In Deutschland wird eine Vielzahl von Statistiken geführt. Wir kennen den Schuldenstand gemessen am Bruttoinlandsprodukt (2013: 76,9 %), wie viele Erwerbstätige es gibt (2014: 42,5 Mio.) und auch die Zahl der Legehennen (2013: 38.437.939, davon 3.264.629 in ökologischer Erzeugung). Na gut, ob da wirklich jede Henne in einer Hennenvolkszählung einzeln gezählt und der Schwund im Suppentopf erfasst wurde, sei einmal dahingestellt. Die Größenordnung wird schon stimmen.
Bei manchen statistischen Sachverhalten ist aber selbst die Größenordnung zweifelhaft. Vor kurzem gab es auf der Internetseite der Skeptikerbewegung eine Diskussion darüber, ob Heilpraktiker noch zeitgemäß seien und in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung war ein Beitrag über Heilpraktiker mit dem Titel “Weißbrot gegen Krebs“, dessen haaarsträubende Geschichten wahrlich nicht dazu angetan sind, die Frage der Skeptiker im Sinne der Heilpraktiker zu beantworten. Manche Scienceblogsleser wissen es sicher: Das Heilpraktikergesetz aus dem Jahr 1939, das den Heilpraktikern die Grundlage zur selbständigen Ausübung der Heilkunde ohne Approbation gab, hatte die Frage nach der Zeitgemäßheit negativ beantwortet. Das Gesetz war darauf ausgerichtet, dass die Heilpraktiker im Laufe der Zeit verschwinden. Geschichtlich vordringlich für das Wohl der Menschheit war allerdings, dass der Nationalsozialismus verschwindet, das Gesetz und die Heilpraktikererlaubnis haben überlebt – in Deutschland, in Österreich gibt es keine Heilpraktiker/innen.
Sowohl die Süddeutsche Zeitung als auch der Wikipedia-Eintrag zu den Heilpraktikern sprechen von 35.000 Heilpraktiker/innen in Deutschland. Die Zahl stammt aus der Gesundheitspersonalrechnung des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2011 und ist eine Schätzung auf der Basis verschiedener Datenquellen. Würde die Zahl stimmen, müsste man davon ausgehen, dass mehr als die Hälfte der Heilpraktiker/innen in Bayern tätig ist. Zum Stichtag 31.12.2013 haben die bayerischen Gesundheitsämter 19.735 Heilpraktiker/innen gezählt, darunter 5.459 mit einer auf Psychotherapie beschränkten Erlaubnis.
Geht man von den 35.000 Heilpraktiker/innen, die das Statistische Bundesamt ausweist, aus und berechnet anhand des Bevölkerungsanteils Bayern einen Erwartungswert für Bayern, so dürfte es in Bayern eigentlich nur 5.500 Heilpraktiker/innen geben. Würde man das Verhältnis zwischen dieser Zahl und den tatsächlich für Bayern erfassten Heilpraktiker/innen wiederum auf Deutschland übertragen, so ergäbe sich eine Zahl von mehr als 120.000 Heilpraktiker/innen in Deutschland. Das ist vermutlich etwas zu viel, weil es in der DDR praktisch keine Heilpraktiker/innen mehr gab und ihre Zahl seit 1990 in den neuen Ländern vermutlich nicht westdeutsches Niveau erreicht hat. Vielleicht gibt es auch in Bayern überdurchschnittlich viele Heilpraktiker, oder viele Karteileichen, so dass auch an dieser Stellschraube der Hochrechnung etwas zu drehen wäre.
Leider wird in vielen Bundesländern die Zahl der Heilpraktiker entweder nicht erfasst oder nicht veröffentlicht. Anhand der bayerischen Daten muss man jedenfalls annehmen, dass das Statistische Bundesamt diese Zahl entweder erheblich unterschätzt oder die bayerischen Daten für eine Hochrechnung nicht geeignet sind.
Interessant ist vielleicht noch der zeitliche Trend. Für das Jahr 1946 weist die Statistik in Bayern 344 Heilpraktiker/innen aus. Heute sind es demnach 43 mal so viel. Die Zahlen sind vor allem seit Mitte der 1970er Jahre kräftig angestiegen. Zum Vergleich: Die Zahl der Ärzt/innen in Bayern ist seit 1946 „nur“ auf den 8-fachen Wert gestiegen. Und nimmt man das Jahr 1980 als Basis, so liegt die Zahl der Heilpraktiker/innen heute fast auf dem 14-fachen des Jahres 1980, die der Ärzt/innen beim 2 ½-fachen. In beiden Berufen waren früher die Männer deutlich in der Überzahl, heute sind es die Frauen. Nach dem Krieg waren zwei Drittel der Heilpraktiker/innen Männer, heute sind fast drei Viertel Frauen.
Die Untergruppe der Heilpraktiker/innen, die nur Psychotherapie ausüben darf, hat ebenfalls kräftig zugenommen, auch und gerade nach dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1999, das die Psychotherapie berufsrechtlich als eigenständigen Heilberuf mit Approbation geregelt hat. Seit 2009 gibt es übrigens auch eine beschränkte Heilpraktiker-Erlaubnis für Physiotherapie; wer sie hat, kann physiotherapeutisch ohne ärztliche Verordnung tätig werden. Regional gibt es zudem noch beschränkte Erlaubnisse für Podologie-Heilpraktiker. Man wird die Frage der Skeptiker, ob Heilpraktiker noch zeitgemäß sind, für die jeweiligen Untergruppen wohl getrennt beantworten müssen, weil es um unterschiedliche Problemlagen geht. Angesichts von Überlegungen, weitere sektorale Heilpraktiker-Erlaubnisse zu schaffen, ist aber die Diskussion darüber auf jedem Fall zeitgemäß.
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Nachtrag 17.2.2015: Kommentar #2 von “Ludger” hat mir keine Ruhe gelassen. Heilpraktiker sind, wie man es erwartet, ganz überwiegend selbständig tätig. Die bayerischen Zahlen beziehen sich darauf, die selbständig tätigen Heilpraktiker unterliegen einer gesetzlichen Anzeigepflicht beim Gesundheitsamt. Es gibt aber tatsächlich auch Daten zur Zahl der angestellten Heilpraktiker, sie werden in der Statistik der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten als eigene Berufsordnung erfasst. Im Jahr 2011 waren es bundesweit 4.622.
Bei der Bundesagentur für Arbeit habe ich außerdem Daten über Heilpraktiker aus dem Mikrozensus gefunden, vermutlich der wichtigsten Datengrundlage für die hier zitierte Schätzung des Statistischen Bundesamtes. Demnach hätte es im Jahr 2006 26.000 Heilpraktiker gegeben, davon 96 % selbständig. Für das Jahr 2005 hatte die Bundesagentur für Arbeit 3.925 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Heilpraktiker ausgewiesen. Wenn das 4 % der Gesamtmenge waren, käme man auf damals insgesamt ca. 100.000 Heilpraktiker und für 2011 auf ca. 115.000. Das würde recht gut dazu passen, was sich aus der Hochrechnung der bayerischen Daten ergibt. Bleibt die Frage: Wenn das stimmt, warum kommt der Mikrozensus dann auf so niedrige Gesamtzahlen? Oder hakt die ganze Rechnerei an einer anderen Stelle? Am Ende gar bei den bayerischen Daten? Das Thema wird immer interessanter.
Nachtrag zum Nachtrag und vorläufige Zurückstellung des Themas: Das Statistische Bundesamt erhebt auch Daten zur Kostenstruktur bei Einrichtungen des Gesundheitswesens. Dort steht zu den Heilpraktikern: „Insgesamt waren im Jahr 2010 im Wirtschaftszweig Heilpraktikerpraxen 4 050 Personen tätig. Dabei beschäftigte der Durchschnitt der Unternehmen 3,1 Personen.“ Wie das zu verstehen ist, sowohl was die hier genannte Hochrechnung aus 140 Betrieben angeht als auch das Verhältnis zwischen selbständigen und angestellten Heilpraktikern, kann ich im Moment nicht sagen. Die verwirrende Datenlage bringt mich jedenfalls dazu, das Thema vorläufig zurückzustellen. Ich habe den ursprünglichen Blogbeitrag daher dort, wo es um die Frage nach den “richtigen” Zahlen geht, etwas offener formuliert. Fortsetzung folgt.
Nachtrag 4.3.2015 und vorläufiges Ende: Im Mikrozensus 2013 wurden knapp 34.000 Personen in Deutschland der Berufsgruppe “Heilkunde und Homöopathie” (das ist die Klassifikation der Berufe 2010, im Wesentlichen sind das die Heilpraktiker) zugeordnet, in Bayern ca. 9.400. Damit scheint es in Bayern einerseits tatsächlich mehr Angehörige dieser Berufsgruppe zu geben, als bevölkerungsgewichtet anhand der Bundesdaten zu erwarten wären (ausgehend von den 34.000 nämlich ca. 5.100), andererseits ist das immer noch sehr weit von der Zahl entfernt, die die Gesundheitsämter melden. Die Diskrepanz scheint mit den sektoralen Erlaubnissen, der Dokumentationsweise der Gesundheitsämter und anderen Faktoren zusammenzuhängen, denen man einmal in einem kleinen Validierungsprojekt nachgehen müsste. Mit den verfügbaren Statistikdaten kommt man über den hiermit berichteten Stand der Dinge erst einmal nicht hinaus.
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