Diese Sentenz von Rudolf Virchow beginnt mit der Feststellung, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft sei. Die Perspektive der Medizin, das war Virchows Überzeugung, muss über ihren naturwissenschaftlichen Kern hinausgehen und darf die sozialen und politischen Rahmenbedingungen von Krankheit und Tod nicht ausblenden.
Ich weiß nicht, welcher Art Medizin die Politik sein soll, die gerade wieder so brutal und blutig allen zivilisatorischen Fortschritten Hohn spricht, in der Ukraine, in Nahost von Syrien bis zum Gazastreifen, im Südsudan. Darf die soziale Wissenschaft Medizin dazu schweigen? Darf die Wissenschaft insgesamt, mit ihrem Ethos der Wahrheit und des Streits der Argumente, dazu schweigen? Fordert die eingebürgerte Trennung von Politik und Wissenschaft auch das Schweigen der Wissenschaftler angesichts dieser Kriege?
Vor 40 Jahren hat Noam Chomsky in seinem Buch „Amerika und die neuen Mandarine“ das Stillschweigen amerikanischer Intellektueller angesichts des Vietnamkriegs vehement kritisiert. Er sah sie gerade als Intellektuelle, als Fachleute für die Analyse von Argumenten, in der Pflicht, die regierungsamtlichen Rechtfertigungen des Bombardements von Dörfern und Städten in Vietnam nicht einfach hinzunehmen. In der aktuellen Lancet-Ausgabe gibt es nun einen offenen Brief von Ärzten und Wissenschaftlern, die – mit Blick auf die Tragödie im Gazastreifen – ein Ende der Gewalt fordern und beklagen, dass sich kaum (israelische) Wissenschaftler kritisch zum Gazakrieg zu Wort melden:
„We register with dismay that only 5% of our Israeli academic colleagues signed an appeal to their government to stop the military operation against Gaza. We are tempted to conclude that with the exception of this 5%, the rest of the Israeli academics are complicit in the massacre and destruction of Gaza. We also see the complicity of our countries in Europe and North America in this massacre and the impotence once again of the international institutions and organisations to stop this massacre.”
Um nicht missverstanden zu werden: Ich sehe keinesfalls Israel einseitig in der Verantwortung für den Krieg im Gazastreifen und an die Stelle Gazas kann man auch die Ostukraine oder andere von der Menschlichkeit verlassene Orte dieser Welt einsetzen. Die „Medizin“ des Tötens ist an vielen Stellen unserer Welt noch – oder wieder? – das Mittel der Wahl. Haben wir, auch wir auf scienceblogs, auch wir in Public Health, dazu nichts zu sagen? Sind wir Mandarine der Macht?
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Nachtrag 7.8.2014:
Ein Kollege hat mir den Hinweis auf einen Artikel von Wiist et al.: “The Role of Public Health in the Prevention of War: Rationale and Competencies” geschickt, der gerade im American Journal of Public Health, June 2014, Vol 104, No. 6 erschienen ist. Er diskutiert die Problematik unter verschiedenen Aspekten, auch mit interessanten ökonomischen Daten, und leitet Vorschläge für Analysen und Statements ab, die aus Public Health-Sicht einen Beitrag zur Prävention von Kriegen leisten könnten. Der Artikel endet mit einer klaren Botschaft: “Public Health practitioners and academics have an obligation to take a lead role in the prevention of war by addressing the fundamental causes in society that lead to war.” Auf Deutsch: Nutzt eure Fähigkeiten, Wegsehen ist keine Option.
Nachtrag 8.8.2014:
Der offene Brief im Lancet hat heftige Reaktionen hervorgerufen. Im Internet kursiert sogar eine Petition, die die Entlassung des Editor-in-Chief Richard Horton verlangt. Der Lancet hat heute auf die Auseinandersetzungen um den offenen Brief mit einem Kommentar reagiert.
Nachtrag 11.8.2014:
In der Süddeutschen Zeitung ist heute ein Kommentar von Ulrich Beck zum Gazakrieg, der versucht, Forderungen nach Frieden von einer antisemitischen Konnotierung abzugrenzen. Am Ende steht ebenfalls ein Aufruf: “Engagement und Einmischung sind eine Tradition der europäischen Intelligenzija. Warum dann dieses Schweigen der Intellektuellen über Nahost? (…). Doch die Verpflichtung, die aus der Ethik des “Nie wieder” hervorgeht, fordert, das Schweigen endlich zu brechen.” Er würde vermutlich zustimmen, dass dies ebenso für die vielen Konflikte andernorts gilt, deren Häufung und ideologische Verhärtung den Eindruck aufkommen lässt, dass das Projekt der europäischen Aufklärung gerade (wieder einmal) eine tiefe Krise durchmacht.
Nachtrag 13.8.2014:
Inzwischen gibt es auf der Internetseite des Lancet eine ganze Reihe von Kommentaren zum offenen Brief, pro und contra. Seltsamerweise sagen alle, die sich so engagiert für die eine oder andere Seite äußern “We declare no competing interests”. Auf den ersten Blick könnte man das als offenkundig falsch ansehen, auf den zweiten Blick, in einem wohlverstandenen Sinne, liegt hier ein Teil des Problems.
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