Thema äußert, oder Sie diskutieren es in Ihrem Bekanntenkreis.
      zu 2: Hier trügt Sie Ihre Vermutung. Die Lebenserwartung, wie sie in der Demografie üblicherweise berechnet wird, ist keine Prognose, sondern nur eine Umsetzung des empirischen Sterbegeschehens in eine anschauliche Ziffer. Sie liefert im Wesentlichen die gleiche Information wie die altersstandardisierte Sterblichkeit. Richtig ist, dass sie nicht ganz identisch mit dem durchschnittlichen Sterbealter ist – das ist abhängig vom Altersaufbau der Bevölkerung, anders als die Lebenserwartung.
      zu 3: Die Berechnung der Lebenserwartung beantwortet keine dieser Fragen, sie gibt Anlass, solche Fragen zu stellen.

  3. #5 naja
    30. September 2025

    @ Ludger
    Da mir einleuchtet, dass man die Lebenserwartung in verschiedenen “Räumen” miteinander vergleicht, sowohl die Lebenserwartung in Grenzregionen als auch jene in unterschiedlichen sozioökonomischen Gruppierungen, was Ihnen aber gar nicht einzuleuchten scheint, frage ich mich, woran Sie forschen würden, wenn es um das Thema Lebenserwartung geht?
    Es interessiert Sie ja schon, Sie haben ja auch den letzten Beitrag dazu kommentiert.
    Nehmen wir Pflanzen: Ich denke eine Pflanze, die an einem Standort mit guten Bedingungen wächst, wird gesünder sein, länger Leben und mehr und qualitativ bessere Samen produzieren, als eine Pflanze, die an einem Standort mit schlechten Bedingungen wächst. Für Tiere würde ich selbiges auch für wahrscheinlich halten, wobei die Beine haben und den Standort wechseln können, wenn sie sich physisch gegen Artgenossen und andere Tiere, die ähnliche Nischen besetzen, durchsetzen können. Das Vermögen sich durchzusetzen wird aber vermutlich unwahrscheinlicher je schlechter die Bedingungen am Standort der Geburt sind und je länger Tiere dort gelebt haben, weil sie sich eben nicht gegen Artgenossen durchsetzen können, die den Vorteil besserer Lebensbedingungen bereits genießen können.
    Warum sollte das beim Menschen vollkommen anders sein und es keine Rolle spielen, ob die Bedingungen / Standort, unter / an dem man lebt, gut oder schlecht sind?

  4. #6 Ludger
    30. September 2025

    @naja
    Die Studie beschreibt ihre Intention wiefolgt:

    The establishment of the European Union (EU) through the 1992 Maastricht Treaty and the opening of internal EU borders through the 1995 Schengen Agreement have made cross-border regions an important target of EU policy, which aims to harmonise living standards across national boundaries. Research indicates that these efforts have led to economic convergence in border areas, with increased economic activity resulting from open borders and enhanced cross-border cooperation [1]. While the link between economic development and population health has been extensively studied at the national level [2,3,4], it remains uncertain whether improved local cross-border cooperation has also led to convergence in population health.

    In der Euregio bei Aachen ist es sicher gelungen, die Lebensverhältnisse in den Grenzregionen Ostkantone, Limburg und Region Aachen zu verbessern und anzugleichen. Da schmuggelt niemand mehr Kaffee. Trotzdem gibt es gewaltige Unterschiede zwischen Universitätsstadt und kleinstädtisch geprägtem Land zum Beispiel bezogen auf die Fluktuation der Wohnbevölkerung, der Entfernung zum nächsten Arzt oder Krankenhaus zur Arbeitsstelle oder zur Schule usw.
    Ich bin Mediziner. Wir können sehr viele Parameter messen lassen. Man sollte aber immer im Hinterkopf haben, ob sich daraus therapeutische Konsequenzen ergeben. Ich verstehe halt nicht, warum man eine so umfangreiche Untersuchung gemacht hat.