Gestern habe ich beim EBM-Kongress 2013 des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin einen Workshop zum Thema Pluralismus und Evidenzbasierung in der Medizin moderiert.
Das Spannungsfeld, um das es geht, ist einfach zu beschreiben: Einerseits hat die Medizin als Heilkunde, anders als ihre naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer, kein konsistentes wissenschaftliches Paradigma. Es gibt unterschiedliche kulturelle Sichtweisen darauf, was Krankheit, Gesundheit und Heilen sind. Darauf reagiert der Ansatz des Pluralismus in der Medizin: Es sollen nicht vorschnell Heilverfahren durch eine medizinische Monokultur, welcher Art auch immer, verdrängt werden.
Andererseits gibt es in der Medizin unstrittig unwissenschaftliche und unwirksame Behandlungsverfahren. Darauf reagiert der Ansatz der Evidenzbasierung: Die Spreu soll vom Weizen getrennt werden.
Naheliegenderweise berufen sich auch esoterische und wissenschaftlich nicht haltbare Heilverfahren auf das Pluralismuskonzept. „Wir haben eben eine anderen Zugang zur Wirklichkeit“, heißt es dann, und nicht selten sogar: „einen Zugang auf einer höheren Ebene“. Das sind sozusagen die Erbschleicher des Pluralismuskonzepts.
Die Frage ist nun, wie hat man vor diesem Hintergrund mit bestimmten Heilverfahren umzugehen, man denke z.B. an die „besonderen Therapierichtungen“, die sich gegenüber Kritik durch den „Mainstream der Wissenschaft“ – oder doch seitens der Wissenschaft an sich? – durch das Konstrukt des Binnenkonsenses immunisieren. Dürfen sie im Pluralismusbeet eingehegt werden oder müssen sie mit der Evidenzharke ausgejätet werden? Haben sie Anspruch auf einen Platz im Garten der Medizin, komplementär zur sog. „Schulmedizin“, auch oder vielleicht gerade wenn sie einem anderen wissenschaftlichen Paradigma folgen, oder sind sie einfach nur unwissenschaftlich?
Das erste Impulsreferat dazu gab es von Christian Weymayr, Wissenschaftsjournalist und Redakteur des IGeL-Monitors, einem Online-Portal zur Bewertung der Individuellen Gesundheitsleistungenüber. Sein Buch „Die Homöopathie-Lüge“ wurde bei scienceblogs intensiv diskutiert, verwiesen sei hier nur auf den Blogbetrag von Ulrich Berger. Weymayr kritisierte, dass die evidenzbasierte Medizin häufig die naturwissenschaftliche Basis von Heilverfahren in eine black box packe, die sie nicht weiter betrachte und dann mit epidemiologischen Methoden, z.B. dem RCT, „unbefangen und neutral“ die patientenbezogene Wirksamkeit dieser Verfahren prüfe. Das sei, so Weymayr, bei naturwissenschaftlich unhaltbaren Heilverfahren Unsinn, man könne ja auch nicht die Lichtgeschwindigkeit mit einer Stoppuhr überprüfen. Naturwissenschaftliche Grundlagen müssten mit angemessenen naturwissenschaftlichen Methoden beforscht werden, nicht mit epidemiologischen Methoden. Das sehe ich genauso. Sein Lösungsvorschlag, der sich am Konzept einer “science based medicine“ orientiert, führt meiner Meinung nach allerdings nur zu einer terminologischen Vervielfältigung des eigentlichen Anliegens der evidenzbasierten Medizin, nämlich Erfahrungswissen durch externe, studiengestützte Evidenz zu ergänzen. Evidenzbasierte Medizin, richtig verstanden, bedeutet ja nicht, bereits naturwissenschaftlich widerlegte Wirkungshypothesen nocheinmal „unbefangen“ epidemiologisch zu untersuchen.
Das zweite Impulsreferat kam von Jutta Hübner, bis vor kurzem ärztliche Leiterin der Komplementären Onkologie am Universitären Centrum für Tumorerkrankungen in Frankfurt/Main, jetzt bei der Deutschen Krebsgesellschaft. Sie vertrat angesichts dessen, dass gerade Krebspatient/innen häufig komplementärmedizinische Methoden nachfragen, die Auffassung, dass komplementäre Methoden genauso evidenzbasiert sein müssen wie der Rest der Medizin, es gebe nur „eine Medizin“. Manche komplementärmedizinische Verfahren seien sehr sinnvoll in der onkologischen Behandlung, z.B. Entspannungsverfahren, manche könnten aber hochproblematisch sein, etwa wenn dadurch die Anwendung wirksamer Methoden verzögert wird, was immer wieder der Fall sei. Gerade in der Onkologie sieht sie die Berufung auf eine Erfahrungsheilkunde – oft verschlüsselt mit dem Satz „wer heilt, hat recht“ – als irreführend und nicht hilfreich für die Patient/innen. Dies führe zurück zur „eminenzbasierten Medizin“.
Für Pluralismus in der Medizin hat Robert Jütte plädiert. Er ist Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch-Stiftung, das bekanntlich insbesondere auch der Geschichte der Homöopathie verpflichtet ist, Vorstandsmitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und Sprecher des „Dialogforums Pluralismus in der Medizin“. Jütte sah zumindest zwischen Homöopathie und Wissenschaft keinen Widerspruch und hat ebenfalls die Nachfrage nach der Homöopathie als Argument angeführt: Eine Heilmethode, die von so vielen Menschen gewünscht und praktiziert wird, könne man nicht einfach aus der Forschung ausschließen. Ein problematischer Punkt, denn auch wenn niemand im Besitz der Wahrheit ist, sind wissenschaftliche Sachfragen dennoch nicht „demokratisch“ zu entscheiden. Auch Jütte hält nicht alle unkonventionellen Verfahren für wissenschaftlich vertretbar und will Pluralismus ebenfalls nicht als Freibrief für unwissenschaftliche Methoden verstanden wissen. Das ist eine Schlüsselstelle, weil man daran herausarbeiten könnte, ob man die gleichen Kriterien der Wissenschaftlichkeit und der für die jeweilige Fragestellung angemessenen Methoden vertritt oder nicht, d.h. ob unterschiedliche Sichtweisen etwa auf die Homöopathie nur auf unterschiedlichen Bewertungen der Evidenzbasis beruhen oder auf tiefergreifenden, eventuell auch wissenschaftstheoretischen Divergenzen.
Dieser Punkt kam in der Diskussion aber nur am Rande zur Sprache. Zwischenzeitlich ging es ziemlich zur Sache, weil das Referenzbeispiel „Homöopathie“ sehr kontroverse Positionierungen provoziert hat. Auch im Publikum des Workshops wurden dazu recht heterogene Meinungen vertreten, mit für mich in diesem Kreis unerwartet viel Toleranz gegenüber der Homöopathie. Häufig kam diese Toleranz für die Homöopathie und für weitere Homöopathiestudien allerdings daher, dass man dabei nicht die spezifische Wirksamkeit der homöopathischen Mittel, sondern das gesamte Behandlungssetting vor Augen hatte, also eigentlich die von allen für sinnvoll gehaltene „sprechende Medizin“. Damit in Zusammenhang stand ein anderer interessanter Punkt der Diskussion: Ob nämlich die Emotionalität bei diesem Thema allein daher komme, dass Verfahren wie die Homöopathie die gängige wissenschaftliche Rationalität infrage stellen, oder auch daher, dass gängige Arzt-Patientenbeziehungen infrage gestellt werden, dass also die Homöopathie und andere „alternativmedizinische“ Verfahren auch Momente des Heilens transportieren, die aus der Praxis der Medizin oft verdrängt sind und die – auf anderer Ebene – durch Ansätze der sprechenden Medizin oder des shared decision making erst langsam wieder in die medizinische Praxis zurückgeholt werden.
Further discussion is needed.
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