9. Das ganz kleine 1×1 der Epidemiologie hat Grieshaber auch noch in einem anderen Punkt nicht beachtet. Seine „Stichproben“, wenn man hier von Stichproben sprechen will, sind zwar recht groß: Bei den Registerdaten sind es 12 Mio. Menschen, bei den Krankenkassendaten zu den Kellnern fast 100.000 Versicherte. Richtige Zufallsstichproben sind es allerdings nicht, beides sind gegenüber einer wie auch immer zu definierenden Grundgesamtheit verzerrte Stichproben, z.B. infolge der regionalen Einschränkungen bzw. der Kassenauswahl. Aber lassen wir das einmal dahingestellt. Bei so großen Stichproben sind normalerweise fast alle Unterschiede statistisch signifikant. Berechnet man aber für Grieshabers kleine Raten bei den Kellnern ein exaktes Clopper-Pearson-Konfidenzintervall zur Vertrauenswahrscheinlichkeit von 95 %, so erlebt man auch eine kleine Überraschung: Für die rohe Rate 1,08 der männlichen Kellner reicht es von 0,22 bis 3,16, für die rohe Rate 0,61 der Kellnerinnen von 0,17 bis 1,56. Diese Konfidenzintervalle schließen die Raten aus der Allgemeinbevölkerung ein, d.h. der Unterschied, den Grieshaber gegen die gesammelte wissenschaftliche Evidenz geltend macht, wäre nicht einmal statistisch signifikant.
Schlechte Daten, schlechte Taten
Man könnte weitere Schwachstellen diskutieren, ich verzichte darauf, weil spätestens anhand der letzten beiden Punkte klar geworden sein dürfte, dass diese Daten sich „mit ausreichender Sicherheit“ nicht für die weitreichenden Aussagen Grieshabers eignen. Grieshaber hat hier – aus welchen Motiven auch immer – einen im Wortsinne unvergleichlichen Zahlenbrei präsentiert, der aufgrund der großen Populationszahlen Eindruck schinden soll, aus dem aber nichts von dem abzuleiten ist, was er behauptet. Epidemiologie geht anders.
Und noch eine Anmerkung zum eigentlichen Anliegen Grieshabers: Selbst wenn die Lungenkrebsrate der Kellner niedriger läge als die der Allgemeinbevölkerung – was nicht der Fall ist -, würde das natürlich nicht belegen, dass Tabakrauch das Lungenkrebsrisiko der Kellner nicht erhöht. Es würde dann ohne Tabakrauch eben noch niedriger liegen. Bei dieser Frage geht es um das tabakrauch-attributable Risiko, für dessen Ermittlung epidemiologische Studien mit Confounder-Kontrolle nötig sind, wie zu betonen ansonsten auch Grieshaber nicht müde wird. Sein Ratenvergleich ist von solchen Studiendesigns meilenweit entfernt – jede Milchmädchenrechnung hat mehr zu bieten. Insofern hat der Journalist Dietmar Jazbinsek schon vor Jahren alles zur Grieshaberschen Rechenkunst gesagt, was zu sagen ist: Das ist “Gequassel für den Qualm”.
Umso ärgerlicher ist es, dass Grieshaber seine Zahlenspielereien nach wie vor unverdrossen gegen einen besseren Nichtraucherschutz in der Gastronomie in Stellung bringt, derzeit im Zusammenhang mit der Novellierung des Nichtraucherschutzes in Nordrhein-Westfalen. Er kämpft gegen die Prävention unter dem Deckmantel der Wissenschaft – und das als Professor für Angewandte Prävention und Gesundheitsförderung. O tempora, o mores.
Nachtrag 11.10.2012: Ein Kollege hat mich nach dem Konfidenzintervall für die SIR gefragt. Bei den kleinen Fallzahlen kann man z.B. auf der Grundlage der Poissonverteilung ein Konfidenzintervall nach Breslow/Day berechnen. Es reicht für die SIR von 0,7 bei den Männern von 0,14 bis 2,04 und für die SIR von 0,96 bei den Frauen von 0,26 bis 2,46. Die SIR ist auf “1” normiert, d.h. wenn die 1 im Konfidenzintervall liegt, ist der Unterschied der Untersuchungspopulation (Kellner) gegenüber den Referenzpopulation (Krebsregister) statistisch nicht signifikant. Zur Methode siehe Breslow/Day: Statistical methods in cancer research, 1987. Vorsicht Herr Grieshaber, das ist eine WHO/IARC-Publikation.
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