Inwiefern die Wirtschaftswissenschaften empirische Wissenschaften sind, darüber wird seit langem gestritten. Nicht erst seit Karl Marx steht der Vorwurf im Raum, dass sich hinter den scheinbar ehernen Gesetzen der Ökonomie vor allem die Interessen privilegierter Klassen verbergen und dass sich das ökonomische Denken eher im „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit” (Max Weber) bewegt als dem auf den Grund zu gehen, was tatsächlich in der Welt der Arbeit und des Handels vor sich geht.

Etwas weniger klassenkämpferisch, aber in Hinblick auf den empirischen Charakter der Wirtschaftswissenschaften nicht weniger vernichtend, hat vor einigen Jahrzehnten Hans Albert geurteilt, ein etwas in Vergessenheit geratener Vertreter des Kritischen Rationalismus in Deutschland. Er sah in den Wirtschaftswissenschaften einen nichtfalsifizierbaren „Modellplatonismus” am Werk – einen Glauben an die Realität weltfremder Abstraktionen. Auch das war nicht neu, denn dass die gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehren unrealistische Annahmen machen, etwa die Neoklassik mit ihrem Menschenbild des „homo oeconomicus”, der Idee „vollständiger Märkte” und dem Ausblenden externer Effekte, das kann man schon bei Keynes oder Schumpeter nachlesen. Neu ist, dass die Kritik daran, die seit den 1970er Jahren in den Wirtschaftswissenschaften kaum mehr vernehmbar war, angesichts des theoretischen Blackouts des ökonomischen Mainstreams in Sachen Finanzkrise in jüngster Zeit wieder lauter wird. Witzigerweise ist es ein Literaturwissenschaftler, Joseph Vogl, dessen Buch „Das Gespenst des Kapitals” seit einiger Zeit für besonders viel Aufregung sorgt – vielleicht weil viele Leute inzwischen zurecht befürchten, dass so manche Wirtschaftswissenschaftler nur Geschichten erzählen. Auch der Ideologieverdacht lässt sich nicht mehr einfach als „altlinkes” Gerede abtun. Dass die Grundlinien der Wirtschaftspolitik und der sie beratenden Wirtschaftswissenschaften zu sehr neoliberal gezeichnet sind, kann man heute bei vielen Konservativen und sogar in manchen Winkeln der FDP hören. An den Hochschulen hat es in den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern, was die Grundphilosophie angeht, eine auffällige geistige Verarmung gegeben. Jetzt haben 93 Professoren und Professorinnen ein Memorandum „Für eine Erneuerung der Ökonomie” auf den Weg gebracht, in dem sie diese geistige Verarmung ebenso kritisieren wie sie an die ethische Verantwortung der Wirtschaftswissenschaften für ein “gutes Leben” erinnern – und indirekt so auch daran, dass der Empiriebezug der Wirtschaftswissenschaften nicht von der gleichen Art sein kann wie der der Naturwissenschaften. Eine „ethisch verantwortungsvolle Physik” kann man sich ja nur schwer vorstellen, bestenfalls gibt es ethisch verantwortungsvolle Physiker.

Das Memorandum „Für eine Erneuerung der Ökonomie” kann man übrigens mitzeichnen. Ich habe es getan, weil mir Wirtschaftswissenschaften, in denen Leute wie Karl Georg Zinn, Rudolf Hickel oder Peter Bofinger schon „fachfremd” wirken, ziemlich unheimlich sind – eben ideologieverdächtig.

Kommentare (46)

  1. #1 doublemoth
    5. April 2012

    Als Wirtschaftsingenieur kenne ich sowohl die naturwissenschaftliche als auch die wirtschaftswissenschaftliche Seite. Und beides sind klar empirische Wissenschaften. Wie die Naturwissenschaften stützen sich die Wirtschaftswissenschaften auf Theorien und Modelle, die immer nur einen relativ kleinen Bereich vereinfacht darstellen können, wie eben in den Naturwissenschaften (dazu ein schöner Artikel in der Spektrum der Wissenschaft vom Februar 2012, Tony Rothman: Die Physik – ein baufälliger Turm zu Babel). Es gibt eine gewaltige Anzahl von Variablen an denen man drehen kann an dem hochdynamischen System Wirtschaft bzw. Markt, dass es auch nur vereinfacht funktioniert. Soll man deswegen es lassen zu verstehen? Chaostheorie lässt grüßen.

    Der homo oeconomicus war schon vor meinem Studium und vor dem der letzten Weltwirtschaftskrise ein überholtes Konzept und wurde auch nur am Rande gelehrt, da er in Teilbereichen noch gilt (man benutzt ja auch noch die newtonsche Mechanik, obwohl sie durch Einstein nur noch sehr gut näherungsweise gültig ist). Eigentlich ist das ein Hinweis darauf, dass Wirtschaft als empirische Wissenschaften funktioniert. Funktioniert ein Modell oder eine Theorie ex post nicht mehr, wird es abgeändert oder verworfen (so viel zur angeblichen nicht Falsifizierbarkeit).

    Des Weiteren ist unser Wirtschaftssystem kaum neoliberal. Wir haben eine gewaltige Umverteilung im Staat. Das gilt nicht nur für die sozialen Bereiche sondern auch für Subventionen. Kann man jetzt wunderbar an den gescheiterten Unternehmen in der Solarbranche sehen.

    Dass es unter Wirtschaftswissenschaftlern Dogmatiker gibt, will ich nicht verneinen. Vor allem in Geprächen mit BWLern wurde mir da ein wenig gruselig, was wohl daran liegt, dass sie viele Theorien und Modelle nur auswendig lernen.

    Ach ja, wenn jemand “Ethik” in Wirtschaftswissenschaften fordert, dann kann ich diesem nicht wirklich glauben, dass er Empirie vertritt. Seit wann ist Ethik ein objektives Konzept.

    Meine Professoren sowohl in den betriebswirtschaftlichen als auch in den volkswirtschaftlichen Fächern haben nie behauptet, dass die gelehrten Theorien und Modelle allgemeingültig sind. Es wurde häufig vor allem in den VWL-Fächern gesagt was die Begrenzungen sind.
    Aber vielleicht hatte ich auch nur einfach Glück mit meinen Professoren, dass genau diese keine Dogmatiker waren.

    https://naturundwirtschaft.wordpress.com/2012/03/20/reichtum-in-200-jahren/

  2. #2 Joseph Kuhn
    5. April 2012

    @ doublemoth:

    Des Weiteren ist unser Wirtschaftssystem kaum neoliberal.

    Konsens, das habe ich aber auch nicht geschrieben. Was deutlich neoliberale Züge trägt, sind wichtige wirtschaftspolitische Weichenstellungen in den letzten 30 Jahren, z.B. zur Besteuerung von Kapitaleinkommen, zum Ausbau des Niedriglohnsektors, zur privaten Absicherung im Alter oder zum Verbriefungsmarkt in Deutschland.

    Seit wann ist Ethik ein objektives Konzept.

    Auch das habe ich nicht geschrieben, im Gegenteil, auf den Unterschied z.B. zur Physik habe ich explizit hingewiesen. Obwohl es durchaus Vertreter einer naturalistischen bzw. objektiven Ethik gibt. Die Frage ist, ob die Wirtschaftswissenschaften wie die Physik in ihrem Gegenstandsbereich “objektiv” sind oder ob hier doch normative Aussagen getroffen werden und falls ja, was das bedeutet. Damit wäre ja nicht gleich jeder Empiriebezug suspendiert. (Nur nebenbei: Hier ist im Wesentlichen immer von der Volkswirtschaftslehre die Rede, die Betriebswirtschaftslehre sahen ja schon manche ihrer “Stammväter” wie Eugen Schmalenbach als “Kunstlehre”, orientiert z.B. am Auswahlprinzip der Gewinnmaximierung, wobei es natürlich auch hier empirische Forschungsansätze gibt).

  3. #3 kamy
    5. April 2012

    ehrlich gesagt, weiß ich nicht wovon du redest. Die von dir beschriebene Modellhörigkeit habe ich in meinem gesamten Studium der Volkswirtschaftslehre nicht erlebt – im Gegenteil. Homo Ökonmikus wurde nie als “realer Mensch” diskutiert. Der “ideale Markt” war immer ein Modell, ähnlich dem “idealen Gas” in der Physik. Die Literatur über Externe Effekte füllt Bibliotheken. Seit Keynes, Schumpeter etc hat sich die Wirtschaftswissenschaft deutlich weiterentwickelt. Wer möchte, wird das erkennen, wer die Krise ideologisch ausschlachten will, wird nur das sehen was er sehen will.
    Die Kritiker der Wirtschaftswissenschaften sind häufig die größeren Ideologen und versuchen nur ihre eigenen Denkschulen zu etablieren. Bitte aufpassen. Volkswirtschaft ist nicht trivial – man bracht schon einige Zeit und mehr als zwei Vorlesungen im Nebenfach, um sie einigermaßen erfassen zu können.

  4. #4 Statistiker
    5. April 2012

    “Funktioniert ein Modell oder eine Theorie ex post nicht mehr, wird es abgeändert oder verworfen (so viel zur angeblichen nicht Falsifizierbarkeit).”

    Aha, das wäre ja ganz neu. In der Praxis wird doch nach dem Motto verfahren “Wenn die Medizin nicht wirkt, Dosis erhöhen”. Sieht man an Griechenland sehr schön. Ach so, es geht nur um die Theorie. Naja, dann nehme ich zwei widersprechende Theorien und wende immer die an, die grad funktioniert. machen Esoteriker genauso.

    “Wir haben eine gewaltige Umverteilung im Staat.”

    Stimmt. Die Frage ist nur, in welche Richtung……

    “wer die Krise ideologisch ausschlachten will,” … “Die Kritiker der Wirtschaftswissenschaften sind häufig die größeren Ideologen”

    Wer anderen “ideologie” vorwirft, verlässt den Boden der sachlichen Argumentation.

    Insbesondere wenn man dazufügt: “man bracht schon einige Zeit und mehr als zwei Vorlesungen im Nebenfach”… damit sind Personen, die eine andere Meinung vertreten, nicht nur “Ideologen”, sondern auch blöd und haben von der Sache keine Ahnung.

    btw: ich hab mal angefangen, Wirtschaftswissenschaften zu studieren, aber nachdem das Geschwurbel der selbstgläubigen Dozenten (Wirtschaftswissenschaftler haben irgendwie was religiöses, sie arbeiten mit Dogmen statt mit Empirie) dabei war, schwersten gehirnkrebs auszulösen, hab ich mich einem seriösen Studienfach zugewandt.

  5. #5 doublemoth
    5. April 2012

    @Joseph Kuhn:
    Da habe ich dann wohl ein wenig zu viel in den Text hineininterpretiert.

  6. #6 Joseph Kuhn
    5. April 2012

    @ kamy:

    ehrlich gesagt, weiß ich nicht wovon du redest.

    Wovon ich rede, ist das, wovon im Memorandum die Rede ist. Diesem Wissensdefizit könnte also abgeholfen werden.

    Zur Rolle von Modellen: Es geht nicht um Modelle an sich, Martin Bäker hat dazu übrigens hier vor einiger Zeit einen schönen Beitrag über Idealisierungen in der Physik geschrieben. Modelle sind hilfreich, wenn sie dazu dienen, die Dinge in der Welt zu verstehen, sie werden problematisch, wenn sie eine Parallelwelt schaffen, die mit der Wirklichkeit verwechselt wird und gegen diese immunisiert ist. Letzteres war der Vorwurf der Modellplatonismus von Albert. Dass dieser Vorwurf nicht obsolet ist, ist Teil der Argumentation des Memorandums, insofern ist das ein Streit innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, nicht etwas, was von halbwissenden “Nebenfächlern” (zu denen ich übrigens gar nicht gehöre) von außen an die Wirtschaftswissenschaften herangetragen wird.

    Wissenschaftsfortschritt: Inwiefern sich die Wirtschaftswissenschaften seit Keynes und Schumpeter “deutlich weiterentwickelt” haben, unterläuft die im Memorandum aufgeworfenen Fragen durch Unspezifizität. Zu bestreiten, dass sich angesichts vieler tausend wirtschaftswissenschaftlich Tätiger irgendetwas weiterentwickelt hat, viele Bücher geschrieben wurden, viele Einzelfragen beantwortet wurden, neue Methoden entwickelt wurden etc., wäre in der Tat unsinnig. Das Memorandum hebt darauf ab, dass das herrschende Forschungsparadigma (“Paradigma” im Sinne meines berühmten Namensvetters) insgesamt problematisch ist. Das finde ich durchaus diskussionswürdig, nicht zuletzt, wenn ich z.B. die in meinem beruflichen “Nahbereich” gepflegten gesundheitsökonomischen Argumente (“Ansparmodell” der privaten Vorsorge, Moral Hazard-Modelle bei der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen, Katastrophenszenarien bei den Gesundheitsausgaben usw.) ansehe, die deutlich dem neoliberalen Grundanliegen “weniger Staat, mehr privat” folgen – und empirisch eben oft nicht haltbar sind.

  7. #7 Joseph Kuhn
    5. April 2012

    @ Statistiker:

    Wer anderen “ideologie” vorwirft, verlässt den Boden der sachlichen Argumentation.

    Das kann man so nicht sagen, aber der Vorwurf muss begründet werden, dann ist das durchaus eine “sachliche Argumentation”.

  8. #8 libertador
    5. April 2012

    Die Wirtschaftswissenschaften haben einen nicht zu vernachlässsigenden Nachteil gegenüber der Physik

    Der ist, dass wirtschaftswissenschaftliche Theorien den eigenen Gegenstand verändern können. Die Politik und das Verhalten einzelner Menschen kann beeinflusst werden, diese ist der Physik nicht der Fall. Der Wärme ist es egal, ob es durch ein Phlogiston modelliert wird.
    Somit können die Wirtschaftswissenschaften nicht rein empirisch sein, da sie normativ auf den eigenen Gegenstand wirken.

  9. #9 Statistiker
    5. April 2012

    @ Joseph Kuhn: Ja, Du hast Recht, WENN man begründet, warum es nur eine Ideologie ist, dann ist es okay.

    Allerdings kommt der Ideologie-Vorwurf – wie in dem Kommentar und eigentlich (fast) immer – ohne jegliche Begründung daher. Da hab ich mich wohl etwas zu knapp ausgedrückt.

    Mit dem ideologie-Vorwurf ist es doch wie mit dem Demagogen- oder Populistenvorwurf: Man erspart sich die Argumentation um die Sache und greift die Person an. Wobei insbesondere der Populismusvorwurf an Dummheit nicht zu überbieten ist….

    Ich üb noch im Pastafarianismus und brauch noch etwas Training, damit die Nudelige Heiligkeit mich mit seinen Anhängseln streichelt……

  10. #10 manto
    5. April 2012

    Es ist leider wie bei vielen dieser gutgemeinten Essays, es wird wolkig herumkritisiert, ohne auf konkrete Defizite einzugehen. Schade, so wird man nicht ernst genommen. Weiterhin nervt mich dieser überpessimistische Ton, den allermeisten Menschen im deutschsprachigen Raum geht es sehr gut, fast alle haben eine gute Wohnung, Krankenversicherung und Zugang zu gesunder Ernährung. Dazu haben die meisten Menschen D,Ö und S genügend Mittel für Firlefanz wie iphones, Urlaub, überteuerte Kleidung usw. Das in Ländern wie Griechenland in den letzten Jahrzehnten vieles schiefgelaufen ist, kann man den Ökonomen kaum anlasten, in Griechenland herrscht ein kaputtes politisches System, Ökonomen haben allerdings schon immer darauf hingewiesen, dass eine monetäre Union ohne Fiskalunion riskant ist, da die “reichen” Länder erpressbar werden, da sie sich gezwungen sehen, für arme Länder mitzuhaften. Viele dieser Bedenken spiegeln sich in den Maastricht-Verträgen wider, allerdings ist ein Restrisiko geblieben, wie man jetzt sieht. Lange Rede kurzer Sinn: machen sie sich daran, konkrete wirtschaftliche Phänomene zu finden, die sich die Wiwi-Leute nicht plausibel erklären können und wir kommen ins Gespräch, so ist das leider sehr mager.

  11. #11 Joseph Kuhn
    5. April 2012

    @ Statistiker: Wobei man den Propheten des freien Marktes vielleicht zugute halten muss, dass ihr Glaube dem Pastafarianismus durchaus nahe steht 😉

  12. #12 Joseph Kuhn
    5. April 2012

    @ manto:

    machen sie sich daran, konkrete wirtschaftliche Phänomene zu finden, die sich die Wiwi-Leute nicht plausibel erklären können

    Wie wäre es z.B. mit der Finanzkrise. Mir ist nicht bekannt, dass die Erklärungsansätze der Wirtschaftswissenschaft hier vor der Krise zu einer vernehmbar vorgetragenen Prognose geführt hätten, eher wurde den wenigen mahnenden Stimmen die Fachkompetenz abgesprochen. Hinterher sind “plausible Erklärungen” dann immer schnell bei der Hand und dann hat es eigentlich auch jeder kommen sehen. Peter Bofinger hat gerade angesichts der Erklärungsschwäche der gängen wirtschaftswissenschaftlichen Theorien von Micky-Maus-Modellen gesprochen. Ob es wirklich so schlimm ist, maße ich mir als Nichtökonom gar nicht an zu behaupten, aber dass es im Gebälk dieser Disziplin ordentlich knirscht, ist auch für Nichtökonomen unübersehbar.

    Ach, noch was: Wenn die Ökonomen alles so gut erklären können, warum gibt es dann so viele widersprüchliche Erklärungen für alles?

  13. #13 manto
    5. April 2012

    Etwas erklären können heißt nicht es auch vorhersagen zu können, ein Seismologe kann ihnen erklären wie ein Erdbeben funktioniert, wie wir aber immer wieder feststellen müssen, können Seismologen Erdbeben auch nicht gut vorhersagen. Hier mal der von ihnen gewünschte

    Erklärungsansatz für Bankenkrisen: https://files.nyu.edu/msb405/public/DynamicEnvironment.pdf

    sie können ja selbst mal ssrn.com nach den einschlägigen Schlüsselbegriffen durchforsten, da gibt es einen großen Reichtum an Wissen, den man auch zumindest teilweise kennen sollte, wenn man große Reden über die Fähigkeit/Unfähigkeit moderner wirtschaftswissenschaftlicher Forschung und Lehre schwingen will.

  14. #14 Joseph Kuhn
    5. April 2012

    Das wird bestimmt ein kluges Papier sein. Aber sind Sie wirklich der Meinung, nur wer dieses Formelwerk versteht, sei berufen, über die Wirtschaft und die Wirtschaftswissenschaften mitzureden? Dann dürfte man sich als Autofahrer auch keine Gedanken mehr über die Funktionstüchtigkeit eines Autos machen, ohne jedes technische Detail der Autoelektronik zu verstehen. Statt dessen sollte man in dem Fall nicht über die technischen Details der Autoelektronik reden – oder hier über das Formelwerk dieses Papiers. Das habe ich auch nicht vor. Solche “Maulkorbversuche” vermitteln den Eindruck einer hilflosen Arroganz. Schicken Sie das Papier doch einfach an Peter Bofinger oder James Galbraith, wenn Sie meinen, dass es deren Meinung oder die der Memorandum-Autoren widerlegt.

    Interessant finde ich – als Nichtökonom – zwei Sätze in diesem Papier, beide Seite 49: “The main message of the paper is that financial markets where asymmetric information is a relevant friction are likely to be more unstable than others” und “There are many other theories that explain why banks can fail to raise equity immediately after a crises”. Den ersten, weil er nicht wirklich weiterhilft, den zweiten, weil man daraus schließen kann, dass das auch nicht so schlimm ist.

    Und noch ein Wort zum Wesen von “Erklärungen”. Eigentlich hat man in der Tat erst etwas “erklärt”, wenn man es auch “vorhersagen” kann. Sonst funktioniert der ganze Falsifikationismus nicht. Vermutlich würden Seismologen als gute Naturwissenschaftler daher auch einräumen, dass sie Erdbeben zwar im Prinzip verstehen, aber noch nicht alles erklären können – und genau das scheint mir ein wesentlicher Unterschied zur Hybris mancher Wirtschaftswissenschaftler zu sein, die meinen, die Welt mit ihren Modellen erklären zu können und dass sich die Politik daher danach zu richten habe (und Kritiker gefälligst schweigen sollen, egal wie sehr die Dinge aus dem Ruder laufen).

  15. #15 Statistiker
    5. April 2012

    Tja, was manto macht, ist der Blick in den Rückspiegel, und damit lässst sich ALLES erklären…….

    Aber das FSM wird alles zum Guten richten, das, was jetzt passiert, ist nur ein Witz seiner Nudeligkeit, um uns und unseren Humor zu testen. Der unhumorige Rest wird zu hackbällchen, auf das wir das FSM lobpreisen können. AAAAAAAAARRRRRRRRRGGGGGG!!!!

  16. #16 Statistiker
    6. April 2012

    @ manto: Wenn die Wirtschaftswissenschaften alles so toll voraussagen können, eine Frage: Wieviel Gewin und Umsatz wird der FC Bayern München in dieser Saison machen? Wenn Ihre Argumentation stimmt, werden Sie dieses ja auf den Cent genau bestimmen können.

    Ich wette übrigens 1.000 €, dass Ihre Prognose falsch ist. Naürlich werden Sie nach Ablauf der Saison sagen können, warum und wieso der Gewinn/Verlust gerade so hoch war, aber jetzt mal Butter bei die Fische……

  17. #17 Joseph Kuhn
    6. April 2012

    Kleiner Nachtrag: Hingewiesen sei noch auf einen “Methodenstreit” in der Volkswirtschaftslehre vor drei Jahren, der inhaltlich allerdings quer zum Memorandum “Für eine Erneuerung der Ökonomie” liegt. Die eine Seite tritt für eine Bewahrung wirtschafts- und ordnungspolitisch ausgerichteter Lehrstühle ein, die andere für eine stärkere Orientierung an ökonometrischen Modellen. Beide Seiten konnten für ihr Anliegen große Aufrufe mobilisieren, einmal 83 Professor/innen (“Rettet die Wirtschaftspolitik an den Universitäten!”), einmal 188 Professor/innen (Umbau nach “internationalen Standards”), beide Aufrufe sind im Handelsblatt vom 5. Juni 2009 und vom 8. Juni 2009 dokumentiert.

    Ich habe diese Debatte damals nicht verfolgt und kann inhaltlich nichts weiter dazu sagen, aber auch hier geht es um Fragen der konzeptionellen Grundlagen des Fachs. Seltenheitswert am Aufruf der 83 hat zudem, dass Bernd Raffelhüschen und Rudolf Hickel auf einer Seite stehen.

    Angesichts dieser großen Aufrufe und derzwischenzeitlich großen Zahl an Unterzeichner/innen des Memorandums “Für eine Erneuerung der Ökonomie” kann man auf die Idee kommen, ob Vorwürfe einer theoretischen Monokultur in der Volkswirtschaftslehre damit nicht durch einen performativen Selbstwiderspruch widerlegt sind. James Galbraith hat für die USA einmal in einem Interview gesagt, die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaften sei eher eine Angelegenheit selbst ernannter Eliteuniversitäten, nicht eine der Breite des Fachs und der kleinen Universitäten. Ob das in Deutschland auch so ist – die Leute vom Fach werden es wissen.

  18. #18 wendelin_b
    6. April 2012

    Im Memorandum wie auch in einigen Fällen hier (z.B. libertador; “Rettet die Wirtschaftspolitik”) fungiert als kardinales Differenzkriterium Normativität. Zum einen werden damit verschiedene Auffassungen von Wirtschaftswissenschaft unterschieden; zum anderen die Wirtschafts- von der Naturwissenschaft.
    Wenn ich richtig sehe etwas anders der Ausgangpunkt von Joseph Kuhn, der fragt: Ist Wirtschaftswissenschaft eine empirische Wissenschaft oder – so mit Marx/Weber und so auch die Stossrichtung des Titels, eine ideologische?
    Zu diesen zwei Möglichkeit der Differenzierung (und in gewissem Sinn dagegen) könnte man eine weitere vorschlagen: historisch vs. ahistorisch. In der Perspektive einer historischen Epistemologie, wie sie z.B. Hans-Jörg Rheinberger geprägt hat, lässt sich jenes rekursives Moment in einer zetlichen und räumlichen Ausdehnung fassen, das im Einwand von libertador normativ gedacht ist. Zudem lässt sich ein ähnlicher Zusammenhang von Wissen und Praxis konzeptualisieren, wie er im Ideologiebegriff steckt, ohne aber apriori davon auszugehen, eine richtige/wahre Wissenschaft in der Denunziation und im Kampf gegen eine falsche Wissenschaft (die mit einem notwendig falschen Bewusstsein einhergeht) gewinnen zu müssen. In der Perspektive einer historischen Epistemologie untersteht Wirtschaftswissenschaft einer Dynamik unterschiedlicher Wissensordnungen und Praktiken.
    Die Reaktion auf das “aus dem Ruder laufen” (Diese Initialbeobachtung wäre der “Vorschuss” des Unternehmens, der lediglich zu plausibilisieren, nicht aber zu begründen wäre) wäre dann ein Relativieren der Geltungsansprüche wirtschaftswissenschaftlichen Wissens in ihrer historischen bzw. kontextuellen Pluralisierung und zugleich ein Ernst nehmen der entsprechenden Disziplin als Kunst der Präskription von und Intervention in soziale(r) Praxis.
    Ich will damit nicht meinerseits ein starres Schema der Kritik vorgeben. Aber in diese Richtung könnte man denken, wenn man, anders als die Memorandumsunterzeichner, Normativität vermeiden will.

  19. #19 Joseph Kuhn
    6. April 2012

    @ wendelin_b: Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich verstanden habe, worauf Sie hinauswollen. Die Frage der “Normativität” sehe ich wie die eines ideologischen Gehalts als eine Frage an den Empiriebezug der Wirtschaftswissenschaften, die durch eine historisch-epistemologische Perspektive bereichert, aber nicht abgehakt werden kann. Dass Konzepte wie “Objektivität” selbst eine Geschichte haben, heißt ja nicht, dass sie sonst nichts haben und die Unterscheidung zwischen richtig und unrichtig hinfällig ist. Aber in der Lehre könnte sicher die Geschichte volkswirtschaftlicher Konzepte stärker berücksichtig werden, dann würde manches “Eherne” anders in Erscheinung treten.

  20. #20 Statistiker
    6. April 2012

    Tja, ich weiß jetzt jetzt nicht, wo Wendelin seinen Text geguttenbergt hat, aber mal eine Frage, nein zwei:

    “wie er im Ideologiebegriff steckt, ohne aber apriori davon auszugehen, eine richtige/wahre Wissenschaft in der Denunziation und im Kampf gegen eine falsche Wissenschaft…”

    1) Wieso hier wieder der Ideologievorwurf?
    2) Was ist eine “falsche” Wissenschaft? Entweder etwas ist Wissenschaft oder es ist Lüge.

    Naja, die Wirtschafts”wissenschaftler” werden sich solange als “wissenschaftler” bezeichnen, bis deren Irrglaube sich entgültig abgezeichnet hat. Huppps, das hat es schon…..

    Bin ich froh, dem Gehirnkrebs entgangen zu sein…..

  21. #21 Joseph Kuhn
    7. April 2012

    Einen schönen Vergleich hat mir vor kurzem jemand gemailt: “Die Volkswirtschaftslehre ist eine grandiose Mischung aus Methoden, Wissen, Glauben und Aberglaube. Die analoge Unterscheidung von Astrologie und Astronomie ist dort noch nicht erfolgt.”

    Da ist, wie mir scheint, einiges dran und dort, wo sich volkswirtschaftliche Lehrmeinungen ideologisch verkapseln und von der Realität abschotten, wird der Weg in die Astrologie beschritten. Eine ganze Sammlung gesundheitsökonomischer Horoskope, die alle irgendwie hilfreich klingen, es aber nicht sind, kann man z.B. samt Kritik daran in dem lesenswerten Buch von Hartmut Reiners “Mythen der Gesundheitspolitik” nachlesen.

  22. #22 doublemoth
    8. April 2012

    @Statistiker: Ich sage dir gerne auf den Cent genau den Betrag voraus, den der FC Bayern diese Saison verdienen wird, wenn du mir voraussagst, wie lange ein Stein aus 10.000m Höhe auf die Millisekunde genau braucht, um auf den Boden aufzuschlagen. Was du kannst das nicht? Vielleicht, weil man so viele Variablen wie Temperatur, Winde, Form des Steins, butterfly effect, etc. berücksichtigen muss und es daher nahezu unmöglich wird es vorherzusagen? Dann kommt noch die schöe Fehrlerfortpflanzung hinzu. Wie wäre es mit der ersten Standardabweichung? Immer noch zu unsicher? Physiker nehmen doch gerne die 5-7 Standardabweichung. Hey in diesem Bereich kann ich auch gerne den Gewinn vom FC Bayern in dieser Saison berechnen.

    Vielleicht funktioniert die Physik ja auch nicht! Oder halt Warte, vllt liegt es ja auch nur an der Komplexität eines Systems und der zur Verfügung stehenden Modelle, wie gut eine Vorhersage ist.

    Die Aufgabe mit dem FC Bayern ist sogar noch um einiges komplexer als die Stein-Aufgabe.

    Ich will hier gar nicht die VWL in den Schutz nehmen. Es gibt bestimmt sehr viele Ideologien in diesem Fachbereich.
    Wie in jeder Wissenschaft sollte es immer so gehen (stark vereinfacht):
    Hypothese auf Fakten aufbauen -> Hypothese versuchen zu falsifizieren -> mit Hypothese Vorhersagen treffen (aka testen) -> Hypothese hat standgehalten -> Theorie -> Theorie versagt irgendwann (ich sage nur Merkur) -> Theorie nur noch für spezielle Fälle gültig -> neue Hypothese oder Theorie erweitern

    Daran sollten sich auch die Wirtschaftswissenschaftler halten

  23. #23 Dr. Webbaer
    8. April 2012

    Er [Hans Albert] sah in den Wirtschaftswissenschaften einen nichtfalsifizierbaren „Modellplatonismus” am Werk – einen Glauben an die Realität weltfremder Abstraktionen.

    Der Wirtschaftswissenschaftler arbeitet mit Konstrukten, deren Belastbarkeit den Geschehnissen unterworfen ist, d.h. dass diese Konstrukte nicht gültig oder ungültig sind, sondern Provisorien. Er glaubt also keineswegs an seine Konstrukte, kennt aber (noch) keine besseren; er ist epistemologisch durchaus gebildet.

    Die Komplexität des Betrachteten lässt ihm keine Wahl, sicherlich sind die Wirtschaftswissenschaften nicht als Erfahrungswissenschaften bspw. mit der konkreteren Medizin vergleichbar, es bleiben aber Erfahrungswissenschaften.

    Der die aktuell gegebenen Systeme der Aufklärung vertretenden Wirtschaftswissenschaftler ist denn auch liberal oder neoliberal [1]. Weil die Offene Gesellschaft aber eben offen ist, stehen linken Überlegungen über einen so genannten Dritten Weg nichts entgegen. – Wobei sich der Schreiber dieser Zeilen aber gerne den Hinweis erlaubt, dass sich hier Linke bemühen, die das Scheitern des real existierenden Sozialismus kennen und sich so eine Nische bilden (ohne wie viele linke “Wirtschaftswissenschaftler” der 68er Zeit gleich verfassungsfeindlich zu werden).

    MFG
    Dr. Webbaer

    [1] der Neoliberalismus ist eine wirtschaftswissenschaftliche Richtung mit dezidiert sozialem Anspruch, aus irgendwelchen Gründen ist ‘neoliberal’ zum Schimpfwort geworden, durch jahrzehntelangen diskreditierenden pejorativen Gebrauch von Links geschädigt, aber auch wegen der Präfix aus sich heraus ungünstig, weil so ein Irrtum des Liberalismus nahegelegt wird, der nicht besteht

  24. #24 Dr. Webbaer
    8. April 2012

    @doublemoth

    Des Weiteren ist unser Wirtschaftssystem kaum neoliberal.

    D hat eine so genannte Soziale Marktwirtschaft, was genau neoliberalem Denken entspricht, und eine ausufernde Sozialindustrie, was linken Überlegungen und Forderungen geschuldet ist; das aber nur angemerkt, weil viele gar nicht wissen, was der Neoliberalismus eigentlich ist. Auch der Blogautor verwendet das Adjektiv ‘neoliberal’ in unklarem Zusammenhang.

  25. #25 Joseph Kuhn
    8. April 2012

    Auch der Blogautor verwendet das Adjektiv ‘neoliberal’ in unklarem Zusammenhang.

    Der Blogautor verwendet den Begriff in der heute gängigen Form, also synonym zu einer wirtschaftsliberalen Verengung des Liberalismus. Die geistigen Grundlagen dazu finden sich z.B. in der Mont Pelerin-Gesellschaft. Wenn Freiheit auf die Freiheit wirtschaftlich Handelnder eingeengt wird und auch hier noch blauäugig die Unterschiede zwischen den verschieden mächtigen Wirtschaftssubjekten übersehen werden, wenn Demokratie (also die gesellschaftlich organisierte Entscheidungsmöglichkeit der Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten) als Bedrohung der Märkte und deshalb als einzuschränken angesehen wird, wenn die Menschen, wie bei Hayek als “zu dumm” angesehen werden, um über das Funktionieren von Märkten zu befinden (ausgenommen die “original thinkers” wie Hayek selbst) und der Markt so wie ein göttliches Schicksal betrachtet wird, dann ist hier der Liberalismus auf den neoliberalen Hund gekommen und zu einem Glaubensbekenntnis verkommen. Solche Grundanschauungen werden bekanntlich von ihren Vertretern auch höchst selten revidiert (dass das bei anderen “Philosophien” auch nicht anders ist, ist kein Argument dagegen).

  26. #26 Dr. Webbaer
    8. April 2012

    Der Blogautor verwendet den Begriff in der heute gängigen Form, also synonym zu einer wirtschaftsliberalen Verengung des Liberalismus.

    Was falsch ist. Der Neoliberalismus hat eben eine bestimmte soziale Komponente, die er dem Liberalismus aufprägte, er hat den “sozialen Touch”. Dr. W ebenso. Insofern ist der missbräuchliche Gebrauch problematisch, auch wenn die Präfix ‘Neo-‘ ebenfalls problematisch ist.

    Angemessener wäre der deutliche Hinweis auf eine Metaphorik, bspw. der Gebrauch von Anführungsszeichen, also bspw. so: Der “Neoliberalismus” ist doof.

    Wobei Hayek nicht Unrecht haben muss, komplexe Systeme entziehen sich in der Regel dem Gebrauch des Alltagsmenschen. Haben Sie den Eindruck, dass Hajek elitistisch vorgetragen hat? Nö, oder?, Hayek kannte doch seine Rezipienz. [1] Das hat ihn doch eigentlich ausgezeichnet.

    Merken können wir uns aber vielleicht, dass sich Liberale “kümmern”, sie interessieren sich für den Erfolg der Individuen, machen sich auch modellartige Gedanken, die aber immer am Gegebenen orientiert sind, recht erfolgreich btw, sonst wären alle modernen gesellschaftlichen Systeme auch nicht im Kern liberal.

    MFG
    Dr. Webbaer (der sich natürlich nicht nur “kümmert”, sondern auch streng sein kann, fürwahr!)

    [1] Tondokumente stehen im Web bereit.

  27. #27 Joseph Kuhn
    8. April 2012

    Haben Sie den Eindruck, dass Hajek elitistisch vorgetragen hat? Nö, oder?

    Doch, ich denke, das trifft Hayeks Position recht gut. Es geht ihm um eine “Entthronung der Politik”. Der Staat soll nach Hayek und seinen Genossen vor allem die Eigentumsordnung der freien Marktwirtschaft sichern, daher darf die Demokratie nicht zu weit gehen, weil sie sich sonst anmaßen könnte, den Wettbewerb zu beschränken, also den wahren Ort der Freiheit. Da der Markt aber als “gewachsene Ordnung” ein System ist, das wir nicht entworfen haben, “dazu waren wir nicht intelligent genug”, ist ihm gegenüber “Demut” geboten, das Individuum soll sich seinen Regeln unterwerfen (so Hayek, wörtliche und indirekte Zitate montiert, aber nicht sinnentstellend). Daran ist so ziemlich alles falsch. Märkte haben sich nicht einfach “entwickelt”, sie werden oft gezielt aufgebaut. Und auch wenn wir die Mikroprozesse auf Märkten nicht im Detail nachzeichnen können, heißt das noch lange nicht, dass wir die Funktionstüchtigkeit von Märkten an sich nicht beurteilen könnten und uns in Demut und Gottesergebenheit dem fügen müssen, was da immer kommen mag. Märkte sind in vielen Bereichen effiziente Instrumente, um Ressourcen zur Befriedigung von Nachfrage zu lenken, aber sie sind es nicht überall, zumindest nicht, wenn man nicht akzeptiert, dass die Anpassung der Nachfrage an den Preis auch bedeuten kann, dass Menschen, die ihre Nahrungsmittel, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnung etc. nicht mehr bezahlen können, dann darauf eben verzichten müssen (oder am Existenzminimum am Leben erhalten werden). Den Markt als unverfügbar zu sehen, heißt, den Markt absolut zu setzen, ihn in die Position zu bringen, die früher Gott innehatte.

    Dort, wo in den Wirtschaftswissenschaften solche Grundpositionen modellplatonistisch der Falsifizierbarkeit entzogen werden, also im oben beschriebenen Sinne sozusagen Götzendienst betrieben wird, ist das zu kritisieren, so verstehe ich einen Teil des Anliegens der Memorandum-Autoren. Interessanterweise kehren diese Diskussionen in der Volkswirtschaftslehre periodisch und mit leichten Akzentverschiebungen immer wieder. Schon in der Friedman-Samuelson-Debatte vor etwa 50 Jahren hatte Friedman die Position vertreten, ökonomische Theorien würden analog zur idealtypischen Geltung des Fallgesetzes funktionieren und letztlich sei eine Theorie daher sogar umso besser, je unrealistischer ihre Annahmen seien (Friedman M: The Methodology of Positive Economics). Nur ist die Realitätshaltigkeit des Fallgesetzes trotz aller Störeinflüsse unter realen Bedingungen gesichert, in der Ökonomie gilt das für viele Modellannahmen so einfach nicht.

  28. #28 wendelin_b
    8. April 2012

    @Joseph Kuhn Ich versuche zu präzisieren: Fragen nach Normativität und Ideologie sind, wie Sie sagen, Fragen an den Empiriebezug. Die historische-epistemologischer Perspektive, der ich z.B. auch Joseph Vogl zurechnen würde, geht davon aus, dass die Ökonomie an der Genese der Empirie mit beteiligt ist. Sie geht – historisch-empirisch gestützt – von einer Rekursivität zwischen Wissensordnungen und Empirie aus.

    In dieser Perspektive entscheiden sich die genannten Fragen nicht allein in einem Bezug einer wissenschaftlichen Disziplin auf die Empirie in der Gegenwart, sondern auch im Bezug, den die Disziplin in der Vergangenheit zur Empirie unterhalten hat. Dies wird dann brisant, wenn überdies eine Kohärenz und Kontinuität der Wissenschaften nicht apriori zugestanden, sondern ein empirischer Nachweis derselben verlangt und in Ermangelung eines solchen vorschlgeschlagen wird, von kontingenten Momenten auszugehen (z.B. Thomas S. Kuhn).

    Es liegt nahe, dass der Ideologiebegriff von einer solchen Perspektivenverschiebung nicht unberührt bleibt. Er wurde zum Teil auch fallengelassen und (etwa bei Foucault) durch einen Machtbegriff ersetzt.

    Die Stärke der hist.Epistemologie sehe ich nun aber nicht – gewissermassen konstruktivistisch – darin, dass sie die Unterscheidung zwischen richtig und unrichtig hinfällig würde, sondern darin, dass sie etwas dazu beitragen kann, das WIE des Empiriebezugs angemessen zu fassen.

  29. #29 wendelin_b
    8. April 2012

    @Statistiker

    ad 1) Ich will gerade nicht auf einen Ideologievorwurf hinaus, sondern auf die Unzulänglichkeit desselben.

    ad 2) In der Theorie mag diese Alternative stimmen (wobei der Begriff Lüge wohl gerade wieder ein normatives Element einschmuggelt). In der Praxis dagegen bin ich nicht so sicher.

  30. #30 Joseph Kuhn
    8. April 2012

    Die Stärke der hist.Epistemologie sehe ich nun aber nicht – gewissermassen konstruktivistisch – darin, dass sie die Unterscheidung zwischen richtig und unrichtig hinfällig würde, sondern darin, dass sie etwas dazu beitragen kann, das WIE des Empiriebezugs angemessen zu fassen.

    So weit Konsens. Ob Foucault gut beraten war, den Ideologiebegriff (und korrespondierend) den Wahrheitsbegriff beiseite zu legen, weiß ich nicht. Nach meinem Empfinden hat er damit auch einiges an kritischem Potential aufgegeben und das Subjekt zu sehr in die Machtverhältnisse eingesponnen. Aber das ist eine andere Geschichte und führt doch etwas weg vom Anliegen der Memorandum-Autoren.

  31. #31 Dr. Webbaer
    10. April 2012

    Da der Markt aber als “gewachsene Ordnung” ein System ist, das wir nicht entworfen haben, “dazu waren wir nicht intelligent genug”, ist ihm gegenüber “Demut” geboten, das Individuum soll sich seinen Regeln unterwerfen (so Hayek, wörtliche und indirekte Zitate montiert, aber nicht sinnentstellend). Daran ist so ziemlich alles falsch. Märkte haben sich nicht einfach “entwickelt”, sie werden oft gezielt aufgebaut. (Dr. Kuhn)

    Dann ist der Dissens ja klar. Aus diesem Dissens und aus der an sich klaren Sicht Hayeks, dass moderne Systeme wie moderne Martsysteme evolutionär entstanden sind, also revolutionäres Herangehen von oben ein Systemwissen voraussetzt, das individuell nicht vorhanden ist, und stattdessen punktuelle Anpassungen ins Auge zu fassen sind dem Trial & Error-Prinzip folgend, kann aber nicht auf Elitismus geschlossen werden.

    Elitismus wäre eher gegeben, wenn eine Person spezielle Ideen hat und deren Umsetzung eisenhart durchzieht, sowas gab es ja schon, die entstandenen Systeme waren erfolglos bis verbrecherisch.

    Zum “Praktischen”: Künstlich aufgesetzte, in aller Regel staatlich gesponsorte Märkte entstehen regelmäßig im Kleinen, der US-amerikanische Subprime-Markt bspw., der spektakulär gescheitert ist oder der doitsche Subventionsmarkt mit den alternativen Energien – wobei die Hersteller in D im Kontext Photovoltaik in den letzten Monaten reihenweise weggebrochen sind.

    Niemand hat die aktuell gefahrenen Gesellschaftssysteme erfunden, die Philosophen der Aufklärung wie ihnen nachfolgende liberale Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler haben hier geschraubt und dieses Schrauben wird weitergehen. Sogar nach dem absehbaren EURO-Crash bzw. den Crash die Staatsfinanzen betreffend, und auch dann wird punktuell angepasst werden. Übrigens wird man sich dann auch überlegen, ob die Sozialindustrie, so wie aufgebaut, Sinn macht und nicht einen zu großen Überbau mit zu vielen Apparatschiks hat – Dr. W träte dann für Grundsicherungsmaßnahmen ein (“bed. Grundeinkommen inkl. kostenfreie Krankenbasisversorgung”), es wird bald so weit sein, schaun mer mal!

    MFG
    Dr. Webbaer

  32. #32 Joseph Kuhn
    10. April 2012

    Aus diesem Dissens (…) kann aber nicht auf Elitismus geschlossen werden

    Der Elitismus Hayeks besteht darin, dass er sich eine dumme Masse zusammenphantasiert, die zur Unterwerfung unter die Klugheit des Marktes bestimmt ist und durch Wahlen nur ihre Führer bestimmen darf, sonst nichts. Von der dummen Masse heben sich die “original thinkers” ab, die verstehen, wie die Dinge wirklich funktionieren.

  33. #33 Dr. Webbaer
    11. April 2012

    @Kuhn
    Da muss irgendwo ein Missverständnis vorliegen, beziehen Sie sich auf das Hayek-Essay von 1949, das hier verlinkt ist?: https://blog.mises.org/8405/the-intellectuals-and-socialism/
    Zitieren Sie bitte bestmöglich.

    MFG
    Dr. Webbaer

  34. #34 Joseph Kuhn
    11. April 2012

    Das wir nicht intelligent genug sind: z.B. in “Recht, Gesetzgebung und Freiheit”, hieraus auch die Formulierung von der “Entthronung der Politik”. Anderes z.B. aus dem “Weg zur Knechtschaft”.

  35. #35 Dr. Webbaer
    11. April 2012

    @Kuhn
    Sie haben hier eine elitistische Sicht entwickelt, die Hayek haben soll, aber aus Sicht des Schreibers dieser Zeilen nie hatte. Bitte belegen Sie diese doch mit Zitaten!

    Was Sie ansonsten anmerken, ist der Erkenntnisvorbehalt des Einzelnen, und die Konzepte der Schwarmintelligenz, die schon Hayek geläufig waren, jetzt zu Internetzeiten eine wachsende Rolle spielen, aber eben gerade nicht elitistisch sind. BTW, auch Dr. W ist hier nicht intelligent genug, ein original thinker, wie Sie wissen; Sie natürlich auch.

  36. #36 Joseph Kuhn
    11. April 2012

    Ein paar Zitate mit Quellen haben Sie doch, man könnte jetzt z.B. mit seinen Ausführungen zu den “Pflichten des Staatsphilosophen” gegenüber der Mehrheit aus dem 10. Kapitel des Buches “Die Verfassung der Freiheit” weitermachen, aber wohin soll weiteres Zitatesammeln führen? Je nach Zitatesammlung ließe sich, wenn man etwas sucht, auch ein ganz anderes Hayek-Bild zimmern. Nur – wie anders als “elitistisch”, um Ihren Begriff noch einmal aufzugreifen, soll man einen Menschen charakterisieren, der den Markt als “spontane Ordnung” sieht, die jeder Planung überlegen ist, der den Staat darauf reduzieren will, diese Ordnung zu schützen und daher die Demokratie in entsprechenden Grenzen sehen möchte, damit der Staat sich nicht zu viel anmaßt und der sogar ein strategisches Programm entwirft, wie dieses Denken in der Gesellschaft durchzusetzen ist (diesen Text auf mises.org haben Sie ja selbst verlinkt)? Diese Linie zieht sich durch sein ganzes Werk, daher mögen ihn die Wirtschaftsliberalen ja auch so gerne. Aber da Sie offensichtlich ein anderes Bild von ihm haben und behalten möchten, empfehle ich Ihnen das “Hayek Lesebuch” von Vanberg, dort finden Sie “ausgewogene” Texte und einen recht gemäßigten Hayek. Ich würde gerne die Hayek-Exegese an dieser Stelle beenden, Thema des Blogs war die von den Memorandum-Autoren beklagte geistige Vereinseitigung der Wirtschaftswissenschaften.

  37. #37 Dr. Webbaer
    11. April 2012

    Offenkundig ist man i.p. Elitismus anders positioniert, der eine findet bspw. Marx elitistisch, der andere Hayek, was aber in der Tat nicht “auszudiskutieren” ist. Tja, also mit dem “Memorandum” und dem Forderungskatalog viel Erfolg! Sie werden sicherlich ahnen, wie der Schreiber dieser Zeilen diesen Vorstoß einordnet. Aber es wird sicherlich bald einiges zu tun geben, wenn Spanien platzt oder gleich der gesamte EURO-Raum…

    MFG + weiterhin viel Erfolg!
    Dr. Webbaer

  38. #38 Joseph Kuhn
    16. April 2012

    Im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung ist heute (16.4.) ein Kommentar von Hanno Beck, einem Professor der Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Pforzheim, zu lesen. Er verteidigt den homo oeconomicus als unverzichtbare Modellannahme gegen das Anliegen der Memorandum-Autoren. Sein Gedankengang geht etwa so: Der homo oeconomicus gehe davon aus, dass Menschen rational handeln. Ginge man statt dessen davon aus, dass sie nicht rational handeln, sei ihr Handeln unberechenbar und somit wissenschaftlich nicht mehr zugänglich. Also müsse man, wenn man Wissenschaft betreiben wolle, beim homo oeconomicus bleiben.

    Das klingt irgendwie ganz vernünftig, ist es aber nicht. Dass Menschen “irgendwie rational” handeln, ist psychologisch gesehen trivial, sonst kann man nämlich nicht davon sprechen, dass sie überhaupt handeln. Irgendeine Art von Vernunft gehört konstitutiv zum Handlungsbegriff. Anders z.B. bei determiniertem Verhalten, z.B. Reflexen. Die Frage ist, welcher Art ist die Rationalität, der Menschen in ihrem Handeln folgen. Ist sie “ökonomisch” (in welchem Sinne auch immer), oder gibt es auch andere Rationalitätsformen? Wenn man letzteres ablehnt, wird das homo oeconomicus-Modell zur Leerformel, dann ist eben jedes Handeln per definitionem immer durch ökonomische Rationalität geprägt. Das ist ein terminologischer Taschenspielertrick. So ähnlich argumentieren Ökonomen in der Tradition Gary Beckers. Wenn es andere Rationalitätsformen gibt, ist die Schlussfolgerung Hanno Becks falsch, dann endet mit dem homo oeconomicus nicht die Wissenschaft, sondern die nur die neoklassische Modelltheorie und es beginnt die empirische Psychologie, d.h. die Suche nach den “subjektiv guten Gründen”, aus denen heraus Menschen handeln. Das ist der Punkt, auf den die Memorandum-Autoren hinaus wollen.

  39. #39 Dr. Webbaer
    16. April 2012

    @Kuhn
    Den Homo oeconomicus gibt es nur als Idealtypisierung für bestimmte Gebrauchsfälle, keineswegs ist gemeint, dass so das Wesen der Menschen (vs. Bären) verstanden werden kann. – Der Mensch (vs. Bär) handelt rational, aber auch das bleibt eine bloße Sicht und in etwa so wertvoll wie der Sozialdarwinismus-Gedanke oder das Survival of the Fittest unter ganz bestimmten Umständen. Er folge seinen Präferenzen oder einem Präferenzmodell, ginge auch. Wobei wieder Unschärfe besteht. – Übrigens würde vermutlich kein “richtiger” Homo oeconomicus bei Ihnen kommentieren.

    Bei den Memorandum-Kräften ginge es also erst einmal darum genau herauszufinden, neben den sachlichen Forderungen, mit welchen Modellen man dort zu arbeiten wünscht. – Und hier schwant Übles, zumindest Hanno Beck und dem Schreiber dieser Zeilen…

    MFG
    Dr. Webbaer

  40. #40 michael
    16. April 2012

    >Und hier schwant Übles, zumindest Hanno Beck und dem Schreiber dieser Zeilen…

    Bärchen, bei Bedarf bitte ein Papiertüte benutzen und nicht die Tastatur.

  41. #41 Joseph Kuhn
    16. April 2012

    @ Dr. Webbaer: Um welche “Modelle” menschlichen Handelns es den Memorandum-Autoren konkret geht, weiß ich nicht, dazu schreiben sie wenig. Der gute Herr Beck jedenfalls schreibt seltsames Zeug, weil er zwischen “rational”, “ökonomisch” und “eigennützig” nicht unterscheidet, weil er zwischen Modellvereinfachung und Realitätsfremdheit nicht unterscheidet, weil er zwischen Kritik an einer falschen Deskription, unangemessener Modellbildung und moralisch-normativer Kritik nicht unterscheidet, weil er nicht sieht, wo der homo oeconomicus Alltagsbewusststein reproduziert (und da in gewisser Weise durchaus realitätshaltig ist) und wo er theoretisch an der Sache vorbeigeht und nichts, aber auch gar nichts erklärt. Mit anderen Worten: Er ist “so schlau wie das Trompetentierchen” (so der Titel seines Kommentars), aber ein wenig mehr hätte man von einem Professor der Volkswirtschaftslehre schon erwartet.

  42. #42 Dr. Webbaer
    17. April 2012

    Hier mal was Lustiges zum Homo oeconomicus, als Beispiel wie es gar nicht geht:
    https://www.scienceblogs.de/kritisch-gedacht/2010/04/bundesprasidentenwahl-in-osterreich-wahlen-gehen-ist-irrational.php

    MFG
    Dr. Webbaer (der u.a. den Homo oecologistimus wittert oder den Homo oecosocialistimus oder gar Homo linkibus)

  43. #43 michael
    17. April 2012

    >(der u.a. den Homo oecologistimus wittert oder den Homo oecosocialistimus oder gar Homo linkibus)

    Ha, es roch gerade nach Homo Bärenstuss. ?

  44. #44 Dr. Webbaer
    18. April 2012

    Letztlich wittert der Schreiber dieser Zeilen natürlich bei jenen Memorandum-Autoren bezogen auf die Wirtschaftswissenschaften die Schaffung des Homo omnibus, korrekt!

    Womit die oben erfolgte Kritik am falschen Gebrauch des Denkmusters ‘Homo oeconomicus’ aber nicht zurückgenommen werden soll.

    MFG
    Dr. Webbaer

  45. #45 Joseph Kuhn
    18. April 2012

    “Dr. Webbaer (der u.a. den Homo oecologistimus wittert oder den Homo oecosocialistimus oder gar Homo linkibus)”

    Fixe Ideen verstellen den Blick auf die Wirklichkeit. In jeder Form.

  46. #46 Dr. Webbaer
    18. April 2012

    Fixe Ideen braucht man für die Bearbeitung bestimmter Anforderungslagen. Der Homo oeconomicus ist denn auch bei der Bearbeitung bestimmter betriebswirtschaftlicher Fragestellungen hilfreich; das Analytical Processing, heute auch: Online Analytical Processing (OLAP), kommt ohne dem Homo oeconomicus praktisch nicht aus und funktioniert genau deshalb, Einschränkungen gerne bspw. hier entnehmen, durchaus. Wobei die Weichheit der Analyse bekannt sein darf oder sollte bzw. das modellhafte der Sache oder des Vorhabens.

    Der Falschgebrauch des Homo oeconomicus ist leider aber auch üblich.

    MFG
    Dr. Webbaer (der hofft hinreichend klar gewesen zu sein)