Wie ist das also mit dem „öffentlichen Interesse“ bei der Impfempfehlung für die Varizellen-Impfung? Woraus legitimiert die STIKO ihre Empfehlungen? In der Geschäftsordnung der Kommission heißt es in § 1 (3):
“Die Kommission gibt ihre Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen und zur Durchführung anderer Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten nach dem Stand der Wissenschaft. Dazu wertet die Kommission zur jeweiligen übertragbaren Krankheit Daten zu Wirksamkeit und Verträglichkeit der Impfstoffe oder Mittel der spezifischen Prophylaxe, zu Eigenschaften und Epidemiologie des Krankheitserregers sowie zu Epidemiologie, Verlauf, sonstigen Möglichkeiten der Prävention und Möglichkeiten der Therapie der übertragbaren Krankheit aus, nimmt auf dieser Grundlage eine medizinisch-epidemiologische Nutzen-Risiko-Abwägung vor und berücksichtigt Belange der praktischen Durchführung.“
Hier werden wissenschaftliche und durchführungspraktische Aspekte angesprochen, d.h. hinter dem begründeten „öffentlichen Interesse“ stehen vor allem medizinisch-epidemiologische Befunde. Kurz und knapp heißt es z.B. im Editorial des Schwerpunkthefts „Impfen“ des Bundesgesundheitsblatts: „Das öffentliche Interesse lässt sich mit infektionsepidemiologischen Messgrößen beschreiben“.
Was aber, wenn die Leute, weil die Windpocken meist harmlos verlaufen, diese Überlegungen für sich nicht gelten lassen wollen? Kann es ein öffentliches Interesse geben, das gegen die Summe der Individualinteressen steht? Gibt es ein quasi „metaphysisches“ öffentliches Interesse, das sich aus übergeordneten religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Gründen ableiten und ggf. den realen Individualinteressen gegenüber stellen lässt? Wohl eher nicht. Weder sind alle Aspekte, die bei einer solchen idealen Bestimmung zu berücksichtigen wären, bekannt, noch ist anzunehmen, dass sich daraus jeweils nur eine einzige Bestimmungsmöglichkeit des „öffentlichen Interesses“ ergäbe. Das öffentliche Interesse ist vielmehr selbst eine empirisch konstituierte Norm, sie wird z.B. in demokratischen Verfahren bestimmt, oder durch rechtlich legitimierte Fachgremien wie der STIKO. Was so bestimmt wird, kann allerdings religiös, philosophisch oder wissenschaftlich kritisiert werden, das öffentliche Interesse kann sozusagen legitim oder illegitim sein. Es kann auch unterbestimmt sein, z.B. wenn die STIKO eine Empfehlung ausspricht, die zwar medizinisch-wissenschaftlich begründet ist, aber unter anderen Gesichtspunkten – freiheitsphilosophischen oder ökonomischen – nicht hinreichend universalisiert ist, um tatsächlich als öffentliches Interesse akzeptiert zu werden. Keine einfache Sache also.
Windpocken wie Pocken behandeln? Paradoxe Interessenkonstellationen
Noch einmal zurück zu den Windpocken. Georg Marckmann, einer der wenigen Medizinethiker in Deutschland, die sich mit Public Health-Fragestellungen beschäftigen, plädiert beim Impfen für abgestufte Empfehlungen, z.B. dass man bei Pocken oder auch den Masern eine Impfpflicht vertreten könnte, bei anderen Infektionskrankheiten vielleicht eine öffentliche Impfempfehlung mit Kostenerstattung, bei wieder anderen vielleicht nur ein Impfangebot vorhält oder ganz auf eine gesellschaftliche Regelung verzichtet. Ein vernünftiger Vorschlag.
Sollte man bei der Varizellen-Impfung also darauf verzichten, sie öffentlich zu empfehlen und sie nur als unverbindliches Angebot vorhalten? Der oben bereits zitierte Epidemiologe v. Kries warnt: Entweder konsequent durchimpfen, oder lieber gar nicht. Wie bei den Masern könnte sich nämlich auch bei den Windpocken mit der Impfung der Erkrankungsgipfel im Altersgang nach hinten verschieben. Bei den Masern liegt er inzwischen im Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalter. Die Krankheitsverläufe sind dann oft schwerer, d.h. das kann man eigentlich nur vorübergehend bis zu einer Eradikation in Kauf nehmen oder wenn die Zahl der „normalerweise“ auftretenden schweren Verläufe erheblich höher wäre.
Bei den Masern ist das so. Aber auch bei den Windpocken? Hier scheint eine Konstellation zu bestehen, dass man entweder auf die Impfempfehlung verzichten sollte und die Krankheitslast gesellschaftlich akzeptiert, oder mit allem Nachdruck hohe Impfraten durchsetzt, damit es nicht zu einer Altersverschiebung bei den Infektionen kommt. Zugespitzt: Wäre es also konsequent und „im öffentlichen Interesse“, bei den Windpocken gerade wegen der vergleichsweise geringen Krankheitslast und einer daher vielleicht nicht ausreichenden Impfmotivation mit allen Mitteln hohe Impfquoten anzustreben, womöglich sogar eine Impfpflicht einzuführen? Eine paradox anmutende Interessenkonstellation, mit einigen Untiefen, was die Bestimmung des öffentlichen Interesses in diesem Fall angeht. Welchen Stellenwert haben dabei z.B. Freiheitsaspekte? Reicht hier noch ein wissenschaftliches Gremium, um das öffentliche Interesse zu bestimmen? Oder ist das, im Gewande einer medizinischen Technologiefolgenabschätzung, die Wiederkehr der Philosophenherrschaft?
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