Heute vor 65 Jahren, am 23. Mai 1949, ist das Grundgesetz in Kraft getreten. Es ist Teil der Demokratisierungs- und Zivilisierungsgeschichte unseres Landes nach dem zweiten Weltkrieg, deren Tragweite man leicht übersieht, weil man sie für selbstverständlich hält. Ein Blick in die Ukraine, nach Libyen oder nach Ägypten zeigt, dass es auch ganz anders hätte kommen können.

Man mag kritisieren, dass das Grundgesetz unsere Lebenswirklichkeit nicht so durchgreifend prägt, wie es zu wünschen wäre. In der Feierstunde zum 65. Jahrestags des Grundgesetzes im Bundestag hat der Schriftsteller Navid Kermani in seiner Rede auf den opportunistischen Umgang mit dem Asylrecht hingewiesen. Daran könnte man anknüpfen und fragen, ob z.B. die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1) nicht auch für alte Menschen gilt, die ins falsche Pflegeheim geraten sind, ob das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2) etwa im Falle einer Krankenhausbehandlung durch die Hinnahme von schätzungsweise 30.000 Sterbefällen durch nosokomiale Infektionen eingeschränkt ist, ob das Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10) nicht auch gegenüber der NSA durchzusetzen wäre oder inwieweit die geheimen Schiedsgerichtsverfahren, die im Freihandelsverfahren zwischen der EU und den USA verhandelt werden, noch mit dem Satz verträglich sind, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht (Art. 20) und die rechtssprechende Gewalt Richtern anvertraut ist (Art. 92).

Trotzdem ist das Grundgesetz heute zu Recht gefeiert worden. Es muss nicht in Rente gehen, eher könnte es etwas Anti-Aging vertragen, man sollte es auch als Bürger öfter mal bemühen. Gebraucht zu werden, hält bekanntlich jung.

Kommentare (17)

  1. #1 Ludger
    24. Mai 2014

    Joseph Kuhn: ” … ob das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2) etwa im Falle einer Krankenhausbehandlung durch die Hinnahme von schätzungsweise 30.000 Sterbefällen durch nosokomiale Infektionen eingeschränkt ist …

    Da gabs doch mal einen Link von Ihnen: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Bazon_Brock_-_Der_Tod_muss_abgeschafft_werden_-_Pr%C3%A4geschild_in_Berlin_Hackesche_H%C3%B6fe.jpg
    Zitat aus https://www.aerzteblatt.de/archiv/146126?src=toc

    Die im Juli publizierten europäischen Zahlen zeigen (3), dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht schlecht abschneidet, die niedrigsten Infektionsraten werden jedoch erstaunlicherweise in osteuropäischen Ländern wie Rumänien, der Slowakei und Bulgarien sowie in Teilen Großbritanniens ermittelt. Das lässt Zweifel aufkommen, ob die beteiligten Krankenhäuser wirklich repräsentativ für das jeweilige Land sind. Die Niederlande, die eigentlich als das Vorbildland in Sachen Infektionsprävention bekannt ist, weisen höhere Infektionsraten als Deutschland auf. Möglicherweise ist jedoch aufgrund der guten finanziellen und vor allem auch personellen Ausstattung der Infektionsepidemiologie die Erfassung besser.
    […]
    Nosokomiale Infektionen werden nie ganz vermeidbar sein, wahrscheinlich kann man sogar nur eine Minderheit der Erkrankungen durch gute Prävention verhindern.

    Die nosokomiale Infektionen sind kein so gutes Beispiel für Grundgesetzverletzungen.

  2. #2 Joseph Kuhn
    24. Mai 2014

    @ Ludger:

    Dass Deutschland bei den nosokomialen Infektionen besonders schlecht dastehe, wollte ich auch nicht sagen, siehe dazu auch diesen Beitrag auf Gesundheits-Check.

    Trotzdem gibt es nach Einschätzung der Fachgesellschaften, siehe z.B. das gemeinsame Statement von DGKH, GHUP und BVÖGD aus dem Jahr 2011, Luft nach oben, was Verbesserungen in der Krankenhaushygiene angeht.

  3. #3 Ludger
    24. Mai 2014

    @ Joseph Kuhn
    Besser geht immer. Dafür würde ich aber nicht das Grundgesetz bemühen. Krankenhaushygiene ist kein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Ob bestimmte Gesetze oder Verordnungen mit Bezug auf die Krankenhaushygiene das Grundgesetz verletzen, wissen Sie besser als ich. Nochmal:

    Ludger #1: “Die nosokomialen Infektionen sind kein so gutes Beispiel für Grundgesetzverletzungen.”

  4. #4 DH
    24. Mai 2014

    Kritiker des GG verwechseln manchmal Ursache mit Wirkung , das Vorhandensein des Artikel eins ist schließlich nicht die Ursache für dessen Nichteinhaltung in allzu vielen Lebensbereichen.

  5. #5 Joseph Kuhn
    24. Mai 2014

    @ Ludger

    “Krankenhaushygiene ist kein Fall für das Bundesverfassungsgericht”

    Vermutlich haben Sie recht, so weit reicht der Gestaltungsauftrag des Grundgesetzes wohl nicht.

    Aber wenn ein Viertel bis ein Drittel der nosokomialen Infektionen als vermeidbar gelten, geht es um Größenordnungen von vielleicht 10.000 vermeidbaren Sterbefällen und 200.000 vermeidbaren Erkrankungsfällen. Das hat durchaus eine politische Dimension und sowohl Bund (§ 23 IfSG) als auch Länder (Krankenhaushygiene-Verordnungen) haben darauf ja in den letzten Jahren gesetzgeberisch reagiert.

    In der Praxis hakt es aber nach wie vor an vielen Stellen, von fehlenden Hygiene-Lehrstühlen bis hin zu Fragen der Finanzierung einer guten Krankenhaushygiene, das kennen Sie vermutlich besser als ich.

  6. #6 Ludger
    24. Mai 2014

    @Joseph Kuhn #5
    Der Aussage kann ich in Maßen zustimmen. Das Problem besteht aber weltweit und ist bisher nicht gelöst. Es ist auch nur zum Teil lösbar, wie Ihre Zahlen aus #5, nämlich 10000 vermeidbare Todesfälle versus 30000 Todesfälle aus dem Blogartikel deutlich machen. Auch die 10000 Fälle sind nur prinzipiell vermeidbar. Es ist noch niemandem auf der Welt gelungen, solche Zahlen zu erreichen. Der Teufel steckt da im Detail. Insofern ermuntert uns das Grundgesetz zur Forschung und zur sich daraus ergebender Verhaltensänderung.

  7. #7 Dr. Webbaer
    24. Mai 2014

    Das Asylrecht hat natürlich nichts in der Verfassung zu suchen, davon unabhängig sollte antiselektive Einwanderung nicht stattfinden.
    MFG
    Dr. W

    • #8 Joseph Kuhn
      24. Mai 2014

      Armer Kerl.

  8. #9 Ludger
    25. Mai 2014

    Wir sind ja in den 65 Jahren mit dem GG gut gefahren. Insbesondere das funktionierende Verfassungsgericht hat dafür gesorgt. Deshalb fand ich es auch richtig, dass es nach der Wiedervereinigung keine neue Verfassung gegeben hat. Damit wäre die bisherige und auch gültige Rechtsprechung weg gewesen. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob das GG noch in allen Artikeln zeitgemäß ist:


    Art. 137
    (3)
    Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.

    Das führt dann nämlich zu Besonderheiten im Arbeitsrecht, die nicht zeitgemäß sind:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsrecht_der_Kirchen
    Das Bundesarbeitsgericht hat am 16. September 2004 die Kündigung eines katholischen Kirchenmusikers in einem weiteren Fall für wirksam erklärt, dessen Wiederverheiratung nach der Einstellung nachträglich bekannt wurde; der Abschluss einer nach Glaubensverständnis und Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe sei ein solcher schwerwiegender Loyalitätsverstoß.[20] Der Fall wurde am 23. September 2010 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden: Deutschland hat, so das Urteil, durch die Anerkennung der kirchlichen Loyalitätsrichtlinie als Grundlage für die Kündigung das Recht des Kirchenmusikers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens Art. 8 EMRK verletzt. Die Sache wurde an die deutsche Gerichtsbarkeit zurückverwiesen mit der Maßgabe, dass zukünftig zwischen den beteiligten Interessen genau abgewogen wird und nach der Art der Tätigkeit zu differenzieren sei. Die deutschen Arbeitsgerichte können also nicht mehr ohne ausführliche Interessenabwägung und einfach durch Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Kündigungen für rechtens erklären. Der EGMR kritisierte die deutschen Arbeitsgerichte dafür, dass sie (in Bezug auf Art. 8 EMRK) nicht ausreichend gewürdigt hatten, warum es der Kirche nicht möglich gewesen sein soll, den Musiker weiter zu beschäftigen, ohne dass die Organisation der Kirche insgesamt einen schweren Glaubwürdigkeitsverlust erleide.

    Und jetzt geht alle schön zur Wahl!

    • #10 Joseph Kuhn
      25. Mai 2014

      Im ersten Satz der von Ihnen zitierten weitergeltenden Bestimmung aus der Weimarer Reichsverfassung steht die schöne Formulierung “innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes”. Vielleicht müsste man das nur etwas stärker zur Geltung kommen lassen? Der Europäische Gerichtshof scheint da ja eine analoge Abwägung vorgenommen zu haben. Zum Weiterlesen: Eva Müller, Gott hat hohe Nebenkosten. Kiepenheuer & Witsch, 2013.

  9. #11 Chemiker
    25. Mai 2014

    Ich halte die Praxis der Tendenzbetriebe in Deutschland auch für einen Skandal, der nicht mit dem Grund­gesetz in Ein­klang gebracht werden kann.

    Besonders pikant ist dabei, daß das Gleich­stellungs­gesetz dafür auch nicht zuständig ist. Wieder­verheira­tete, atheisti­sche oder lesbische Kinder­gärnterin­nen haben auch in Zukunft keine Chance in ihrer Branche, die von kirchlichen Betrieben dominiert wird.

    Ich erinnere mich sogar an einen Fall, in dem eine Frau, die mit ihrem Freund zusammengezogen ist, raus­geschmis­sen wurde. Ein Verhalten, das nicht nur nicht illegal ist, sondern von schätzungs­weise 95% aller Menschen im Land prakti­ziert wird, kann zu Job­verlust führen.

    Diese Gesetzgebung ist wirklich schandhaft.

  10. #12 Ludger
    25. Mai 2014

    Besonders ärgerlich wird es, wenn sexualstraffällige Kleriker im Kirchendienst belassen werden, wiederverheirateten Laien aber der Arbeitsplatz gekündigt wird

  11. #13 Dr. Webbaer
    26. Mai 2014

    @ Herr Dr. Kuhn :
    Erklären Sie gerne mal warum Sie jemanden, der meint, dass tagesaktuelle Herausforderung nichts in der Verfassung zu suchen hat, und der zudem meint, dass die antiselektive Einwanderung per se schlecht ist, als ‘armen Kerl’ bezeichnen.
    MFG
    Dr. W

    • #14 Joseph Kuhn
      26. Mai 2014

      Armer Kerl.

  12. #15 Laura | Rechtsanwälte in den Niederlanden: AMS Advocaten
    29. Mai 2014

    Meiner Meinung nach ist es gut sich hiermit zu beschäftigen.
    Das Grundgesetz ist für jedes Land ein wichtiger
    Meilenstein in der Demokratie. Leider ist es nicht überall
    selbstverständlich.

    Mit freundlichen Grüßen,

    Laura | Rechtsanwälte in den Niederlanden

    Werbe-URL gelöscht, JK

  13. #16 Dr. Webbaer
    30. Mai 2014

    @ Herr Dr. Kuhn :
    Sie haben nicht bemerken können, dass Kommentar #15 Werbe-SPAM ist?
    MFG
    Dr. W

    • #17 Joseph Kuhn
      31. Mai 2014

      War ein paar Tage offline.