Ob die Wissenschaft frei von Werten sein soll oder sein kann, ist ein altes Thema der Wissenschaftstheorie. Klar, eine politisch oder religiös eingefärbte Wissenschaft und die Wahrheit passen nicht zueinander. Galileo hatte recht, die Erde dreht sich. Lyssenkos Genetik war falsch und wird auch durch die heutige Epigenetik nicht wahr. Vom Sollen auf das Sein zu schließen ging sichtlich nicht gut und vom Sein auf das Sollen zu schließen, führt nur zum Sein-Sollen-Fehlschluss.
Aber so einfach sich die Sache auf den ersten Blick darstellen mag, so kompliziert wird es, wenn man einzelne Aspekte des Themas genauer ansieht. Hier auf Gesundheits-Check haben wir zum Beispiel vor ein paar Monaten kurz über Heuristiken wie „Ockhams Rasiermesser“ gesprochen. Die einfachere Erklärung zu nehmen, wenn man die Wahl unter mehreren Alternativen hat, die gleich gut oder gleich schlecht zu den Daten passen, klingt vernünftig. Aber worauf gründet sich diese Heuristik? Auf Empirie nicht, es ist eine Wertung. Da sie dem Erkenntnisinteresse zu dienen scheint, sprechen Wissenschaftstheoretiker von einem „epistemischen Wert“.
Ein anderer epistemischer Wert ist z.B. die Kohärenz einer Theorie mit anderen bereits gut bestätigten Theorien und unserem Wissensfundus. Dagegen verstoßen insbesondere pseudowissenschaftliche Theorien aus der Alternativmedizin gerne mit großer Nonchalance: Auch wenn sonst in der Naturwissenschaft von Nichts nichts kommt, soll es in der Homöopathie doch anders sein. Die Frage danach, welchen Preis es kosten würde, mit einer Theorie „gegen den Rest der Welt“ anzutreten, was man also alles neu aufbauen müsste, bewahrt davor, zum wissenschaftlichen Geisterfahrer zu werden, der lauter Geisterfahrer entgegenkommen sieht. Eine nützliche Heuristik.
Mit den epistemischen Werten hat man meist keine grundsätzlichen Probleme, weil sie als wahrheitsdienlich gelten. Aber ob das wirklich so ist? Beispielsweise wird angemerkt, die Forderung nach Kohärenz zum vorhandenen Wissen wirke konservativ und behindere die Entwicklung neuer Perspektiven. Ist das so?
Es scheint zudem, als ob jede wissenschaftliche Disziplin ihre eigenen Nuancen epistemischer Werte pflegt, ein Set an Verfahrensweisen, „wie man vorgeht und was man nicht tut“. In der Epidemiologie (und analog in anderen statistisch arbeitenden Wissenschaften) spielt z.B. das „Signifikanzniveau“ eine wichtige Rolle. Ob man eine Nullhypothese, also die Annahme, ein Zusammenhang sei nur zufällig zustande gekommen, verwirft, wird meist an einer 1%- oder einer 5%-Irrtumswahrscheinlichkeit festgemacht, je nachdem, um welchen Sachverhalt es geht und was die Konsequenzen der Entscheidung sind. Das ist eine pure Wertentscheidung im Zentrum des wissenschaftlichen Vorgehens. In verallgemeinerter Form gilt das für den Umgang mit dem „induktiven Risiko“, wie es Carl Gustav Hempel genannt hat, auch über statistische Verfahren hinaus.
Neben den epistemischen Werten i.e.S. spielen vor allem bei der Auswahl von übergreifenden Forschungsprogrammen auch andere Werte eine Rolle, z.B. was die Nützlichkeit oder die emanzipatorische Relevanz von Theorien und Ansätzen angeht. Dabei gibt es wiederum komplexe Wechselbeziehungen zwischen solchen Werten und den epistemischen Werten einzelner Wissenschaftsgebiete, d.h. was in einer wissenschaftlichen Disziplin (z.B. der Physik) ein außerepistemischer Wert ist, kann in einem anderen Fach (z.B. der Psychologie) durchaus ein epistemischer Wert sein. Aber das wäre eine eigene Geschichte.
Wer mehr dazu lesen will, dem seien vor allem zwei Bücher empfohlen: Erstens der Klassiker „Wider den Methodenzwang“ von Paul Feyerabend, ein Buch, das in seiner kritischen Betrachtung methodischer Normen viel von den späteren „science wars“ vorwegnimmt und das übrigens eine auch heute noch lehrreiche Darstellung zum Fall Galileo enthält (Feyerabend verteidigt die Kirche vor dem Hintergrund des epistemischen Werts „Kohärenz mit bewährtem Wissen“!). Zweitens der neue Sammelband „Werte in den Wissenschaften“ von Gerhard Schurz und Martin Carrier, der einen gut lesbaren und ausgesprochen informativen Überblick über die Werturteilsdiskussion von Max Weber bis heute gibt. Das Buch enthält sowohl historische „Meilensteine“ der Diskussion als auch bilanzierende Übersichtsartikel – philosophiegeschichtlich und didaktisch gleichermaßen „rund“.
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