Fast ein Jahr ist es her, dass der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, seine vielkritisierte Bemerkung gemacht hat, nicht jeder brauche eine Psychotherapie, manchmal reiche auch ein Bier.
Nun scheint das Bundesgesundheitsministerium dieser Bedarfseinschätzung folgen zu wollen. Das geplante Versorgungsstärkungsgesetz sieht vor, dass in überversorgten Gebieten Arztsitze und Psychotherapeutensitze nicht mehr wiederbesetzt werden sollen. Als „überversorgt“ gilt ein Gebiet mit einem Versorgungsgrad von mehr als 110 %.
Die Bundespsychotherapeutenkammer hat die Folgen für Deutschland einmal hochgerechnet und kam zu dem Ergebnis, dass dies den Abbau von mehr als 7.000 Psychotherapeuten oder gut 30 Prozent des Gesamtbestandes bedeuten würde., in Berlin, Bremen und Hessen wäre sogar fast die Hälfte aller Sitze betroffen.
Wie so oft im Leben wird es auch hier sicher nicht so schlimm kommen wie von den Standesvertretungen befürchtet, selbst wenn das Gesetz in dieser Form in Kraft tritt. Es wird Möglichkeiten geben, über Job-Sharing-Modelle, Partnerschaftsübernahmen und auf anderen Wegen den Fortbestand der Praxen zu sichern. Davon einmal abgesehen, macht die Bundespsychotherapeutenkammer in ihrer Pressemitteilung aber zu Recht auf einen eigentlich altbekannten, aber in der Bedarfsplanung notorisch ignorierten Sachverhalt aufmerksam: Der den Praxisabbauplänen zugrunde liegende „Versorgungsgrad“ ist eine absurde Kunstziffer. Bei den Psychotherapeuten hatte man einfach den Ist-Zustand zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes 1999 zum Soll-Zustand, zum 100%-Versorgungsgrad, erklärt. In den neuen Ländern gab es damals kaum Psychotherapeuten, es gab noch viele nicht entschiedene Zulassungsverfahren usw. – das erzwang in der Folge die Zulassung von Psychotherapeuten über den Soll-Wert hinaus. In manchen Regionen kam es dadurch zu Versorgungsgraden von mehreren hundert Prozent, ohne dass damit die tatsächliche Versorgung notwendigerweise besser als in anderen Regionen sein muss.
Ein weiteres Problem ist die fehlende getrennte Bedarfsplanung für die sog. „Psychologischen Psychotherapeuten“ (die im Wesentlichen Erwachsene behandeln) und die „Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten“, die, wie der Name sagt, nur Kinder und Jugendliche behandeln. Beide werden in einem gemeinsamen Topf gezählt.* In meinem Heimatlandkreis Dachau hat das z.B. zur Folge, dass bei einem rechnerischen Versorgungsgrad von mehr als 500 % Kinder und Jugendliche häufig dennoch mehrere Monate auf einen Therapieplatz warten müssen. Für schulpflichtige Kinder mit einer Angststörung ist dann unter Umständen ein Schuljahr gelaufen.
Wie viele Psychotherapeuten regional jeweils notwendig wären, ist gar nicht so klar. Es gibt zwar verschiedene Schätzungen, aber keine wirklich validen und regional differenzierten Daten. Ob weniger Psychotherapeuten auch reichen würden? Die Fallzahlen für psychische Störungen im Versorgungssystem nehmen seit Jahren zu, egal ob man sich die ambulanten Behandlungen, die Krankenhausfälle, die Psychopharmaka-Verordnungen oder die Frühberentungen ansieht. Das könnte prinzipiell zwar auch eine angebotsinduzierte Entwicklung sein, aber Erhebungen zu Wartezeiten und zu unversorgten psychischen Störungen sowie die Zunahme der Kostenerstattungsfälle (d.h. der von den Krankenkassen bedarfsbedingt zusätzlich finanzierten Fälle) sprechen ziemlich deutlich dagegen. Auch ernste psychische Störungen werden oft nicht rechtzeitig behandelt.
Nötig wäre endlich einmal eine vernünftige Bedarfsplanung, die regionale Erkrankungshäufigkeiten, stationäre und komplementäre Versorgungsangebote und andere relevante Faktoren miteinbezieht. Dass nicht jeder eine Psychotherapie braucht, ist richtig, ersetzt aber keine morbiditätsbasierte Bedarfsplanung.
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*Nachtrag 20.10.2014: Ein Kollege fragte, ob es nicht auch Ärzte gäbe, die Psychotherapie machen. Ja, sie gehören sogar zur selben Bedarfsplanungsgruppe wie die psychotherapeutisch tätigen Psychologen. Die Bedarfsplanungsrichtlinie §12 II Nr.8 sagt: “Zur Arztgruppe der Psychotherapeuten gehören gemäß § 101 Absatz 4 Satz 1 SGB V die überwiegend oder ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Ärzte, die Fachärzte für Psychotherapeutische Medizin, die Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, die Psychologischen Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.” Dazu gäbe es auch einiges zu sagen, aber das wäre eine eigene Geschichte.
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