Man könnte Sandels Beispielliste problemlos verlängern, etwa was die auch hier schon wiederholt diskutierte Kommerzialisierung der Gesundheit angeht, das disease mongering, die perversen Anreizstrukturen von Chefarztverträgen über Operationsmengen oder – etwas subtiler, aber nicht weniger problematisch – Stiftungslehrstühle, die zuweilen Fragen an die wissenschaftliche Integrität der dort betriebenen Forschung aufwerfen können.
Die Moral der Märkte
Sandel arbeitet zwei zentrale Prüfpunkte heraus, die bei der Entscheidung helfen sollen, ob man etwas mit einem Preis versehen und als Produkt handeln soll oder nicht. Zum einen fragt er, ob die Vermarktung einer Sache Fairnessregeln verletzt, ob z.B. Ärmere zu letztlich unfreiwilligen Verträgen animiert werden, zum anderen fragt er, und das sieht er als den wichtigeren Punkt, ob die Vermarktung einer Sache deren moralische Bewertung verändert und ob das mit der Bepreisung eingeführte Interesse an Geld andere moralische Normen verdrängt. Dass es dies gibt, belegt er mit Studien zu ökonomisch paradoxen Anreizen: Manchmal nimmt mit der Einführung finanzieller Anreize das erwünschte Verhalten ab statt zu, z.B. wenn sich Bürger plötzlich in ihrem freiwilligen Engagement nicht mehr gewürdigt sehen. Manche Ökonomen, so Sandel, verfolgen die „moralische Entlastung“ der Gesellschaft geradezu als Programm, sie sehen wie schon Adam Smith den Eigennutz als stabilere Grundlage der Gesellschaft an. Das lehnt Sandel als moralisches Zersetzungsprogramm ab. Sandel steht dem Kommunitarismus nahe, das kommt hier zum Tragen.
Pädagogisch wertvoll für Rösler?
Sandels Buch ist mit typisch amerikanischem Pragmatismus geschrieben, leicht zu lesen und trotzdem ausgesprochen lehrreich. Es wäre auch Herrn Rösler zu empfehlen, als Heilmittel gegen seinen allzu schlichten Glauben an freie Märkte. Es gibt keine „unsichtbare Hand“ der Märkte, die alles gut macht, das ist nur das „Gespenst des Kapitals“, wie Joseph Vogl es so schön formuliert hat. Wenn alles seinen Preis hat und sich die Motive unseres sozialen Zusammenlebens auf den Preisvergleich reduzieren, führt das eben nicht zwangsläufig zur besten aller Welten. Durch Lesen (gerne mit finanziellem Anreiz motiviert) neu gewonnene Einsichten könnte Rösler für die Überarbeitung seines Positionspapiers gut gebrauchen. Er fordert dort z.B. die weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und will noch mehr Erleichterungen für befristete Arbeitsverhältnisse. Dabei arbeitet nach Angaben des Statistischen Bundesamtes schon heute fast jeder 10. Arbeitnehmer befristet, bei den Berufseinsteigern fast jeder Zweite. Sandel ist ein eher liberaler Denker, aber einer, der sich über die moralischen Grenzen des Marktes Gedanken macht. Eine Politik, die Märkte so organisiert, dass die Beschäftigten immer mehr zur ökonomischen Verschiebemasse werden und zugleich den Finanzspekulanten anstrengungsloser Wohlstand garantiert ist, sähe er wohl, um einen Spruch des FDP-eigenen Moralphilosophen Westerwelle zu zitieren, als einen Akt spätrömischer Dekadenz.
Sandel formuliert am Ende seines Buches, wohin die ungehemmte Vermarktung aller Lebensbereiche führt, es dürfte keine liberale Vision sein: „In einer Zeit zunehmender Ungleichheit läuft die allumfassende Kommerzialisierung des Lebens darauf hinaus, dass Arme und Reiche zunehmend getrennte Leben führen. Wir arbeiten und kaufen und spielen an verschiedenen Orten. Unsere Kinder besuchen verschiedene Schulen, unsere Lebenswelten schotten sich voneinander ab. Dies dient weder der Demokratie noch unserer Lebensqualität.“
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