Gerade ging in München die dritte Nationale Impfkonferenz zu Ende. Ein Thema, das sich durch alle Diskussionen dort zog, war die Frage nach der Nutzen-Risikoabwägung bei Impfungen und den daraus zu ziehenden Konsequenzen. Das klingt einfacher, als es ist, der Teufel steckt wie so oft im Detail.
Pocken
Bei den Pocken hat man angesichts der durch die Schwere der Erkrankung bedingten hohen Letalität (also der Sterberate der Erkrankten) und der durch die zugleich leichte Übertragbarkeit bedingten hohen Mortalität (also der Sterberate in der Bevölkerung) eine Impfpflicht für vertretbar gehalten. Das, obwohl die Pockenimpfung mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden war. Die Nutzen-Risikoabwägung fiel trotzdem positiv aus. Bei den Masern wird man angesichts der Erkrankungsfolgen zumindest eine öffentliche Impfempfehlung ebenfalls kaum in Zweifel ziehen, wenn man den wissenschaftlichen Sachstand anerkennt.
Windpocken
Der medizinische Fortschritt hat nun die Entwicklung immer neuer Impfungen ermöglicht. Das Prinzip, eine Immunreaktion zu stimulieren, lässt weitreichende Perspektiven erkennen, die Krebsprävention ist da nur ein Anfang, im Grunde stellt sich bei allen immunologisch beeinflussten Erkrankungen, z.B. auch Allergien, die Frage, ob eine Impfung möglich ist. Aber zurück zu den Infektionskrankheiten. Seit 2004 wird von der STIKO, der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut, die Impfung gegen die Windpocken (Varizellen-Impfung) empfohlen. Die Windpocken sind nicht ganz so harmlos, wie man allgemein annimmt. Es gibt auch hier schwerere Verläufe, die zu Krankenhauseinweisungen führen. Die Krankenhausstatistik verzeichnete 2011 in Deutschland 853 Fälle infolge von Windpockenerkrankungen, bei Kindern unter 15 waren es 241, darunter 13 mit einer Varizellen-Meningitis und ebenfalls 13 mit einer Varizellen-Enzephalitis. Auch Todesfälle kommen vereinzelt vor. Die Impfung ist sehr sicher. Insofern gibt es durchaus Gründe für eine Impfung.
Das öffentliche Interesse
Aber die Windpocken sind nicht mit den Masern oder gar den Pocken vergleichbar. Rüdiger von Kries, Mitglied der STIKO, hat das in einem Vortrag vor einem Jahr einmal so formuliert: „Ohne Zweifel wird die Menschheit auch ohne Varizellen-Impfung überleben.“ Mit dieser etwas polemischen Zuspitzung – bekanntlich ist die Menschheit auch nicht an den Pocken ausgestorben – wollte er darauf hinweisen, dass sich bei solchen ganz überwiegend komplikationsarm verlaufenden Krankheiten neue Fragen an die Legitimation einer Impfempfehlung durch die STIKO stellen. Die STIKO hat einen gesetzlichen Auftrag nach § 20 Infektionsschutzgesetz. Ihre Empfehlungen sind Grundlage der öffentlichen Impfempfehlungen der Länder (die dann z.B. auch einen Rechtsanspruch bei Impfschäden begründen) und der Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, ob eine Impfung in die Schutzimpfungsrichtlinien aufgenommen und dann nach § 20d SGB V von den Krankenkassen finanziert werden.
Mit diversen Verfahrensregeln soll sichergestellt werden, dass die Impfempfehlungen, wie es im Fachjargon heißt, „im öffentlichen Interesse“ sind, auch wenn dieser Begriff explizit meines Wissens nicht in den die STIKO betreffenden Rechtsvorschriften auftaucht. Eine „Legaldefinition“ des öffentlichen Interesses beim Impfen gibt es nicht, so dass die STIKO nicht, wie z.B. Richter, dem öffentlichen Interesse „im Namen des Volkes“ durch Gesetzeskonformität nachkommen könnte.
Was also ist das „öffentliche Interesse“? Bei Wikipedia kann man dazu lesen: „Öffentliches Interesse ist ein in Gesetzen häufig verwendeter unbestimmter Rechtsbegriff, der die Belange des Gemeinwohls über die Individualinteressen stellt.“ Das hilft nicht wirklich weiter, weil man jetzt wissen müsste, was das „Gemeinwohl“ ist und darüber streiten sich die Geister schon seit der Antike. Man sieht nur, dass das öffentliche Interesse einen Vorrang des Gemeinwohls begründen soll.
Individuelle und öffentliche Interessen
Wenn Belange des tatsächlichen oder vermeintlichen Gemeinwohls über die von Individuen gestellt werden sollen, ist immer Vorsicht geboten. Das gilt angesichts der Erfahrungen damit, was mit dem „gesunden Volkskörper“ im Nationalsozialismus alles gerechtfertigt wurde, in der Medizin in besonderem Maße. Die Verbindung von Vernichten und Heilen, wie ein sehr lesenswertes Buch von Angelika Ebbinghaus und Klaus Dörner betitelt ist, steht als Menetekel über allen Public Health-Maßnahmen: Wenn Menschen für die Menschheit oder eben das „Gemeinwohl“ Opfer bringen sollen, muss es dafür sehr gute Gründe geben. Je mehr diese Opfer Grundrechte tangieren, umso bessere Gründe.
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