Inwiefern die Wirtschaftswissenschaften empirische Wissenschaften sind, darüber wird seit langem gestritten. Nicht erst seit Karl Marx steht der Vorwurf im Raum, dass sich hinter den scheinbar ehernen Gesetzen der Ökonomie vor allem die Interessen privilegierter Klassen verbergen und dass sich das ökonomische Denken eher im „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit” (Max Weber) bewegt als dem auf den Grund zu gehen, was tatsächlich in der Welt der Arbeit und des Handels vor sich geht.
Etwas weniger klassenkämpferisch, aber in Hinblick auf den empirischen Charakter der Wirtschaftswissenschaften nicht weniger vernichtend, hat vor einigen Jahrzehnten Hans Albert geurteilt, ein etwas in Vergessenheit geratener Vertreter des Kritischen Rationalismus in Deutschland. Er sah in den Wirtschaftswissenschaften einen nichtfalsifizierbaren „Modellplatonismus” am Werk – einen Glauben an die Realität weltfremder Abstraktionen. Auch das war nicht neu, denn dass die gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehren unrealistische Annahmen machen, etwa die Neoklassik mit ihrem Menschenbild des „homo oeconomicus”, der Idee „vollständiger Märkte” und dem Ausblenden externer Effekte, das kann man schon bei Keynes oder Schumpeter nachlesen. Neu ist, dass die Kritik daran, die seit den 1970er Jahren in den Wirtschaftswissenschaften kaum mehr vernehmbar war, angesichts des theoretischen Blackouts des ökonomischen Mainstreams in Sachen Finanzkrise in jüngster Zeit wieder lauter wird. Witzigerweise ist es ein Literaturwissenschaftler, Joseph Vogl, dessen Buch „Das Gespenst des Kapitals” seit einiger Zeit für besonders viel Aufregung sorgt – vielleicht weil viele Leute inzwischen zurecht befürchten, dass so manche Wirtschaftswissenschaftler nur Geschichten erzählen. Auch der Ideologieverdacht lässt sich nicht mehr einfach als „altlinkes” Gerede abtun. Dass die Grundlinien der Wirtschaftspolitik und der sie beratenden Wirtschaftswissenschaften zu sehr neoliberal gezeichnet sind, kann man heute bei vielen Konservativen und sogar in manchen Winkeln der FDP hören. An den Hochschulen hat es in den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern, was die Grundphilosophie angeht, eine auffällige geistige Verarmung gegeben. Jetzt haben 93 Professoren und Professorinnen ein Memorandum „Für eine Erneuerung der Ökonomie” auf den Weg gebracht, in dem sie diese geistige Verarmung ebenso kritisieren wie sie an die ethische Verantwortung der Wirtschaftswissenschaften für ein “gutes Leben” erinnern – und indirekt so auch daran, dass der Empiriebezug der Wirtschaftswissenschaften nicht von der gleichen Art sein kann wie der der Naturwissenschaften. Eine „ethisch verantwortungsvolle Physik” kann man sich ja nur schwer vorstellen, bestenfalls gibt es ethisch verantwortungsvolle Physiker.
Das Memorandum „Für eine Erneuerung der Ökonomie” kann man übrigens mitzeichnen. Ich habe es getan, weil mir Wirtschaftswissenschaften, in denen Leute wie Karl Georg Zinn, Rudolf Hickel oder Peter Bofinger schon „fachfremd” wirken, ziemlich unheimlich sind – eben ideologieverdächtig.
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