Für aufgeklärte Zeitgenossen ist der Glaube an Wunder ein Grund zum Kopfschütteln. Wunder passen nicht mehr in die Zeit. Heute gründen wir Aussagen über die Welt auf Tatsachen und als Tatsachen gilt, was öffentlich nachprüfbar ist und sich ins Gesamtbild unseres Weltverständnisses fügt. Da mag es etwas paradox anmuten, dass früher durchaus auch Wunder diese Funktion erfüllt haben. Sie waren nicht aufzuklärende Rätsel, sondern damit wurden Rätsel erklärt. Das Wunder hatte Beweiskraft. Die Verschwinden der Wunder aus dem Repertoire der Beweismittel im Zuge der Entwicklung der neuzeitlichen Rationalität hat z.B. Lorraine Daston von 20 Jahren in ihrem Buch „Wunder, Beweise und Tatsachen“ nachgezeichnet.
Das Wunder ist dennoch unter uns, die Skeptikerbewegung gräbt immer neue Beispiele aus, von Botschaften aus dem Jenseits bis hin zur Wirkung der Homöopathie. In dem Zusammenhang hat mich der Kommentator „bote19“, der hier im Blog unter verschiedenen Pseudonymen (lange z.B. als „Robert“) hunderte von Kommentaren geschrieben hat, auf eine Idee gebracht. Die Kommentare von „bote19“ sind Glaubensbekenntnisse. Er vertritt eine Art christlichen Kinderglauben und er glaubt daran, dass man der Frage der Wirksamkeit der Homöopathie mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht gerecht wird.
Und ich glaube, das passt gut zusammen. Die Anhänger der Homöopathie sind davon überzeugt, dass durch Verdünnen und Schütteln „geistartige Kräfte“ aus einer wirkstofflosen Flüssigkeit auf Zuckerkügelchen übergehen und von dort irgendwie in den Körper. Dass es auch homöopathische Mittel gibt, in denen noch Wirkstoffe nachweisbar sind, egal was sie nun bewirken mögen, muss hier nicht interessieren, es geht um die geheimnisvolle Transsubstantiation des Zuckers durch die „geistartigen Kräfte“. Sie machen aus Zucker ein Medikament.
Christen, die glauben, was die Kirche sagt, glauben auch an eine Transsubstantiation, nämlich die von Brot und Wein in Leib und Blut Christi bei der Wandlung. Das ist nicht als symbolischer Vorgang gemeint, sondern als echte „Wandlung“ des Wesens von Brot und Wein. Auf der Internetseite der Katholischen Kirche, katholisch.de, kann man dazu nachlesen: „Es ist die Substanz, das Wesen, das sich wandelt und zu Leib und Blut Christi wird.“ Diesen übernatürlichen (!) Vorgang könne man aber trotzdem durch den Verstand nachvollziehen:
„Aristoteles hat für einen solchen Fall ein sehr anschauliches Beispiel: nämlich das einer Türschwelle. Durch sinnliche Wahrnehmung alleine kann man sie höchstens als ein Stück Holz einer bestimmten Form definieren. Erst der Verstand sagt dem Betrachter, dass dieses Stück Holz an einer bestimmten Position eine bestimmte Funktion erfüllt und so zur Türschwelle wird. Verändert man die Position, hört die Türschwelle auf eine solche zu sein.“
Das ist magisches Denken. Von mir aus auch ein Relikt des mittelalterlichen Universalienrealismus. In der Kirche verändert das Wort des Pfarrers das Wesen der Dinge, in der Homöopathiefirma macht im Prinzip auch das Wort das Wunder, mehr als die Behauptung der Wirksamkeit gibt es ja nicht. Nur die Rituale unterscheiden sich etwas, der Messwein wird z.B. kaum verdünnt. Den Christen geht es bei alldem um die „reale Gegenwart“ Christi, die nicht erst am Ende aller Tage erfahrbar sein soll. Ich glaube ja, diese „reale Gegenwart“ sollten sie eher im Leid der Flüchtlinge suchen, die im Mittelmeer ertrinken, oder der Kinder, die in Afrika verhungern, aber das ist eine andere Geschichte.
Das Zitat der katholischen Kirchenseite gibt der Wortmagie übrigens noch eine besonders aparte Note, weil es das Wesen der Dinge an ihre Funktion bindet. Wenn man also die Türschwelle z.B. verheizt, heizt man gar nicht mit der Türschwelle, denn sie ist ja keine mehr. Wer mit einer Tomate bei einer Demo wirft, der wirft kein Nahrungsmittel, denn mit dem Werfen ist es zu einer Wurfwaffe geworden, transsubstantiiert. Natürlich kann man nach dieser Logik auch keine Lebensmittel wegwerfen. Sie werden dadurch zu Wegwerfmitteln oder Mülltonneninhaltsstoffen.
Für Katholiken hat der Glaube an die Transsubstantiation dogmatische Strenge. Papst Paul VI. ließ daran in seiner Enzyklika „Mysterium fidei“ aus dem Jahr 1965 keinen Zweifel. Aber wer verlangt, dass die Kirchenmitglieder an so etwas zu glauben haben, stellt in der heutigen Zeit, sofern man nicht die Gnade von Hanlon’s Law gewähren will, schlicht einen Gesslerhut auf. Hier wird der Verzicht auf das Denken zugunsten eines unsinnigen Glaubens diktiert. Vor 1.000 Jahren, als man auch sonst noch an Wunder, Hexen und Dämonen geglaubt hat, an „geistartige Kräfte“ aller Art, konnte man das noch anders sehen, die „Konzeptkonformität“ (Lorraine Daston) war gegeben. Aber heute? Im Ernst?
Ob man die homöopathische Lehre als säkularisierte Verfallsform der christlichen Transsubstantiationslehre betrachten muss? Also eher ein aus der Zeit gefallener Wunderglaube als eine moderne Pseudowissenschaft?
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