Vor ein paar Tagen hat Wirtschaftsminister Rösler ein Positionspapier „Wachstum und Stabilität in schwierigem Umfeld sichern“ veröffentlicht. Unter der Überschrift „Neue Märkte erschließen – im Inland und im Ausland“ fordert er dort z.B.: „Keine Hemmnisse bei der Entfaltung neuer Märkte durch überzogene Anforderungen (etwa an Daten- und Verbraucherschutz).“ Man stutzt etwas bei dieser Formulierung, weil es bei neuen Märkten schließlich zunächst um den Nutzen für den Verbraucher gehen sollte, wie kann da Verbraucherschutz stören? Hier scheint vermutlich das markttheologische Credo mancher Kreise in der FDP durch, der Glaube, dass Märkte an sich erstrebenswert sind. Aber die unglückliche Röslersche Gegenüberstellung von Märkten und Verbraucherinteressen einmal beiseitegelassen, ist es letztlich nicht völlig richtig, überall Märkte und auch möglichst freie Märkte zu etablieren? Bringen sie die Verbraucherinteressen nicht am besten zur Geltung? Regeln Märkte die Dinge nicht effizienter als staatliche Bürokratie? Verteilen sie Güter nicht so, dass der gesellschaftliche Nutzen am größten ist? Sollte daher nicht alles seinen Preis haben?
… und Michael Sandels Bedenken
Michael J. Sandel sähe in Röslers Papier sicher einen Beleg für seine These, dass wir nach wie vor in einer Zeit des Triumphs der Märkte leben, Weltfinanzkrise hin oder her. Sandel lehrt Philosophie in Harvard und vor kurzem ist sein Buch „What Money Can’t Buy“ auf Deutsch erschienen, unter dem Titel „Was man für Geld nicht kaufen kann“. Darin geht es um die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, alle Lebensbereiche möglichst marktförmig zu organisieren und alles käuflich zu machen. Seine Antwort ist klar: Nein.
Die Beispiele, die Sandel anführt, um zum Nachdenken über dieses Thema anzuregen, sind alltagsnah: Soll man Kinder zum Lesen motivieren, indem man ihnen dafür so viel Geld gibt, dass es für sie interessant wird, Bücher lesen? Oder ersetzt man damit ungewollt das Interesse am Lesen durch das Interesse am Geld und fördert noch dazu kurzfristiges Renditedenken, verdirbt Geld hier also den Charakter? Soll das Recht zur Jagd auf geschützte Nashörner in begrenztem Umfang gehandelt werden, damit ein Markt entsteht, der den Schutz von Nashörnern lohnend macht? Oder ist das nicht sinnvoll, weil damit zugleich der Abschuss der Tiere legitimiert wird, statt ihn moralisch zu ächten? Soll man Polizeiautos mit Firmenwerbung fahren lassen, wenn dadurch die öffentlichen Haushalte entlastet werden, oder geht dadurch etwas von der Autorität und Neutralität der Polizei verloren? Soll der Zugang zu Politikern mit einem Preis versehen und „verkauft“ werden, es handelt sich schließlich um ein knappes Gut? Oder ist es moralisch anrüchig, wenn Politikertermine auf diese Weise käuflich werden? Das war übrigens Anfangs 2010 in Deutschland ein heißes Eisen. Damals wurde bekannt, dass die CDU in NRW bei ihrem Landesparteitag Einzelgespräche mit dem damaligen Ministerpräsidenten Rüttgers für 20.000 Euro angeboten hat. Der NRW-CDU-Generalsekretär Hendrik Wüst musste deswegen seinen Hut nehmen, die Öffentlichkeit empfand diesen Handel offensichtlich moralisch nicht in Ordnung. Was den Zugang zu Politikern angeht, argumentiert Sandel, hier sei die Zuteilung über Warteschlangen vorzuziehen. Die Politik verliere an Würde, wenn sie zur Handelsware gemacht werde, zumal Märkte hier keinen größeren gesellschaftlichen Nutzen stiften als die Warteschlange.
Pragmatisches Argumentieren
Sandel dekliniert dieses pro und contra an zahlreichen weiteren Fällen durch, von kostenpflichtigen fast tracks am Flugschalter, dem Handel mit Organen und Arztterminen, der Frage, ob man Kinder verkaufen dürfe oder Emissionsrechte handeln solle, bis hin zur Käuflichkeit von Freunden, Ehrungen und Titeln. Mal kommt er zum Ergebnis, dass man die Dinge gut mit einem Preis versehen und auf Märkten handeln kann, mal kommt er zu einem anderen Ergebnis, etwa weil eine „Bepreisung“ die moralischen Normen von Entscheidungen in unerwünschter Weise verändert. Was wäre beispielsweise ein gekaufter Nobelpreis noch wert, fragt er zu recht. Je nachdem, um was es geht, können andere Verteilungsverfahren wie die Warteschlange, Bedürftigkeit oder Eignung besser sein, oder auch der Verzicht darauf, etwas überhaupt als Produkt anzubieten. Recht makaber geht es im Kapitel „Das Geschäft mit dem Tod“ zu. Dort diskutiert Sandel die in den USA relativ häufigen “corporate owned life insurences“ (die in einigen Fällen fast so etwas wie steuerbegünstigte Unternehmenswetten auf den Tod von Angestellten sind) oder Wetten auf den Tod von Prominenten, ein Geschäft, dessen volkswirtschaftlicher Nutzen an sich nur schwer zu begründen sein dürfte.
Man könnte Sandels Beispielliste problemlos verlängern, etwa was die auch hier schon wiederholt diskutierte Kommerzialisierung der Gesundheit angeht, das disease mongering, die perversen Anreizstrukturen von Chefarztverträgen über Operationsmengen oder – etwas subtiler, aber nicht weniger problematisch – Stiftungslehrstühle, die zuweilen Fragen an die wissenschaftliche Integrität der dort betriebenen Forschung aufwerfen können.
Die Moral der Märkte
Sandel arbeitet zwei zentrale Prüfpunkte heraus, die bei der Entscheidung helfen sollen, ob man etwas mit einem Preis versehen und als Produkt handeln soll oder nicht. Zum einen fragt er, ob die Vermarktung einer Sache Fairnessregeln verletzt, ob z.B. Ärmere zu letztlich unfreiwilligen Verträgen animiert werden, zum anderen fragt er, und das sieht er als den wichtigeren Punkt, ob die Vermarktung einer Sache deren moralische Bewertung verändert und ob das mit der Bepreisung eingeführte Interesse an Geld andere moralische Normen verdrängt. Dass es dies gibt, belegt er mit Studien zu ökonomisch paradoxen Anreizen: Manchmal nimmt mit der Einführung finanzieller Anreize das erwünschte Verhalten ab statt zu, z.B. wenn sich Bürger plötzlich in ihrem freiwilligen Engagement nicht mehr gewürdigt sehen. Manche Ökonomen, so Sandel, verfolgen die „moralische Entlastung“ der Gesellschaft geradezu als Programm, sie sehen wie schon Adam Smith den Eigennutz als stabilere Grundlage der Gesellschaft an. Das lehnt Sandel als moralisches Zersetzungsprogramm ab. Sandel steht dem Kommunitarismus nahe, das kommt hier zum Tragen.
Pädagogisch wertvoll für Rösler?
Sandels Buch ist mit typisch amerikanischem Pragmatismus geschrieben, leicht zu lesen und trotzdem ausgesprochen lehrreich. Es wäre auch Herrn Rösler zu empfehlen, als Heilmittel gegen seinen allzu schlichten Glauben an freie Märkte. Es gibt keine „unsichtbare Hand“ der Märkte, die alles gut macht, das ist nur das „Gespenst des Kapitals“, wie Joseph Vogl es so schön formuliert hat. Wenn alles seinen Preis hat und sich die Motive unseres sozialen Zusammenlebens auf den Preisvergleich reduzieren, führt das eben nicht zwangsläufig zur besten aller Welten. Durch Lesen (gerne mit finanziellem Anreiz motiviert) neu gewonnene Einsichten könnte Rösler für die Überarbeitung seines Positionspapiers gut gebrauchen. Er fordert dort z.B. die weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und will noch mehr Erleichterungen für befristete Arbeitsverhältnisse. Dabei arbeitet nach Angaben des Statistischen Bundesamtes schon heute fast jeder 10. Arbeitnehmer befristet, bei den Berufseinsteigern fast jeder Zweite. Sandel ist ein eher liberaler Denker, aber einer, der sich über die moralischen Grenzen des Marktes Gedanken macht. Eine Politik, die Märkte so organisiert, dass die Beschäftigten immer mehr zur ökonomischen Verschiebemasse werden und zugleich den Finanzspekulanten anstrengungsloser Wohlstand garantiert ist, sähe er wohl, um einen Spruch des FDP-eigenen Moralphilosophen Westerwelle zu zitieren, als einen Akt spätrömischer Dekadenz.
Sandel formuliert am Ende seines Buches, wohin die ungehemmte Vermarktung aller Lebensbereiche führt, es dürfte keine liberale Vision sein: „In einer Zeit zunehmender Ungleichheit läuft die allumfassende Kommerzialisierung des Lebens darauf hinaus, dass Arme und Reiche zunehmend getrennte Leben führen. Wir arbeiten und kaufen und spielen an verschiedenen Orten. Unsere Kinder besuchen verschiedene Schulen, unsere Lebenswelten schotten sich voneinander ab. Dies dient weder der Demokratie noch unserer Lebensqualität.“
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