Franz Xaver Koelsch (1876-1970) gilt als „Nestor der deutschen Arbeitsmedizin“. Die Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin hat ihre Ehrenmedaille nach ihm benannt und das bayerische Arbeitsministerium einen Forschungspreis. Welcher Mensch war das, der so als Vorbild herausgestellt wird?
Koelsch wurde 1909 zum bayerischen Landesgewerbearzt ernannt, er war also Arbeitsmediziner im Staatsdienst, damals mehr oder weniger ein Novum. Mit knapp 74 Jahren wurde er 1950 pensioniert. Koelsch hielt außerdem 40 Jahre lang arbeitsmedizinische Vorlesungen, das hat er sogar noch etwa 10 Jahre nach seiner Pension getan, und arbeitsmedizinische Abhandlungen geschrieben hat er bis zum Schluss. Zumindest die unermüdliche Aktivität über das normale Rentenalter hinaus hat er mit der Frau gemeinsam, die gerade eine Biographie über ihn vorgelegt hat: Gine Elsner, bis 2009 Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin an der Universität Frankfurt. Seit Ihrer Emeritierung schreibt sie ein Buch nach dem andern, darunter Biographien über die ebenfalls sehr einflussreichen Arbeitsmediziner Ernst Wilhelm Baader und Helmut Valentin.
Vom Fleiß im Alter abgesehen trennen Koelsch und Elsner ansonsten wohl Welten. Gine Elsner ist eine sozialkritische, gewerkschaftlich engagierte Arbeitsmedizinerin, sie sieht sich selbst als „68erin“. Koelsch war ein konservativer, im Kaiserreich sozialisierter Arzt. Sein Verständnis vom Fach Arbeitsmedizin war eher naturwissenschaftlich und – wie Gine Elsner hervorhebt – mit starken Tendenzen zu Konstitutionstheorien und somit auch anschlussfähig für rassenhygienische Konzepte im Nationalsozialismus. Allerdings war Koelsch, gleichwohl er “förderndes Mitglied der SS” und Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt war, kein „Nazi“. Gine Elsner charakterisiert ihn vielmehr als monarchistisch und katholisch geprägt und als einen Beamten, der allen Herren „unpolitisch“ diente. So sahen ihn auch die Nazis, Gine Elsner zitiert in ihrem Buch die Bewertung der NS-Dozentenschaft an der Münchner Universität, die ihn als „liberalen Zentrumssozi“ einstufte. Koelsch hat sich, wie so viele damals, eben „arrangiert“. Was er von den Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter bei BMW, den Zuständen in den bayerischen KZ-Außenlagern, die dem Arbeitseinsatz dienten oder von Auschwitz-Monowitz wusste (die IG-Farben-Firma BASF gehörte zu seinem Zuständigkeitsbereich, Ludwigshafen war damals noch bayerisch), ist nicht bekannt, darüber lässt sich bestenfalls spekulieren. Gine Elsner vermisst von ihm allerdings klare Worte des Bedauerns nach dem Krieg und meint, er sei nicht in der Lage gewesen, in dieser Hinsicht „Verantwortung zu übernehmen“, auf ihn träfe Mitscherlichs Diktum zu von der Unfähigkeit, zu trauern.
Franz Xaver Koelsch war übrigens Nachfahre des berühmtesten deutschen Sozialmediziners, Johann Peter Frank (1745-1821), der mit seinem sechsbändigen Werk „System einer vollständigen medicinischen Polizey“ ein wirkmächtiger Initiator sozialmedizinischen Denkens und Handelns war, etwa was den Zusammenhang von Armut und Gesundheit angeht. Dieses Denken war Koelsch fremd, er wollte die Arbeitsbedingungen nicht gesellschaftstheoretisch verstanden wissen, etwa als Folge des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital – er wollte „unpolitisch“ sein und war damit wiederum doch politisch.
Seiner unbestrittenen Verdienste um die Arbeitsmedizin war sich Koelsch sehr bewusst und Bescheidenheit war seine Sache nicht. 1955 hat er in einem Schreiben an das bayerische Kultusministerium als Anerkennung für seine Leistungen das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik gefordert – und erhalten, wie Gine Elsner schreibt.
Das Buch „Staatstragende Arbeitsmedizin“ ist beim VSA-Verlag erschienen, 430 Seiten dick und kostet 29,80 Euro. Abgesehen von einigen Abschnitten, die sich in alte toxikologische Debatten vertiefen, ist das Buch auch für Nichtarbeitsmediziner hochinteressant. Es zeichnet an der Person Koelsch zugleich ein Stück Arbeitsmedizingeschichte nach und ist vom Stil her alles andere als akademisch trockene Lektüre. Über die Geschichte der Arbeitsmedizin so zu schreiben, dass man als „normaler Leser“ bis zum Ende dabei bleibt, das muss man erst mal können. Die Koelsch-Medaille wird es Gine Elsner wohl trotzdem nicht einbringen, aber ob sie das wollen würde, darf ohnehin bezweifelt werden. Ich bin gespannt auf ihr nächstes Buch.
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Kleiner Nachtrag am Rande: Gine Elsner schreibt, die Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg läge 40 km östlich von Bad Kissingen (S. 177). Geheimnisvolles Bayern! Ob das mit dem „Aschaffenburg-Problem“ zusammenhängt?
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