Gestern, am 22.2.2013, war in der Süddeutschen auf Seite 2 ein Kommentar von Philipp Tingler zu lesen: „Rettet den Liberalismus!“. Ausweislich der Süddeutschen ist Philipp Tingler Schriftsteller, Philosoph und Ökonom, ein allseitig gebildetes Individuum also. Das macht sich in seinem Kommentar auch überall bemerkbar, durch tiefe, zu tiefe Bemerkungen zum Liberalismus in unserer Gesellschaft.
Tingler stellt fest, der Liberalismus würde heutzutage geringgeschätzt, natürlich, weil die Kritiker des Liberalismus keine Ahnung haben: „Die meisten dieser Kreuzritter gegen den vermeintlichen Neoliberalismus wissen gar nicht, was Liberalismus bedeutet“. Er weiß es dafür ganz genau: „Der Liberalismus ist die Philosophie des freien Individuums, der rechtlichen Freiheit und der politischen Institutionen der Freiheitsverwirklichung.“ Mit diesen politischen Institutionen meint er vermutlich nicht den Verbraucherschutz oder den Arbeitsschutz, also Institutionen, die davor schützen, dass unsere Freiheit von den wirtschaftlich Mächtigen zu sehr eingeschränkt wird. Schließlich ist er keiner von diesen „bleeding heart libertarians“, die da meinen, ein Staat, der dafür sorgt, dass der Mensch dem Menschen nicht zum Wolf wird, hätte irgendetwas mit liberalem Denken zu tun. Lächerlich: „Es gibt keine Freiheit ohne den freien Markt.“ Der Staat ist bei ihm eher eine eingebildete Krankheit: „Der Staat besteht aus Individuen (…).“ Damit toppt er sogar noch die eiserne Lady Thatcher mit ihrer eigenwillig positivistischen Feststellung, so etwas wie Gesellschaft gebe es nicht, nur Individuen. Dass der Staat, also Behörden oder Gesetze, aus Individuen bestehen, ist schon eine selten steile These. Bei Hegel war der Staat noch der Ausdruck der allgemeinen Vernunft, zwar etwas idealistisch gedacht, aber mit der Betonung des Allgemeinen statt des Individuellen war das, was das Gesetz, den Staat, ausmacht, ganz richtig getroffen.
Also, nicht Hobbes Leviathan garantiert die Freiheit, sondern der freie Markt. Eine klare Ansage. Der freie Markt scheint bei Tingler geradezu anthropologisch höhere Weihen zu haben. Im Markt sieht er sozusagen das Fundament menschlicher Zivilisation. Über die Schweiz schreibt er z.B.: „Sie ist eine vielgestaltige Willensnation, zusammengehalten durch die Kraft des Marktes, der zugleich Ort der Kommunikation und Verständigung ist.“ Aha. Die Eidgenossenschaft als gesamtgesellschaftlicher Krämerladen, nun gut. Folglich hat auch die neoklassische Wirtschaftstheorie für ihn Offenbarungscharakter: “Sie ist (…) jene Disziplin, die menschliches Verhalten mit einem Minimum an ideologischer Untermauerung erklären kann.“ Menschliches Verhalten – nicht Marktprozesse, wohlgemerkt. Da ist man in der Denkwelt eines Gary Becker, der für so etwas 1992 den Wirtschaftsnobelpreis bekommen hat. Ökonomischer Imperialismus heißt das, inzwischen sehen selbst eingefleischte Marktwirtschaftsadepten wie Frank Schirrmacher das ziemlich kritisch, man lese sein neues Buch „Ego“. Der Mensch ist eben nicht nur ein individueller Chancenoptimierer, sondern ein soziales Wesen, das gerne mit anderen gemeinsam an einem Strang zieht, manchmal sogar mitfühlend solidarisch mit den Schwächeren. Wenn man die wertezersetzende Wirkung des homo oeconomicus auf höherem Niveau als bei Schirrmacher studieren will, lese man z.B. Nida-Rümelins Buch „Die Optimierungsfalle“ – oder Michael Sandels „Was man für Geld nicht kaufen kann“, über das wir hier erst kürzlich diskutiert haben.
Aber zurück zum Liberalismus, dessen Werte auf dem Markt entstehen. „Der Markt ist ein Entdeckungsverfahren“, betet Tingler den alten Hayek nach. Ja, irgendwie schon. Aber manches übersieht der Markt dabei auch, dass der Markt z.B. die Menschenwürde entdeckt hätte, wäre mir neu. Die Freiheit, die mit dem freien Markt einhergeht, wird für die Menschen, die sich seiner unsichtbaren Hand unterwerfen müssen, nur allzu oft zur harten Hand der Unfreiheit: die Arbeitssklaven bei Amazon, die chinesischen Verhältnisse bei Apple, die Frauen in den indischen Textilfabriken unserer Markenfirmen, die von Schleckers Managementmethoden nun für eine „geeignete Anschlussverwendung“ (Rösler) befreiten Frauen – dieser Preis der Freiheit ist von den Betroffenen aus Tinglers Sicht eben mit stoischer Gelassenheit hinzunehmen. Schließlich „(…) entspringt der Liberalismus jener Ironie der Reserve, dieser kardinalen englischen Tugend, den Qualitäten der ‚stiff upper lip‘. Die steife, feste Oberlippe – das ist das Leitbild eines Stoizismus, der angesichts von Widrigkeiten und Unwägbarkeiten eine gewisse Unerschütterlichkeit bewahrt (…).“. Man kann sich ja nicht um alles in der Welt kümmern. Oberlippe Unterkante, bei solchen Sprüchen reicht es mir wirklich.
Statements wie das Tinglers hört man in letzter Zeit wieder häufiger. Offensichtlich ist die Schamfrist nach der Finanzkrise, als solche Leute ihre kesse Oberlippe etwas im Zaume gehalten haben, verstrichen. Vielleicht denken sie, bevor jetzt wirklich noch die Finanzmärkte reguliert werden, oder Lebensmittel besser gekennzeichnet, oder die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit der modernen Arbeitssklaven eingeschränkt wird, müsse man wieder ideologisch in die Offensive gehen. Die ungute Wirklichkeit der freien Marktwirtschaft soll wieder ideologisch übertüncht werden. Kein Anstieg der Reallöhne in Deutschland im letzten Jahrzehnt? Die Hälfte aller neuen Arbeitsverträge befristet? Eine in der Welt fast schon unübertroffene Ungleichheit der Vermögen in Deutschland? Ach, diese langweilige Wirklichkeit.
Wie schreibt der liberale Denker Tingler so schön über „Fundamentalisten“ (damit meint er nicht al-Qaida, sondern die, die glauben, der Liberalismus hätte etwas mit den Irrationalitäten der Finanzmärkte oder der Leistungsverdichtung in der Arbeit zu tun): „Sie kennen nicht die essentiell moderne Unterscheidung zwischen dem, was wir empirisch wissen, und dem, was wir normativ glauben.“ Was soll man da noch sagen?
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