Bevölkerungsdaten spielen in vielen Gesundheitsstatistiken eine wichtige Rolle, unter anderem, weil sie als Bezugsgröße für Raten gebraucht werden. Oft und zu Recht wird bei der Ratenbildung dabei über die Qualität der Zählerdaten nachgedacht, z.B. ob Herzinfarkte oder Impfungen richtig erfasst wurden. Erst kürzlich hatten wir darüber hier auf Gesundheits-Check am Beispiel der Zahl der Diabetesfälle in Deutschland diskutiert. Den Bevölkerungsdaten im Nenner der Raten unterstellt man dagegen gerne, dass sie über jeden Zweifel erhaben sind, weil sie doch über die amtliche Statistik ganz objektiv und genau erhoben werden.

So uneingeschränkt gilt das aber nicht. Die aktuellen Bevölkerungszahlen in der amtlichen Statistik sind Fortschreibungen der jeweils letzten Volkszählung. Etwas vereinfacht: Die Geburten und Zuzüge jeden Jahres werden dazugerechnet, die Sterbefälle und Wegzüge abgezogen. Bis vor kurzem wurden so die Ergebnisse der Volkszählung 1987 fortgeschrieben. Man braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, wie sich auf diese Weise im Laufe der Jahre Fehler ansammeln. Eine Analyse des Max Planck-Instituts für demografische Forschung (Scholz/Jdanov: Weniger Hochbetagte als gedacht. Demografische Forschung aus erster Hand. 2008, Nr. 1) hatte vor ein paar Jahren tatsächlich auch ergeben, dass in der Bevölkerungsstatistik die Zahl der hochaltrigen Männer womöglich um 40 %, die der hochaltrigen Frauen um 15 % überschätzt wird. Wenn man dann z.B. Raten für Demenzerkrankungen im Zeitvergleich berechnen will, ist das denkbar ungünstig.

2011 gab es eine neue Volkszählung, also eine neue Ausgangsbasis für die künftige Fortschreibung des Bevölkerungsstands. Diesmal hat man eine Erhebungsmethode angewandt, bei der nicht mehr jede Person befragt wurde, sondern man hat einen „registergestützten Zensus“ durchgeführt. Basis dafür waren vorhandene Registerdaten, diese wurden durch geeignete Verfahren verknüpft und korrigiert, z.B. um Dubletten zu bereinigen. Dabei kamen für Gemeinden über und unter 10.000 Einwohner unterschiedliche Verfahren zum Einsatz. Beispielsweise sind Stichprobenverfahren in kleinen Gemeinden statistisch nicht mehr sinnvoll.

Wie jede Erhebung ist auch der Zensus 2011 trotz sorgfältiger methodischer Vorbereitung natürlich nicht frei von Fehlermöglichkeiten und die registergestützte Methodik ist zudem nicht so einfach zu erklären wie eine Volkszählung, bei der jeder befragt wird. Weil viele Gemeinden den Zensus-Ergebnissen zufolge weniger Einwohner haben als vorher und die Einwohnerzahlen eine der Grundlagen der Gemeindefinanzierung sind, steht der Zensus 2011, wen wundert’s, jetzt bei den Gemeinden in der Kritik. Eine ganze Reihe klagt sogar gegen den Zensus, weil sie die Ergebnisse anzweifeln.

Der Einwohnerschwund betrifft kleine und größere Gemeinden unterschiedlich: Größere Gemeinden haben prozentual im Durchschnitt mehr Einwohner verloren als kleinere Gemeinden. Eine schöne Grafik dazu mit Daten aus Niedersachsen hat Björn Schwentker im „meta-Magazin“ veröffentlicht, das gerade im Blog Placeboalarm nebenan beworben wird.

Zensus2011

Dass es bei größeren Gemeinden auch zu einem größeren Einwohnerschwund kommen wird, haben die Zensustests bereits vorher gezeigt. In größeren Gemeinden gibt es z.B. in den Melderegistern mehr „Karteileichen“, etwa durch Umzüge, die nicht korrekt dokumentiert sind oder durch Rückwanderung von ausländischen Einwohnern ohne Abmeldung oder ohne korrekte Abmeldung aufgrund von Problemen bei der Schreibweise von Namen. Es kann aber auch sein, dass die unterschiedlichen Korrekturverfahren für kleinere und größere Gemeinden einen Methodeneffekt nach sich ziehen, der einen Teil der Differenz der Einkommensverluste erklärt. Etwas eigenartig ist z.B., dass die Einwohnerverluste in der Gruppe der größeren Gemeinden links clustern und sich nicht gleichverteilen. Da scheint es noch Futter für nachgehende Analysen zu geben.

Wie dem auch sei: Gute Bevölkerungsdaten sind keine Selbstverständlichkeit, sie sind aber unverzichtbar, nicht nur mit Blick auf eine gerechte Verteilung der Gemeindefinanzen, sondern auch mit Blick auf ihre Nutzung in anderen Bereichen wie z.B. der Gesundheitsstatistik.

Ein Grund für die registergestützte Vorgehensweise war übrigens, dass man die Bürger und Bürgerinnen nicht unnötig mit der Erhebung belasten wollte – und zugleich Proteste gegen die staatliche Datensammlung wie 1987 möglichst vermeiden wollte. Dabei waren Volkszählungen früher viel belastender, wie die Bibel zu erzählen weiß: Bei der berühmten Volkszählung in Israel vor 2.000 Jahren mussten die Einwohner, um sich zählen zu lassen, angeblich noch dahin zurück, wo sie geboren wurden. Über die Qualität der Ergebnisse damals ist nichts bekannt. Und wer weiß, wie die weitere Geschichte verlaufen wäre, wenn man damals registergestützt gezählt und Geburten ohne plausible Vaterschaft und ohne korrekte Wohnanschrift als „Unstimmigkeit“ nach § 16 ZensG 2011 aufgeklärt hätte.

Kommentare (10)

  1. #2 michael
    11. Dezember 2014

    Entschuldigung, falls das für alle offensichtlich ist, aber was genau ist denn mit “die Einwohnerverluste in der Gruppe der größeren Gemeinden clustern links” gemeint? Im meta-Artikel konnte ich diese Formulierung nicht finden.

    • #3 Joseph Kuhn
      11. Dezember 2014

      @ michael: Das steht auch nicht im meta-Artikel. Wenn Sie sich die Grafik anschauen, dann sind auf der linken Hälfte, in Grün, die Einwohnergewinne und -verluste der Gemeinden bis zu einer Größe von 10.000 Einwohnern dargestellt. Daran schließen in Rot die der größeren Gemeinden an und hier sind die deutlichen Ausschläge nach unten (also Einwohnerverluste) eher nicht bei den großen Städten, sondern bei den Gemeinden zwischen 10.000 und 50.000 Einwohnern, im roten Spektrum eben links. Was das bedeutet, ist mir nicht klar. Es spricht zunächst einmal gegen eine lineare Zunahme von Fortschreibungsfehlern mit der Gemeindegröße. Jetzt kann man spekulieren, ob das etwas mit der Qualität der Melderegister in diesen Gemeinden zu tun hat, oder mit der Korrekturmethode beim Zensus, oder ob etwas ganz anderes dahinter steht. Ich bin kein Demograph, vielleicht wissen die mehr, vielleicht auch nicht.

  2. #4 michael
    11. Dezember 2014

    @Joseph Kuhn:
    Ist das wirklich ein statistisch signifikanter Effekt? Von den richtig großen Gemeinden gibt es (selbstverständlich) sehr wenige; nur acht Punkte sind >~ 100k Einwohner, was zu https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_gr%C3%B6%C3%9Ften_St%C3%A4dte_in_Niedersachsen_nach_Einwohnerzahl passt. Und unter 100k sehe ich jedenfalls keinen Effekt.

  3. #5 Joseph Kuhn
    11. Dezember 2014

    @ Michael:

    “Ist das wirklich ein statistisch signifikanter Effekt? … unter 100k sehe ich jedenfalls keinen Effekt.”

    Schwer zu sagen, mit bloßem Auge. Auch bei Gleichverteilung im roten Bereich bliebe aber immerhin der Sprung im Niveau der Einwohnerverluste zwischen Grün und Rot an der 10.000er Schwelle. Dazu fällt mir auch erst mal nichts ein.

  4. #6 Björn Schwentker
    Hamburg
    12. Dezember 2014

    @Michael @Joseph Kuhn

    Die Grafik aus meta ist Teil einer größeren Analyse, die ich für Spiegel online gemacht habe. Ausführliche Einordnung und Beschreibung siehe im Artikel Zensusstatistik für alle.

    Wir haben dort nicht nur einfach diese Grafik gemacht, sondern auch verschiedene Größenklassen von Gemeinden verglichen und ein kleines Regressionsmodell gerechnet. Alle Daten dazu und der kommentierte R-Code sind auf SPON verlinkt (finden sich hier auf Github.)

    Wir haben uns von einem Statistiker der LMU München beraten lassen, der später auch ein wissenschaftliches Gutachten für die erste von 350 Klagen gegen den Zensus, die öffentlich verhandelt wurde. Bisher deutet alles in die Richtung, dass es tatsächlich einen Methodeneffekt gibt.

    Wir haben nicht nur mit den Daten für Niedersachsen gerechnet, sondern auch mit denen für Rheinland-Pfalz. Mit sehr ähnlichen Ergebnissen. Mehr Registerdaten hatten wir nicht, weil die amtliche Statistik sie (und damit den Methoden-Test) bisher verweigert. Es gibt aber Analysen mit ähnlichen Daten für alle Bundesländer in dieser Veröffentlichung. Dort hat man die alte Fortschreibung als Referenz genommen statt der Registerdaten. Es lässt sich zeigen, dass das sehr ähnliche Ergebnisse liefert. In dieser Veröffentlichung gibt es multivariate Analysen mit noch einige Kontrollvariablen mehr als im einfachen SPON-Modell.

    Das Statistische Bundesamt hat übrigens in einer Stellungnahme gegenüber SPON nicht ausgeschlossen, dass es einen Methodeneffekt gibt. Der Streit geht nun eher darum, was er juristisch bedeutet. Das werden die Gerichte entscheiden.

    • #7 Joseph Kuhn
      12. Dezember 2014

      @ Björn Schwentker:

      “Das Statistische Bundesamt hat übrigens … nicht ausgeschlossen, dass es einen Methodeneffekt gibt.”

      Das wäre auch komisch, man hat dort ja vermutlich selbst ein hohes Interesse daran, solche Methodeneffekte dingfest zu machen, auch wenn ich – meine Laienmeinung – nicht so recht daran glauben mag, dass Erkenntnisse darüber für den nächsten Zensus in vielleicht 25 Jahren noch besonders relevant sein werden.

      Die Grafik lädt jedenfalls zum Hypothesenbilden über mögliche Methodeneffekte ein. Wenn ich mal wild herumspekuliere: Dass man den auffälligen Unterschied bei der 10.000er-Schwelle aus der Meldedokumentation heraus erklären kann, z.B. durch andere EDV-Anwendungen in Gemeinden ab 10.000 Ew., ist vermutlich nicht anzunehmen. Ein Methodeneffekt ist wohl wahrscheinlicher. Der kann die roten oder die grünen Gemeinden betreffen (oder beide). Der Sprung bei den roten Gemeinden verführt erst einmal dazu, auch hier den Methodeneffekt zu vermuten. Denkbar wäre aber genauso, dass die Bereinigungsmethode bei den grünen Gemeinden mit zunehmender Gemeindegröße weniger greift und dadurch die Einwohnerverluste immer geringer werden, bis sie mit der anderen Methode ab 10.000 Ew. wieder auf die reale Größe hochspringen. Wie gesagt alles Spekulation. Mal gespannt, was die methodischen Untersuchungen da noch zutage fördern.

      “Der Streit geht nun eher darum, was er juristisch bedeutet.”

      Das wird vermutlich genauso interessant wie die statistische Diskussion, z.B. mit Blick auf den Anspruch auf Genauigkeit, den eine Kommune gegenüber dem Zensus hat. Gibt es schon abgeschlossene Verfahren?

  5. #8 Björn Schwentker
    12. Dezember 2014

    @Joseph Kuhn

    Ja, die statistische Analyse sagt nur, dass ein Methodensprung plausibel ist. Sie sagt nichts darüber, welche der beiden Methoden näher an der “Wahrheit” ist.

    Und ja, die amtliche Statistik hat sicher ein hohes Interesse an einer guten Methode. Aber hier haben sie auch ein Interesse, nicht das Gesicht zu verlieren. Schwierig für die Statistiker, möchte nicht in deren Haut stecken. Da habe sie seit 25 Jahren endlich mal wieder einen Zensus und müssen gleichzeitig eigentlich unvereinbare politische (!) Vorgaben in Sachen Kosten und Qualität umsetzen. Vollerhebung ausgeschlossen, wegen panischer Angst vor einem neuen 1987.

    Also haben sie der Politik die jetzige (Doppel-)Methode vorgeschlagen und die hat sie ins Zensusgesetz geschrieben. Und eben wegen des statistischen Methodensprungs könnte eben dieses Gesetz im Laufe der Klageverfahren vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden. Denn der Sprung könnte bedeuten, dass die grundgesetzlich verankerte Gleichbehandlung der Gemeinden verletzt ist. Und einen Zensus vorgeschlagen zu haben, der nicht verfassungsfest ist, das wäre schon wenig ruhmreich.

    Insofern zeigt die amtliche Statistik schon Größe, wenn sie den Methodeneffekt für möglich hält – und damit das, worüber ihr eigener Zensus fallen könnte. In einer früheren Stellungnahme zu einer älteren Version der erwähnten Methodenstudie hatte das Bundesamt den Methodeneffekt noch bezweifelt und dagegen argumentiert.

    Der nächste Zensus wird 2021 stattfinden. Das ist quasi schon morgen, wenn man bedenkt, dass die Methodik evtl. noch einmal neu ausgedacht werden muss. (Der Zensus wird nun, wie von EU und UN gefordert, alle 10 Jahre stattfinden. Dass wir 25 Jahre keinen hatten, ist dem politischen Einfluss Helmut Kohls zu verdanken, der es irgendwie geschafft hat, dass Deutschland seiner Zählpflicht nicht nachkommen musste, und sich so auf den Weg ins demografische Datendunkel machte.)

    Von den ca. 350 Klagen hat erst ein Verfahren wirklich begonnen, nämlich das Bremerhavens. Niederlage in der ersten Instanz am Verwaltungsgericht Bremen. Allerdings geht Bremerhaven in Berufung, was das Gericht auch schon in der Urteilsverkündung explizit zugelassen hatte. Das sind alles sehr komplexe Fälle. Es wird dauern, bis sie durch sind, evtl. Jahre. Um so knapper wird es für den Zensus 2021, wenn das juristische Endergebnis tatsächlich das Aus für die heutige Methode besiegelt.

  6. #9 Joseph Kuhn
    12. Dezember 2014

    @ Bernd Schwentker:

    “Und einen Zensus vorgeschlagen zu haben, der nicht verfassungsfest ist, das wäre schon wenig ruhmreich.”

    Sicher nicht, wobei man bei solchen Sachen natürlich hinterher immer klüger ist (oder die Chance hat, es zu werden). Ein wirklich kritischer Punkt ist der von Ihnen angesprochene Spagat zwischen Kosten und Qualität. Das wird vermutlich auch eine Rolle in den Gerichtsverfahren spielen. Je genauer Daten sein müssen, desto mehr muss in die Datenerhebung investiert werden und an dem Punkt muss sich auch die Politik fragen lassen, welche Prioritäten sie setzen will, das ist ja nicht mehr nur eine statistische Fachfrage. Wie formulierte im Vorfeld des Zensus 2011 der damalige Bundesinnenminister und heutige Bundesfinanzminister so trefflich:

    “Ohne ein klares und ehrliches Bild von der Wirklichkeit, kann es keine demokratische Politik geben, jedenfalls keine gute. (…) Um es konkret zu machen: Ohne Bevölkerungsstatistik könnten wir weder faire und gleiche Wahlen organisieren noch die richtige Zahl an Schulen bauen und ausreichend Krankenhausbetten bereitstellen.”

    Dem ist nicht zu widersprechen. Allerdings befürchte ich, dass die Methodeneffekte beim Zensus 2011 keinen Einfluss auf die Planungsmöglichkeiten für Schulen und Krankenhausbetten haben und die Kommunen auch nicht deswegen klagen.

    Danke übrigens auch für die Infos zu 2021 und dem Stand der Gerichtsverfahren.

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