Kellner und Lungenkrebs
In den letzten Jahren ist immer wieder das Gesundheitsrisiko von Kellnern infolge ihrer beruflichen Tabakrauchbelastung diskutiert worden. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass Kellner ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko haben, z.B. die NOCCA-Studie, der Daten von 15 Mio. Menschen zugrunde liegen. Besonders verwunderlich ist das nicht, schließlich rauchen in diesem Beruf viele Beschäftigte und die Passivrauchbelastung war zumindest in der Vergangenheit auch nicht unerheblich. Romano Grieshaber, Honorarprofessor für Angewandte Prävention und Gesundheitsförderung an der Universität Jena, sieht die Dinge anders. Er behauptet, er hätte gezeigt, dass Kellner sogar ein geringeres Lungenkrebsrisiko hätten als die Allgemeinbevölkerung.
Vor ein paar Tagen hatte ich im Blogbeitrag zu Beda Stadler bereits kurz die gewagte Krebsepidemiologie Grieshabers kommentiert (siehe dort meinen Kommentar vom 23.9.).
Da Grieshaber immer wieder auf diese Daten zu sprechen kommt, sollen sie doch einmal etwas ausführlicher vorgestellt werden. Dieser Blogbeitrag ist daher ein gutes Stück länger geworden als üblich, aber am Ende ist man dafür auch ein gutes Stück klüger.
Grieshabers Daten …
Ich habe keine Publikation gefunden, in denen Grieshaber seine Daten systematisch vorstellt, daher beziehe ich mich im Folgenden auf die entsprechenden Passagen in seinem Buch „Passivrauchen“. Dort schreibt er auf Seite 37:
“Unsere Ergebnisse sind von verschiedener Seite angezweifelt worden, deshalb an dieser Stelle Genaueres über die Daten, die wir, wie erwähnt, einem übergeordneten Forschungsprojekt entnommen hatten.“
Eine Seite weiter präsentiert er dann die Daten, die seinem Befund mit den niedrigeren Lungenkrebsraten bei Kellnern zugrunde liegen:
Bei den männlichen Kellnern steht also eine Rate von 1,08 pro 10.000 Versicherten einer Rate von 2,47 pro 10.000 Einwohnern gegenüber, bei den weiblichen Kellnern eine Rate von 0,61 pro 10.000 Versicherten einer Rate von 1,15 pro 10.000 Einwohnerinnen. Ergo, so Grieshaber, ist das Lungenkrebsrisiko der Kellner niedriger als in der Allgemeinbevölkerung.
… und was davon zu halten ist
Schaut man sich die Daten an, springt sofort die kleine Zahl von Lungenkrebsfällen ins Auge, auf denen die Ratenberechnung für die Kellner beruht. Bei den Männern waren es 3 Fälle in 7 Jahren, bei den Frauen 4 Fälle in sieben Jahren. Wer auf solcher Datenbasis so weitreichende Folgerungen ziehen will wie Grieshaber, muss sehr sorgfältig vorgehen, aber bei Grieshabers Umgang mit diesen Daten kann man nur den Kopf schütteln.
Wenn man eine so große erwartungswidrige Ratendifferenz hat, stellt sich vor allem die Frage nach der Zuverlässigkeit der Daten. Immerhin, ein Problem spricht auch Grieshaber auf Seite 40 seines Buches in diesem Zusammenhang an: dass die meisten Lungenkrebsfälle erst im Rentenalter auftreten, er also keine Aussage zum Lebenszeitrisiko der Kellner machen könne. Das ist richtig und damit wird natürlich ein ganz wichtiger Aspekt des Themas einfach ausgeklammert. Wenn die Kellner aus irgendwelchen Gründen tatsächlich während ihres Berufslebens ein geringeres Lungenkrebsrisiko hätten (was sie nicht haben), aber anschließend viel häufiger als die Allgemeinbevölkerung an Lungenkrebs erkranken und Jahre früher sterben würden, so wäre das ja alles andere als eine Entwarnung, was die Risiken ihres Berufs angeht. Das ist Epidemiologie nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“.
Grieshaber zieht auf der gleichen Seite seines Buches folgendes Fazit:
„Eine Aussage, was das Lebenszeitrisiko der untersuchten Berufsgruppen betrifft, konnte durch die Daten der BGN also nicht getroffen werden. Aber bis zum Alter von 59 Jahren lässt sich mit ausreichender Sicherheit feststellen, dass das Berufszeitrisiko der Kellner, an Lungenkrebs zu erkranken, (…) niedriger liegt als das Risiko der Wohnbevölkerung desselben Alters (…).“
„Mit ausreichender Sicherheit“ also. Diese Zuverlässigkeit liefern seine Daten aber nicht:
1. Bei diesen kleinen Fallzahlen darf kein Fall übersehen werden, weil das darauf gestützte Rechenwerk extrem empfindlich auf fehlende Fälle reagiert. Ich komme darauf weiter unten noch einmal zurück. Dass die Arbeitsunfähigkeitsdaten ein so hohes Maß an Zuverlässigkeit bieten, das jedenfalls kann „mit ausreichender Sicherheit“ ausgeschlossen werden. Beispielsweise werden nebenberuflich tätige Kellner bei den Krankenkassen nicht als Kellner geführt, ihre Fallzahlen fehlen. Weiterhin sind nicht alle Kellner sozialversicherungspflichtig beschäftigt, auch die Erkrankungsfälle dieser Gruppe fehlen. Des Weiteren sind die Berufsangaben in den Stammdaten der Krankenkassen nicht immer aktuell. Fälle gehen vermutlich auch durch einen healthy worker effect verloren, darauf deutet die Altersverteilung der Versicherten hin (siehe dazu auch Punkt 6). Ebenso ist die Validität der Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen begrenzt. Es kann z.B. vorkommen, dass bei der Krankschreibung die Krebserkrankung nicht als die Arbeitsunfähigkeit begründende Diagnose dokumentiert wird bzw. dass die Lungenkrebsdiagnose nur als Nebendiagnose dokumentiert wird. Ob Nebendiagnosen überhaupt durchgesehen wurden, kann man Grieshabers Darstellung nicht entnehmen. Man hätte eine Datenvalidierung vornehmen können, wenn man nicht nur die Arbeitsunfähigkeitsdaten herangezogen hätte, sondern auch Abrechnungsdaten über durchgeführte Behandlungen. Das ist offensichtlich nicht geschehen.
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