Gerade ging in München die dritte Nationale Impfkonferenz zu Ende. Ein Thema, das sich durch alle Diskussionen dort zog, war die Frage nach der Nutzen-Risikoabwägung bei Impfungen und den daraus zu ziehenden Konsequenzen. Das klingt einfacher, als es ist, der Teufel steckt wie so oft im Detail.

Pocken
Bei den Pocken hat man angesichts der durch die Schwere der Erkrankung bedingten hohen Letalität (also der Sterberate der Erkrankten) und der durch die zugleich leichte Übertragbarkeit bedingten hohen Mortalität (also der Sterberate in der Bevölkerung) eine Impfpflicht für vertretbar gehalten. Das, obwohl die Pockenimpfung mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden war. Die Nutzen-Risikoabwägung fiel trotzdem positiv aus. Bei den Masern wird man angesichts der Erkrankungsfolgen zumindest eine öffentliche Impfempfehlung ebenfalls kaum in Zweifel ziehen, wenn man den wissenschaftlichen Sachstand anerkennt.

Windpocken
Der medizinische Fortschritt hat nun die Entwicklung immer neuer Impfungen ermöglicht. Das Prinzip, eine Immunreaktion zu stimulieren, lässt weitreichende Perspektiven erkennen, die Krebsprävention ist da nur ein Anfang, im Grunde stellt sich bei allen immunologisch beeinflussten Erkrankungen, z.B. auch Allergien, die Frage, ob eine Impfung möglich ist. Aber zurück zu den Infektionskrankheiten. Seit 2004 wird von der STIKO, der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut, die Impfung gegen die Windpocken (Varizellen-Impfung) empfohlen. Die Windpocken sind nicht ganz so harmlos, wie man allgemein annimmt. Es gibt auch hier schwerere Verläufe, die zu Krankenhauseinweisungen führen. Die Krankenhausstatistik verzeichnete 2011 in Deutschland 853 Fälle infolge von Windpockenerkrankungen, bei Kindern unter 15 waren es 241, darunter 13 mit einer Varizellen-Meningitis und ebenfalls 13 mit einer Varizellen-Enzephalitis. Auch Todesfälle kommen vereinzelt vor. Die Impfung ist sehr sicher. Insofern gibt es durchaus Gründe für eine Impfung.

Das öffentliche Interesse
Aber die Windpocken sind nicht mit den Masern oder gar den Pocken vergleichbar. Rüdiger von Kries, Mitglied der STIKO, hat das in einem Vortrag vor einem Jahr einmal so formuliert: „Ohne Zweifel wird die Menschheit auch ohne Varizellen-Impfung überleben.“ Mit dieser etwas polemischen Zuspitzung – bekanntlich ist die Menschheit auch nicht an den Pocken ausgestorben – wollte er darauf hinweisen, dass sich bei solchen ganz überwiegend komplikationsarm verlaufenden Krankheiten neue Fragen an die Legitimation einer Impfempfehlung durch die STIKO stellen. Die STIKO hat einen gesetzlichen Auftrag nach § 20 Infektionsschutzgesetz. Ihre Empfehlungen sind Grundlage der öffentlichen Impfempfehlungen der Länder (die dann z.B. auch einen Rechtsanspruch bei Impfschäden begründen) und der Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses, ob eine Impfung in die Schutzimpfungsrichtlinien aufgenommen und dann nach § 20d SGB V von den Krankenkassen finanziert werden.

Mit diversen Verfahrensregeln soll sichergestellt werden, dass die Impfempfehlungen, wie es im Fachjargon heißt, „im öffentlichen Interesse“ sind, auch wenn dieser Begriff explizit meines Wissens nicht in den die STIKO betreffenden Rechtsvorschriften auftaucht. Eine „Legaldefinition“ des öffentlichen Interesses beim Impfen gibt es nicht, so dass die STIKO nicht, wie z.B. Richter, dem öffentlichen Interesse „im Namen des Volkes“ durch Gesetzeskonformität nachkommen könnte.

Was also ist das „öffentliche Interesse“? Bei Wikipedia kann man dazu lesen: „Öffentliches Interesse ist ein in Gesetzen häufig verwendeter unbestimmter Rechtsbegriff, der die Belange des Gemeinwohls über die Individualinteressen stellt.“ Das hilft nicht wirklich weiter, weil man jetzt wissen müsste, was das „Gemeinwohl“ ist und darüber streiten sich die Geister schon seit der Antike. Man sieht nur, dass das öffentliche Interesse einen Vorrang des Gemeinwohls begründen soll.

Individuelle und öffentliche Interessen
Wenn Belange des tatsächlichen oder vermeintlichen Gemeinwohls über die von Individuen gestellt werden sollen, ist immer Vorsicht geboten. Das gilt angesichts der Erfahrungen damit, was mit dem „gesunden Volkskörper“ im Nationalsozialismus alles gerechtfertigt wurde, in der Medizin in besonderem Maße. Die Verbindung von Vernichten und Heilen, wie ein sehr lesenswertes Buch von Angelika Ebbinghaus und Klaus Dörner betitelt ist, steht als Menetekel über allen Public Health-Maßnahmen: Wenn Menschen für die Menschheit oder eben das „Gemeinwohl“ Opfer bringen sollen, muss es dafür sehr gute Gründe geben. Je mehr diese Opfer Grundrechte tangieren, umso bessere Gründe.

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (37)

  1. #1 Chemiker
    19. Mai 2013

    Es ist immer sehr problematisch, aus wissen­schaftlichen Daten ein „Was man tun soll“ abzuleiten. Letztlich kommt man um eine Bewertung nicht herum, und das ist per Definition nicht objektiv und daher nicht mehr wissen­schaftlich.

    In der Praxis spielt das wenig Rolle, weil in vielen Fällen mit Common Sense ein akzeptables Resultat erhalten wird. So darf ich nicht zu Silvester mit Nitro­glycerin herumspielen, selbst wenn man mir allgemein zutraut, daß ich das unfallfrei hin­bekomme. Warum muß ich trotzdem mit der Ein­schränkung leben? Ja, eben deshalb.

    Beim Impfen ist es aber nicht so einfach, weil es anders als beim Geballer um signifikante Vorteile handelt. Trotzdem hilft der wissenschaftliche Blick nur beschränkt weiter.

    Nehmen wir an, wir hätten stabile epidemiologische Daten, die nahelegen, daß pro Jahr 100 Menschen an der Krankheit sterben; das könnte man durch flächen­deckende Impfungen auf 10 reduzieren, aber dabei treten 20 weitere Todesfälle durch Impfreaktionen ein.

    Die zehn Toten trotz Impfung sind nicht relevant, denn die werden ja in beiden Szenarien dem Leiden erliegen. Desto wichtiger sind die 20 anderen, die an Impfreaktionen sterben; denn die wären ja ohne Impfpflicht nicht in Gefahr.

    Darf ich 20 töten, wenn ich damit 90 andere retten kann? Darauf gibt es keine wissen­schaftliche Antwort; die Aufklärung sagt jedoch Nein, und der praktische Verstand vielleicht Ja.

    In der Praxis wird man so handliche, eindeutige Daten nicht haben; alles ist daher noch viel un­bestimmter, und eine klare Handlungsanweisung läßt sich noch weniger gewinnen.

  2. #2 rolak
    19. Mai 2013

    Ohne die Windpocken über Gebühr aufwerten zu wollen – doch was ist mit der Spätfolge Gürtelrose? 9.6/1000/y sind ja bei 20% Komplikationen kein Pappenstiel…

    • #3 Joseph Kuhn
      19. Mai 2013

      @ rolak: Die Folgen der Einführung der Varizellen-Impfung für die Herpes-Zoster-Fälle wurde auf der Nationalen Impfkonferenz auch angesprochen. Bei einer Verschiebung der Erkrankungszahlen in ein höheres Alter könnte es auch eine Zunahme der Herpes-Zoster-Fälle geben. Das scheint bisher nicht der Fall zu sein. Die Impfempfehlung soll aber in 5 Jahren noch einmal evaluiert werden.

      • #4 rolak
        19. Mai 2013

        Ah danke Joseph, warte ich halt noch 5 Jährchen 😉

        • #5 Joseph Kuhn
          19. Mai 2013

          … werde versuchen, Dir die Wartezeit mit Blogbeiträgen zu verkürzen – nach Möglichkeit mit Themen, von denen ich mehr verstehe als vom Impfen.

          • #6 rolak
            19. Mai 2013

            Sehr nett, Joseph, da bin ich mal gespannt.

            Hmm, noch nix.

            ^^Immer noch nichts…

            Ja wie, immer noch nichts? (scnr)

  3. #7 Joseph Kuhn
    19. Mai 2013

    @ Chemiker:

    Aus Daten im Sinne einer deskriptiven Beschreibung normative Vorgaben abzuleiten, ist in der Tat fragwürdig, der Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses liegt hier immer nahe. So gesehen, beruhen auch die weitgehend unstrittigen Impfempfehlungen natürlich immer auf Daten und Normen, oft so “selbstverständlichen” Normen, dass die daran anschließenden Empfehlungen common sense sind.

    Das sehe ich auch so. Interessant wird es da, wo – mit Rousseau gesprochen – Volonté générale und Volonté de tous nicht mehr übereinzustimmen scheinen, also das, was allgemeine Vernunft sein sollte und das, was die Mehrheit will.

    Zur Frage, was der praktische Verstand zum Sterbefallkalkül sagt: Im Blogbeitrag habe ich schon auf die unselige Geschichte solcher utilitaristischer, den Gesamtnutzen maximierender Kalküle hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz (im Zusammenhang mit der Frage, ob entführte Flugzeuge abgeschossen werden dürfen, um einen Terroranschlag zu vermeiden) 2006 entschieden, ein solches Kalkül sei mit der grundgesetzlich geschützten Menschenwürde nicht vereinbar, kein Mensch dürfe zu einem bloßen Mittel für einen Zweck gemacht werden.

    Dabei geht es aber um konkret benennbare Personen. Das Verfassungsgericht hat also in gewisser Weise gegen die Abwägung des biblischen Hohepriesters Kaiphas entschieden (Joh 11, 49/50), der der Meinung war: “Ihr wisst nichts und bedenkt nicht, dass es besser ist für euch, es stirbt ein einziger Mensch an Stelle des Volkes, als dass das ganze Volk zugrunde geht.”

    Anders sieht die Sache aus, wenn es um einen Austausch von nur statistisch berechenbaren Sterbefällen geht, z.B. schwer verlaufenden Fällen in der Kindheit versus schwer verlaufenden Fällen im Erwachsenenalter.

    Bei der Varizellen-Impfung sehe ich das Problem darin, dass hier das “öffentliche Interesse” möglicherweise mehr durch eine demokratische Willensbildung als durch einen Expertenkonsens getragen werden müsste. Das wirft Verfahrensfragen auf.

  4. […] Impfempfehlung, Impfangebot und öffentliches Interesse, Gesundheits-Check am 19. Mai […]

  5. #9 sausi
    20. Mai 2013

    @Joseph Kuhn
    Könnten Sie dies nochmal erklären: “Wie bei den Masern könnte sich nämlich auch bei den Windpocken mit der Impfung der Erkrankungsgipfel im Altersgang nach hinten verschieben. Bei den Masern liegt er inzwischen im Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalter. Die Krankheitsverläufe sind dann oft schwerer, d.h. das kann man eigentlich nur vorübergehend bis zu einer Eradikation in Kauf nehmen oder wenn die Zahl der „normalerweise“ auftretenden schweren Verläufe erheblich höher wäre.”
    Ich verstehe von Epidemiologie zu wenig. 🙁

  6. #10 Joseph Kuhn
    20. Mai 2013

    @ sausi: Die Masern sind so ansteckend, dass sie in einer ungeimpften Bevölkerung ziemlich schnell alle erwischen, die sie noch nicht hatten. Mit der Zunahme der Impfraten sinkt das Infektionsrisiko, weil es nicht mehr so viele Überträger gibt. Wenn die Impfraten hoch genug sind, kommt es zur sog. “Herdenimmunität”, d.h. die Nichtgeimpften werden mitgeschützt, was anzustreben ist, z.B. weil aus medizinischen Gründen nicht alle Menschen geimpft werden können. Wenn dagegen zu lückenhaft geimpft wird, steigt das Risiko, dass die Ungeimpften doch noch, eben unter Umständen etwas später, die Masern bekommen.

  7. #11 Physiker
    20. Mai 2013

    Ich wüsste nicht, was jetzt beim Vorschlag von Georg Marckmann neu wäre (abgesehen von der Impfpflicht für Masern) – es gibt/gab doch jede dieser Varianten bereits (Impfpflicht, Impfempfehlung, Impfangebot mit und ohne Kostenrückerstattung von der Krankenkasse), und eigentlich sogar noch sehr viel feiner abgestuft nach Alter, Risikogebiet, Risikogruppe, etc.

  8. #12 Physiker
    20. Mai 2013

    Und noch eine kleine Randbemerkung zu den “freiheitsphilosophischen oder ökonomischen Gesichtspunkten”:
    Ich dachte eigentlich, dass die Kosten-Effektivitätsanalysen ebenfalls von der STIKO ausgeführt werden können (und auch weitere nicht direkt Gesundheitsbezogene Abwägungen). Steht jedenfalls so in den Vorgehensrichtlinien…

  9. #13 Joseph Kuhn
    20. Mai 2013

    @ Physiker:

    Die Differenzierung einer Impfempfehlung nach Alter (oder wie bei der FSME nach Risikogebiet) hat nur sehr indirekt mit dem Vorschlag von Marckmann zu tun. Ich will hier aber nicht in die Marckmann-Exegese einsteigen, sein Vortrag ist hier online nachzulesen.

    Ob die Krankenkassen die Kosten erstatten müssen, ist eine andere Geschichte, das entscheidet nicht die STIKO, sondern der G-BA auf der Grundlage einer STIKO-Empfehlung (bei der wiederum die Sicht der Kostenträger etc. berücksichtigt wird).

    Was die “nicht direkt gesundheitsbezogenen Abwägungen” angeht: Wie weit kann man das der STIKO auftragen bzw. wäre hier das Verfahren zur Bestimmung, ob ein öffentliches Interesse vorliegt oder nicht, entsprechend der Gewichtung der nicht direkt gesundheitsbezogenen Entscheidungsdimensionen ggf. auch über die STIKO hinaus breiter anzulegen?

  10. #14 regow
    21. Mai 2013

    Hier in Österreich redet man den Leuten ein, sich alle drei Jahre FSME-impfen zu lassen. Wenn das keine Geschäftemacherei ist…

  11. #15 Joseph Kuhn
    21. Mai 2013

    @ regow:

    “Wenn das keine Geschäftemacherei ist…”

    … dann hat es etwas mit der Dauer des durch die Impfung erreichbaren Schutzes zu tun:
    https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/FSME/FSME-Impfung/FSME-Impfung.html

  12. #16 miesepeter3
    21. Mai 2013

    Die Beantwortung der Frage “Impfen oder Nichtimpfen” hängt auch von den Public Relations für`s Impfen ab.
    Fast jeder Herzkranke befürwortet eine Herztransplantation.
    Die wird, trotz erheblicher Bedenken bei dem einen oder anderen Fachmann/frau, immer positiv dargestellt. Die Impfbefürworter sollten sich daran ein Beispiel nehmen.
    Es ist eigentlich nicht zu verstehen, dass Gesunde als potentielle Kranke dem vorbeugendem Schutz so negativ gegenüber stehen. Impfen ist nicht nur theoretischer Schutz für die Allgemeinheit, sondern auch ganz praktischer Schutz für jeden Einzelnen. Meine private Meinung ist, dass es unerlässlich ist, die Philisophie bei der Meinungsbildung zu beteiligen. Allerdings stößt mir das Wort Herrschaft in der “Philosophenherrschaft” ziemlich sauer auf. Gute Ratgeber sind selten auch gute Herrscher.

  13. #17 Physiker
    21. Mai 2013

    @Joseph Kuhn:
    Danke für den Vortrag – sehr interessant. Habe aber nach wie vor den Eindruck, dass Georg Marckmann in seinem Vortrag den Status Quo erklärt und keine Reformen vorschlägt.

    Hier übrigens noch die Standardvorgehensweise (SOP) der STIKO, auf die ich mich vorhin bezog. Dort (Anhang D) wird übrigens auch das “öffentliche Interesse” etwas weniger mataphysisch definiert:

    Ein besonderes öffentliches Interesse in Bezug auf eine Impfung ist gegeben, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:
    – durch die Impfung Todesfälle, schwere Krankheitsverläufe und Folgeschäden vermieden werden können (Individualschutz);
    – das Impfziel den Aufbau einer Herdenimmunität erfordert
    + zum Schutz von Menschen, die nicht geimpft werden können, oder
    + zur Elimination oder Eradikation von Krankheitserregern;
    – durch die Impfung das Risiko bzw. der Verlauf von Epidemien, die das öffentliche Leben in relevantem Maß beeinträchtigen können, deutlich vermindert werden kann.

  14. #18 Physiker
    21. Mai 2013

    @Joseph Kuhn:

    Wie weit kann man das der STIKO auftragen bzw. wäre hier das Verfahren zur Bestimmung, ob ein öffentliches Interesse vorliegt oder nicht, entsprechend der Gewichtung der nicht direkt gesundheitsbezogenen Entscheidungsdimensionen ggf. auch über die STIKO hinaus breiter anzulegen?

    Ich denke, wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Bisher gab es erst einmal eine Impfpflicht (eben bei den Pocken) und es zeichnet sich überhaupt kein Konsens ab, eine Impfpflicht bei Masern oder Windpocken auszurufen. Von einer “Philosophenherrschaft” sind wir also noch weit entfernt – oder welche Individualrechte werden denn eingeschränkt, wenn die STIKO nur Empfehlungen herausgibt?

    @all:
    Meiner Meinung nach sollte man, wie von miesepeter3 bereits angesprochen, mehr in Anreize, Aufklärungs- und Werbekampagnen investieren. Ich habe nämlich den Eindruck, das z.B. Windpocken nur deshalb bagatellisiert werden, weil die meisten Erwachsenen dem Irrtum unterliegen, dass es sie nicht mehr betrifft. Hier zeigt sich auch wieder der geringe Stellenwert des Kinderschutzes in Deutschland: Kinder haben keine Lobby und müssen es hinnehmen, wenn Erwachsene über ihre Köpfe hinweg entscheiden, dass diese Kinderkrankheiten durchleiden müssen. Würde es sich rumsprechen, dass die unter älteren Menschen extrem gefürchtete Gürtelrose durch eine Windpockenimpfung komplett vermieden werden könnte – dann bin ich mir ziemlich sicher, dass die Impfbereitschaft deutlich zunehmen würde.

  15. #19 Joseph Kuhn
    21. Mai 2013

    @ Physiker:

    “dass die unter älteren Menschen extrem gefürchtete Gürtelrose durch eine Windpockenimpfung komplett vermieden werden könnte”

    Das ist nicht der Fall.

    “Dort (Anhang D) wird übrigens auch das “öffentliche Interesse” etwas weniger mataphysisch definiert”

    Wie die STIKO das “öffentliche Interesse” definiert, ist mir schon klar, das habe ich ja oben beschrieben. Die Frage ist, ob das für die Varizellen-Impfung und künftige, ähnlich gelagerte Fälle, ausreicht.

    Es wäre im Übrigen schön, wenn Sie wenigstens versuchen würden, diesen Punkt, der auch innerhalb der STIKO diskutiert wird, erst einmal zu verstehen, bevor Sie mir eine “metaphysische Definition” des öffentlichen Interesses unterstellen und dass ich die “Kirche nicht im Dorf lassen” würde.

  16. #20 Physiker
    21. Mai 2013

    @Joseph Kuhn:

    “dass die unter älteren Menschen extrem gefürchtete Gürtelrose durch eine Windpockenimpfung komplett vermieden werden könnte”
    Das ist nicht der Fall.

    Sie haben Recht: “Komplett vermeiden” lässt sich durch Impfungen gar nichts (es gibt immer Fälle, in denen eine Impfung nicht anschlägt). Hab’ aber ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass mir diese Formulierung wörtlich ausgelegt wird. Oder beziehen Sie sich auf die in Wikipedia angegebenen 51%?

    Wie die STIKO das “öffentliche Interesse” definiert, ist mir schon klar, das habe ich ja oben beschrieben.

    Dass es Ihnen klar ist, daran habe ich keine Zweifel. Beschrieben haben Sie die eben zitierten Kriterien (Individualschutz, Herdenimmunität und relevante Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens) aber nicht – sorry, da hilft auch keine zweite oder dritte Lektüre Ihres Artikels. Abgesehen davon, war dieses Zitat nur als ergänzende Anmerkung gedacht.

    bevor Sie mir eine “metaphysische Definition” des öffentlichen Interesses unterstellen

    Naja, die Wikipedia-Definition hat Ihnen doch auch aus eben diesem Grund nicht gefallen; dann zitieren Sie die Geschäftsordnung der Kommission, in der an keiner Stelle das “öffentliche Interesse” näher definiert wird/werden soll; und beenden Ihre Nachforschungen mit einem “kurzen und knappen” Zitat aus einem Editorial zum Schwerpunkt „Impfen“, demzufolge sich das öffentliche Interesse mit “infektionsepidemiologischen Messgrößen” beschreiben lässt. Das hat zumindest bei mir den Eindruck hinterlassen, dass das “öffentliche Interesse” etwas mehr oder weniger Unbestimmtes ist worüber seit der Antike metaphysisch diskutiert wird, und das nicht einmal von der STIKO näher definiert wird.

    Die Frage ist, ob das für die Varizellen-Impfung und künftige, ähnlich gelagerte Fälle, ausreicht. […]
    […] und dass ich die “Kirche nicht im Dorf lassen” würde.

    Sie haben doch selbst den Vortrag von Georg Marckmann zitiert, demzufolge die Möglichkeiten der Impfempfehlung (Windpocken) ja noch längst nicht ausgeschöpft sind bevor eine Impfpflicht die Individualinteressen der Bürger einschränkt (Stichwort “Empfehlungs-Stufen”, Seite 18): So könnte doch die Windpockenimpfung erstmal stärker proaktiv beworben werden und dann im nächsten Schritt auch noch Anreize geschaffen werden. Warum sollte man diesen 4. Schritt überspringen und gleich die Freiheitsrechte der Bürger einschränken?

    • #21 Joseph Kuhn
      21. Mai 2013

      @ Physiker: Das “öffentliche Interesse”, von dem die STIKO ausgeht, ist als Folge ihres gesetzlichen Auftrags (im Kern) infektionsepidemiologisch begründet. Das habe ich im Blog geschrieben und darum geht es. Dass die STIKO das in der SOP noch etwas weiter konkretisiert hat, ist dagegen nicht der Punkt, um den es hier geht, aber Sie haben natürlich recht, ich hätte diesen Passus zitieren sollen. Meine Frage ist, ob ein infektionsepidemologischer Rahmen angesichts der durch den wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichten Perspektiven des Impfens ausreicht. Ich kann mich da nur wiederholen. Für eine Impfpflicht bei den Varizellen habe ich übrigens nirgendwo plädiert, die steht nicht zur Disposition und niemand will hier Freiheitsrechte einschränken. Es geht mir lediglich darum, an dem Dilemma, dass einerseits “im öffentlichen Interesse” (nach STIKO) die Impfung empfohlen werden kann, andererseits aber die zum Herdenschutz notwendigen Impfraten möglicherweise nicht erreicht werden und damit eine neue epidemiologische Sachlage entstehen könnte (Altersverschiebung etc.), ein Problem an der Bestimmung des öffentlichen Interesses durch die STIKO zu verdeutlichen. Das könnte auch die Wirksamkeit von verstärkten Aufklärungskampagnen betreffen, falls auch bei Bewusstmachung aller Komplikationen und Spätfolgen ein relevanter Anteil der Bevölkerung eine anderen Risikoabwägung vornehmen sollte als die STIKO. Impfaufklärung setzt ja darauf, dass das öffentliche Interesse (es sei mal gesetzt) hinreichend gut in individuelle Interessen transformiert werden kann.

  17. #22 WolfgangM
    22. Mai 2013

    @ Josef,

    auch ohne Windpockenimpfung hat sich in vielen Ländern die Erkrankungsrate in ein höheres Alter verschoben- Grund sind wohl kleinere Familien und daher weniger Kontakte.
    Das hat aber auch einen Vorteil. Windpocken im ersten Lj sind schwerer verlaufend als später. Windelkinder können leichter bakterielle Superinfektionen bekommen etc pp.
    Und mit dem Anstieg der Neurodermitis ist auch verbunden, dass Windpocken bei Neurodermitis schwerer verlaufen. Tja und dann gabs noch nie soviele Immunsupprimierte (ZB die HIV community, Transplantierte etc) die durch Windpocken gefährdeter sind als “Normalos”- also alles Gründe für eine WP Impfung.

    Und zu Masern- nein die verschieben sich noch nicht ins höhere Alter- die derzeitige Altersverteilung in der EU findet sich hier
    https://www.ecdc.europa.eu/en/publications/Publications/measles-rubella-monitoring-April-2013.pdf
    auf S 3 ist die Inzidenz aufgeschlüsselt- am höchsten im 1.Lj- und es ist bekannt je jünger das Kind desto größer das Risiko für die befürchtete Spätfolge SSPE- die aber immer noch seltener ist als der akute Maserntod.
    Und es ist auch nicht richtig, dass bei Altersverschiebung Masern gefährlicher wird. 90% der Maserntoten sind unter 5 Jhr alt. Ist Kind > 10 stirbt es kaum nach an Masern, nur das Risiko einer Enzephalitis mit geistiger Retardierung steigt. Und Tod mit 3 Jhr ist wohl immer noch härter als mit 15 lebenslang geistig retardiert.

    Wichtig ist für mich das Recht des Kindes auf höchstmögliche Gesundheit- das wird auch durch Impfungen erreicht sagen die Vereinten Nationen und UNESCO. Kinder haben also ein Recht auf Impfungen zur Erreichung höchstmöglicher Gesundheit.

  18. #23 WolfgangM
    22. Mai 2013

    Nachtrag
    https://www.unric.org/html/german/kinder/presse/7.htm

    Jedes Kind hat ein Recht auf Impfung gegen verhütbare Krankheiten. Die Routineimpfung von Kindern ist notwendig, um das Recht der Kinder auf Gesundheit zu gewährleisten

    Und hier -Tabelle beachten

    https://www.kindesmisshandlung.de/mediapool/32/328527/data/VN-KJA-2005.pdf

    finden sich gängige Definitionen der Formen der Kindesmisshandlung Untergruppe Vernachlässigung die sich u.a.wie folgt definiert
    Tab. 1a: Körperliche Vernachlässigung
    • Keine medizinische bzw. gesundheitliche Vorsorge (-untersuchungen), kei-
    ne Zahnvorsorgeuntersuchungen, keine oder unzureichende Impfungen, je-
    weils aus

    Misstrauen gegenüber Medizinsystem

    Religiöser oder kultureller Einstellung

    Mit anderen Worten: Ungeimpfte Kinder sind vernachlässigte Kinder- eine Form der Kindesmisshandlung.

  19. #24 Dr. W
    22. Mai 2013

    Zugespitzt: Wäre es also konsequent und „im öffentlichen Interesse“, bei den Windpocken gerade wegen der vergleichsweise geringen Krankheitslast und einer daher vielleicht nicht ausreichenden Impfmotivation mit allen Mitteln hohe Impfquoten anzustreben, womöglich sogar eine Impfpflicht einzuführen? Eine paradox anmutende Interessenkonstellation, mit einigen Untiefen, was die Bestimmung des öffentlichen Interesses in diesem Fall angeht. Welchen Stellenwert haben dabei z.B. Freiheitsaspekte?

    Schlau zugespitzt, auch das letzte Wort der Argumentation bzw. Fragestellung gefiel.

    In einer verhausschweinten Gesellschaft sind alle geimpft wie ein Meerschweinchen, aber wäre das zweckmäßig?

    MFG
    Dr. W

  20. #25 Regina
    Bregenz
    22. Mai 2013

    Eine nette Antwort von Dr. Dr. Erlinger im SZ-Magazin:
    https://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/29684

    In mir keimt immer die Frage auf, was ist wenn ich mein Kind aus für mich vertretbaren Gründen nicht impfen lasse (jetzt völlig wertfrei betrachtet!). Mein Kind wird erwachsen und geht bpsw. in die Entwicklungshilfe und bringt da unabsichtlich, eine für uns vielleicht harmlose, Infektionskrankheit mit? Was passiert, wenn mein Kind vielleicht ein ganzes Dorf mit Masern ansteckt? In einem Land, das vielleicht keine so hohen medizinischen Standards hat wie wir? Kann ich das ethisch vertreten? Wenn’s um Impfen ja oder nein geht, finde ich, müssen wir als Entscheidungsträger langfristig und global denken. Viren kennen keine formellen Grenzen.

  21. #26 Joseph Kuhn
    22. Mai 2013

    @ Regina:

    Der Schutz Dritter ist ein wichtiger Aspekt. In manche Länder schleppen wir heute schon die Masern ein.

    @ WolfgangM:

    “Und zu Masern- nein die verschieben sich noch nicht ins höhere Alter”

    In Deutschland schon. Dazu das RKI: “Seit 2006 ist ein Anstieg des proportionalen Anteils älterer Altersgruppen (>10 Jahre) bei den betroffenen Fällen zu beobachten.”

    “Und es ist auch nicht richtig, dass bei Altersverschiebung Masern gefährlicher wird.”

    Das RKI schreibt im Epi. Bulletin 32/2010, S. 316: “Nach den IfSG-Meldedaten liegt in Deutschland die Hospitalisierungsrate aufgrund von Masern bei Säuglingen bei ca. 20 % der übermittelten Fälle im Alter < 1 Jahr. Sie geht in den Kinderaltersgruppen < 10 Jahre zurück (< 5 %), steigt bei Jugendlichen wieder leicht an (bis zu 10 %) und liegt im Erwachsenenalter (20 Jahre und älter) wieder über 20 % der übermittelten Fälle."

  22. #27 WolfgangM
    22. Mai 2013

    @Josef
    Trotzdem ist die Inzidenz <1 Jhr und auch 20 Jhr mit 20% der übermittelten Fälle- > 20 Jhr das sind ja viele Jahrgänge < 1Jhr nur ein Jahrgang, aber auch 20% der übermittelten Fälle.
    Und Todesfälle zu vermeiden ist ja wohl Ziel #1. – und da sind halt immer noch 90% der Kids 1 Jhr 2x MMR bekommen- also auch die Erwachsenen die früher nur 1x MM geimpft worden sind.

  23. #28 Joseph Kuhn
    22. Mai 2013

    @ WolfgangM: Ich weiß nicht, ob Dich richtig verstanden habe, aber ich glaube, das mit den Jahrgängen ist ein Missverständnis. Das RKI spricht davon, wie viele Hospitalisierungen in den Altersgruppen auf die Meldefälle der jeweiligen Altersgruppe entfallen, d.h. wie groß in den drei genannten Altersgruppen das Hospitalisierungsrisiko ist, nicht wie sich die Hospitalisierungen anteilsmäßig auf die Altersgruppen verteilen.

  24. #29 WolfgangM
    23. Mai 2013

    Chemiker hat folgendes Eingangszitat gebracht- das darf nicht unkommentiert bleiben:

    Nehmen wir an, wir hätten stabile epidemiologische Daten, die nahelegen, daß pro Jahr 100 Menschen an der Krankheit sterben; das könnte man durch flächen­deckende Impfungen auf 10 reduzieren, aber dabei treten 20 weitere Todesfälle durch Impfreaktionen ein.
    Die zehn Toten trotz Impfung sind nicht relevant, denn die werden ja in beiden Szenarien dem Leiden erliegen. Desto wichtiger sind die 20 anderen, die an Impfreaktionen sterben; denn die wären ja ohne Impfpflicht nicht in Gefahr.
    Darf ich 20 töten, wenn ich damit 90 andere retten kann? Darauf gibt es keine wissen­schaftliche Antwort; die Aufklärung sagt jedoch Nein, und der praktische Verstand vielleicht Ja.

    Also wenn pro 90 durch Impfung vermiedenen Todesfällen 20 ursächlich durch die Impfung sterben, da würde keiner mehr impfen.
    So ein Impfstoff wäre gar nicht zulassungsfähig bzw würde vom Markt genommen werden.

    Beispiel Masern: In der Vorimpfära sind nach unterschiedlicehn Quellen 2,6 bis 6 Mio Kinder an Masern verstorben, pro Jahr und global. Heute sind es noch ca 150.000 global und pro Jahr.
    Vor 100 Jahren hatten wir eine ähnliche Todesfallrate wie jetzt die Entwicklungsländer in denen nicht geimpft wird: 3% eines Jahrgangs sind an Masern vor 100 Jhr bei uns gestorben. Dank Weiterentwicklung der Medizin (Antibiotika, ICU) sind es in Industrieländern nur mehr 1 von 1000 Masernkranken.
    Masern war also noch nie so harmlos wie jetzt bei uns. Trotzdem würden bei 600.000 Geburten pro Jahr in DE ohne Impfung ca 600 tote Kinder resultieren – weit mehr als im Strassenverkehr ums Leben kommen (durchgemasert 98% bis 14 Lj) .

    In der gesamten Literatur finden sich zwar einige Todesfälle zB falsches Lösungsmittel oder bakteriell verseuchte Mehrdosenbehältnisse- bei uns gibt es nur single dose container- das waren also Anwendungsfehler.

    Es findet sich in 20 Jhr in medline nur ein Kind welches ursächlich durch die Masernimpfung ums Leben gekommen ist- das war ein Kind mit angeborener schwerer Immundefizienz- eine klare leider nicht erkannte Kontraindikation. Dieser Einzelfall wird übrigens von Impfgegnern gern herangezogen um die “Gefährlichkeit” von Impfungen zu belegen.

    Auf Deutschland bezogen würde das pro Jahr bedeuten:

    * ohne Masernimpfung 600 Tote unter 14 Jhr , zusätzlich 60.000 Komplikationen davon 600-1200 Gehirnentzündungen, ca 42.000 Fieberkrämpfe.

    ** mit Masernimpfung bzw ursächliche Nebenwirkung:
    0 Tote, möglicherweise 1 Gehirnentzündung alle 2 Jahre- das ist noch nicht ganz klar, ob ursächlich oder koinzident. 200 Fieberkrämpfe- diese sind durch Impfung verursacht aber medizinisch folgenlos.
    Bei entsprechend hygienisch korrekter Handhabung gäbs auch die Anwendungsfehler mit Mehrdosenbehältern nicht- daher Qualitätssicherung notwendig.
    Und den einen wiklich unglücklichen Todesfall in 20 Jhr eines Immundefizienten Kindes, welches nicht geimpft hätte werden dürfen- das ist das Restrisiko.
    100% Sicherheit gibt es halt nicht.

  25. #30 Physiker
    23. Mai 2013

    @Joseph Kuhn:
    Jetzt muss ich doch nochmal nachfragen, wie Ihr Widerspruch zu verstehen ist:

    “dass die unter älteren Menschen extrem gefürchtete Gürtelrose durch eine Windpockenimpfung komplett vermieden werden könnte”

    Das ist nicht der Fall.

    In meiner grenzenlosen Naivität dachte ich nämlich, dass eine Windpockenimpfung (inclusive Auffrischungsimpfungen) effizient dagegen hilft, sich mit den Windpocken anzustecken (d.h. mit einer Wahrscheinlichkeit grösser als 98%). Da Windpocken und Gürtelrose Krankheiten sind die vom gleichen Virus ausgelöst werden, folgere ich, dass die Windpockenimpfung genauso effizient vor einer Gürtelrose schützen sollte (es sei denn, der Lebendimpfstoff selbst verursacht im Alter ebenfalls Gürtelrosen).

    Die in Wikipedia angegebenen 51% beziehen sich auf einen anderen Fall – nämlich, dass Erwachsene (die mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits in ihrer Kindheit die Windpocken hatten) bei zusätzlicher Impfung deutlich seltener an einer Gürtelrose erkranken (eben 51% seltener). Wenn man dem Link zur entsprechenden Publikation nachgeht, erkennt man, dass der Wiki-Text diesbezüglich missverständlich formuliert ist.

    Und damit ich mir nicht wieder den off-topic-Vorwurf gefallen lassen muss, hier noch eine weitere damit verbundene Schwierigkeit bei der Bewertung der Windpockenimpfung:
    Da der Ansteckungsweg ja nicht nur von Kind zu Kind, sondern eben auch von einer älteren Person mit Gürtelrose zu Kind gehen kann, dürfte die Ausrottung der Windpocken durch Impfung ein besonders schwieriges Unterfangen sein, das sich über das Leben einer ganzen Generation hinziehen dürfte. D.h. die Menschen müssten für ein solches Ziel die nächsten ca. 100 Jahre die Impfnebenwirkungen ertragen, ohne je wieder Windpockenepidemien unter Kindern zu sehen.

  26. #31 Joseph Kuhn
    23. Mai 2013

    @ Physiker: Was die Gürtelrose angeht: Den Wikipedia-Eintrag würde ich auch so interpretieren wie Sie. Die Gürtelrose scheint allerdings auch durch die Windpocken-Impfung nicht vollständig zu vermeiden zu sein, siehe z.B.:
    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Varizellen.html

    Ich habe mich damit allerdings nicht näher beschäftigt, d.h. das ist nur ergoogelt. Wenn es sehr interessiert, kann ich meine Kollegen aus der Infektiologie mal fragen – falls hier nicht ein Arzt mitliest, der das kompetent beantworten kann.

    Und was die Ansteckung von Kindern durch Erwachsene mit Gürtelrose angeht: Da vermutlich bei den Kindern noch am ehesten eine ausreichende Immunität zu erreichen sein dürfte, wird der Übertragungsweg von den Zosterfällen aus wohl eher für andere Erwachsene ein Problem sein. Richtig ist aber auf jeden Fall, dass durch die heute schon infizierten Personen das Virus noch lange da sein wird. Ein interessanter Punkt.

  27. #32 WolfgangM
    24. Mai 2013

    Die Windpockenimpfung wurde zunächst eingeführt, um die Krankheitslast der Kinder zu reduzieren. Gleichzeitig war in etlichen Industrieländern festzustellen, dass auch ohne Impfung das Infektionsalter steigt und je älter man ist desto schwerer sind Windpockenverläufe. In der Vor azyclovir Ära( ein antivirales Therapeutikum ) ist jeder 200ste erkrankte Erwachsene an Windpocken verstorben.
    Und Erwachsene: da bekommt etwa jeder 4. der als Kind WP hatte irgendwann Gürtelrose, die besonders im hohen Alter durch Monate sehr schmerzhaft ist und die Lebensqualität massiv einschrängt. Zur Standardtherapie gehören daher auch Antidepressiva.
    Diese Zweitproblem kann man zT vermeiden mit einer Impfung gegen Gürtelrose- Wirksamkeit nicht so gut aber ca 50% haben keine Gürtelrose mehr und bei 66% der Geimpften tritt der postherpetiforme Schmerz nicht mehr auf. Der Impfstoff hat den gleichen OKA-Impfstamm wie die Windpockenimpfung aber in 14 facher Dosierung.

    Und wer Gürtelrose hat ist natürlich infektiös. Aber nur bei direktem Hautkontakt. Man kann die herpetiformen Bläschen ja auch abdecken- dann darf eigentlich nichts mehr passieren. Na und wenn die Kids 2x WP geimpft sind schon gar nichts.

  28. #33 Joseph Kuhn
    2. Juli 2013

    Heute ist in der Süddeutschen unter der Überschrift “Bedingt abwehrbereit” ein Artikel, der die Möglichkeit steigender Herpes Zoster-Fälle infolge fehlender Boosterung der Immunität durch natürliche Windpockenfälle nach einer flächendeckenden Windpockenimpfung anspricht. Der Artikel stützt sich auf eine Studie, die im März in Vaccine erschienen ist und nach der ( allerdings in einer vergleichsweise kleinen Region mit 300.000 Ew.) ein Anstieg der Herpes Zoster-Fälle zu beobachten sei: https://dx.doi.org/10.1016/j.vaccine.2012.05.050

    Von der Hand zu weisen ist es sicher nicht, dass die Windpockenimpfung solche Folgen hat, das wurde, wie gesagt, auch auf der Nationalen Impfkonferenz diskutiert.

    Etwas eigenartig firmieren die Autoren der Studie:
    G.S. Goldman: Independent Computer Scientist
    P.G. King: Facility Automation Management Engineering (FAME) Systems

  29. #34 Wolf
    17. Juli 2013

    Ist zwar schon etwas älter, aber was solls:

    https://eurpub.oxfordjournals.org/content/early/2013/06/28/eurpub.ckt080.abstract?sid=94dafc90-f9b1-4917-9e8c-de7930f01ac5

    “[…]We found that sceptics and non-sceptics have a different social orientation, even when several variables are controlled for. More specifically, vaccine sceptics scored significantly lower on both horizontal individualism and horizontal collectivism, indicating a lower disposition to see others as equals.[…]”

    Also: In den Augen von Impfskeptikern sind alle Menschen gleich, nur man selbst ist gleicher. Gab doch ein Wort dafür, moment, wie war das noch? Ach ja! EGOISMUS.

  30. #35 Joseph Kuhn
    17. Juli 2013

    @ Wolf:

    “Ist zwar schon etwas älter”

    First published online: June 28, 2013. Ich glaube, das muss man noch nicht unter medizinhistorischen Gesichtspunkten diskutieren 😉
    Danke für den Link, ich werde mir bei Gelegenheit einmal den Volltext ansehen. Ich habe auch noch was, auch schon etwas älter (12. Juli):

    Pressemitteilung der DAK: Bayern hat die meisten Impfpflicht-Gegner

    “Die Zahl der Masernausbrüche in Deutschland steigt. Gesundheitsminister Daniel Bahr hält eine Impfpflicht für Kinder als letztes Mittel für möglich. Während vier von fünf Deutschen (79 Prozent) den Vorschlag unterstützen, lehnen 28 Prozent der Bayern eine solche Regelung ab. Nach einer repräsentativen Umfrage der DAK-Gesundheit berufen sich 76 Prozent der Impfgegner auf das Selbstbestimmungsrecht der Eltern. Die Gegner im Freistaat (28 Prozent der Befragten) fürchten vor allem auch die Risiken und Nebenwirkungen, die das Impfen mit sich bringt. (…) Knapp jeder dritte Impfpflicht-Gegner meint, dass Kinderkrankheiten häufig dramatisiert würden. (…) Im Gegenzug begründen 67 Prozent der Impf-Befürworter in Bayern ihre Zustimmung damit, dass viele Eltern mit dem Thema zu leichtfertig umgingen. Fast genauso viele (60 Prozent) sind der Meinung, dass Kinderkrankheiten generell unterschätzt werden. Hauptargument der bayerischen Befürworter ist jedoch, dass konsequentes Impfen die Zahl der Krankheiten reduziere (81 Prozent). (…). Während die Zustimmung zur Impfpflicht in Bayern (71 Prozent) und Norddeutschland (72 Prozent) deutlich zurückhaltender ausfällt, erhält sie aus den neuen Bundesländern (93 Prozent) am meisten Unterstützung.”

    Quelle: DAK-Pressemitteilung vom 12.7.2013, Repräsentative Bevölkerungsbefragung durch Forsa, 1.002 Befragte ab 18 Jahre, Erhebungszeitraum: 8. und 9. Juli 2013.

  31. […] dem Bestreiten von Kausalzusammenhängen und dem Bestreiten, dass das verbliebene Risiko ein öffentliches Interesse am Impfen begründet? Vielleicht auch mit neuen Bündnispartnern, was den Kampf gegen die „etablierte […]

  32. […] Vertritt Public Health ein wie auch immer zu definierendes Gemeinwohl oder bringt es selbst einen interessengebundenen Standpunkt zum […]