Manchmal äußern sich Leute derart abseitig über psychische Erkrankungen, dass man sich fragt, ob diese Leute die Zeit seit der Psychiatrie-Enquete 1975 im gesundheitspolitischen Tiefschlaf verbracht haben. Spätestens seit damals sollte es für Fachleute eine Binsenweisheit sein, dass es mit der Versorgung psychisch Kranker nicht zum Besten steht.
Inzwischen hat sich viel getan, aber es gibt auch noch viel zu tun. So weist die Weltgesundheitsorganisation immer wieder darauf hin, dass die psychische Gesundheit zu den ganz großen gesundheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört. Da vereinbaren die europäischen Länder einen “Europäischen Pakt für psychische Gesundheit und Wohlbefinden“, der u.a. gegen die Stigmatisierung und Verharmlosung psychischer Störungen mobilisieren soll. Da schreiben die Krankenkassen Jahr für Jahr, dass Krankschreibungen infolge psychischer Störungen stetig zunehmen, auch die Krankenhausfälle mit diesen Diagnosen nehmen seit Jahren zu und bei den Ursachen krankheitsbedingter Frühberentungen stehen die psychischen Störungen inzwischen an erster Stelle. Eigentlich kein Szenario, um die Problematik abzutun.
Und dann sagt ausgerechnet der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, also des Gremiums, das für eine qualitativ gute Gesundheitsversorgung in Deutschland sorgen soll und dafür zuständig ist, welche Behandlungen durch die gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden, Josef Hecken, dass nicht jeder Bürger eine Psychotherapie brauche, manchmal tue es auch eine Flasche Bier.
Wörtlich genommen, ist das sogar richtig. Natürlich braucht nicht jeder Bürger eine Psychotherapie, gottseidank. Auch nicht jede Bürgerin. Und natürlich tut es manchmal eine Flasche Bier, zum Beispiel im Sommer im Biergarten, wenn es heiß ist.
Was mag ihm bei diesem Satz durch den Kopf gegangen sein? Irgendeine Art von „die Leute sollen sich halt nicht so anstellen“-Gefühl vermutlich. Dabei sind gerade erst die Ergebnisse der Studie „Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ veröffentlicht worden, die einmal mehr bestätigen, dass Menschen mit psychischen Störungen oft gar nicht, oft nicht rechtzeitig und oft nicht leitliniengerecht versorgt werden. Nur ca. 40 % der ernsthaft Betroffenen haben im Laufe eines Jahres überhaupt Kontakt zum Medizinsystem. Sie „stellen sich also nicht an“, weder im sprichwörtlichen noch im wörtlichen Sinn – daher kommen die Wartezeiten auf einen Therapieplatz eben nicht.
Man möchte Josef Hecken empfehlen, sich die kleine Broschüre “10 Tatsachen zur Psychotherapie“ einmal durchzulesen und seinen Wissensstand zu diesem Thema upzudaten. In Kapitel 6 der Broschüre kann er kurzgerafft auch nachlesen, wie es um die Versorgung von Menschen mit psychischen Beschwerden in Deutschland steht.
Vielleicht hatte Josef Hecken bei seinem komischen Satz aber auch nur zu tief ins Glas geschaut – dann sei es ihm nachgesehen, Prost Herr Hecken.
Nachtrag 15.11.2013: In den Kommentaren 70 und 73 gibt es aktuelle Informationen zur Sachlage.
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