Die Gesellschaft für kritisches Denken in Österreich, in der Scienceblogger-Kollege Ulrich Berger aktiv ist, hat gerade eine „Initiative für Wissenschaftliche Medizin“ auf den Weg gebracht. Die Initiative kritisiert die Zertifizierung problematischer Behandlungsverfahren durch die Österreichische Ärztekammer.
Hier kommt ein Dilemma des modernen Medizinbetriebs zum Ausdruck, das keine österreichische Besonderheit ist, sondern das es genauso in Deutschland gibt. Einerseits sollen in der Medizin wirksame Behandlungsverfahren zur Anwendung kommen. Krankenkassen in Deutschland dürfen z.B. eigentlich nur wirksame Leistungen erstatten. § 2 (1) des Fünften Sozialgesetzbuchs (SGB V), das die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen festlegt, sagt ganz klar: „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.“ Sehr gut, so soll es sein, schließlich soll das Geld der Versicherten nicht zum Fenster hinausgeworfen werden. Allerdings steht im gleichen Paragraphen einen Satz vorher: „Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen.“ In § 135 SGB V hat man dieses Oxymoron noch etwas verfeinert und die Finanzierung neuer Verfahren an den „jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung“ geknüpft. Es genügt der „Binnenkonsens“ der besonderen Therapierichtungen, egal was die Wissenschaft ansonsten dazu sagen mag. Im Arzneimittelrecht findet sich übrigens die gleiche Konstellation, auch da werden z.B. für Homöopathika Ausnahmen vom eigentlich notwendigen wissenschaftlichen Nachweis der Wirksamkeit gemacht.
Wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise ja, aber bitte so, dass dabei keiner der etablierten Marktteilnehmer unter die Räder der Wirksamkeitsforschung kommt – § 135 SGB V ist kognitive Dissonanz auf juristisch höchstem Niveau. Die Krankenkassen folgen dem gerne, denn die „besonderen Therapierichtungen“, z.B. die Homöopathie, werden besonders von einem Teil der „guten Risiken“ nachgefragt, also Versicherten, die mehr Geld bringen als sie kosten. Man will ihnen ein attraktives Angebot machen. Marktprinzipien eben. Umso besser, wenn man dazu den Kundenwunsch in eine scheinbar wissenschaftlich legitime Bedarfsorientierung ummünzen kann. Die besonderen Mittelchen und Behandlungsverfahren sind, so setzt sich diese Logik fort, folglich auch Gegenstand der Verteilungskämpfe unter den Heilberufen. Eine Zertifizierung durch die Ärztekammer wirkt da wie ein Qualitätssiegel dafür, dass Ärzte besonders gut im Besonderen und Absonderlichen sind. Das haben Heilpraktiker (die es in Österreich aber nicht gibt) eben nicht zu bieten.
Dagegen wendet sich nun, wie gesagt, die „Initiative für Wissenschaftliche Medizin“ in Österreich. Ich nutze diese Gelegenheit einmal, um darauf hinzuweisen, dass nächste Woche in Berlin der diesjährige Kongress des Deutschen Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin stattfindet und dass das EBM-Netzwerk auch eine österreichische Gruppe hat.
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