Man hört oft, dass wir in einer „Wissensgesellschaft“ leben. Das sei, so kann man bei Wikipedia lesen, „eine Gesellschaftsformation in hochentwickelten Ländern, in der individuelles und kollektives Wissen und seine Organisation vermehrt zur Grundlage des sozialen und ökonomischen Zusammenlebens werden“. Klingt nach Aufklärung, danach, dass Entscheidungen sowohl individuell als auch gesellschaftlich immer häufiger evidenzbasiert getroffen werden, auf der Basis des besten verfügbaren Wissens und dass dieses Wissen auch zunimmt. Das ist recht plausibel, schließlich verlassen wir uns heute nicht mehr auf die Vorhersagen von Auguren und stellen bei unseren Entscheidungen auch nicht mehr die möglichen Einflüsse von Hexen und Naturgeistern in Rechnung. Gut, manche glauben an die Homöopathie, also daran, dass Nichts wirkt, und meinen, das sei ein Unterschied dazu, dass nichts wirkt. Die Wissensgesellschaft ist durchsetzt von Unsymmetrien der Wissensverteilung. Und von Leuten, die das Nichtwissen gezielt managen. Die Sache mit der Wissensgesellschaft ist komplizierter, als man denkt.

Derzeit könnte man z.B. denken, der Begriff „Informationsgesellschaft“ trifft es vielleicht ohnehin besser. Das sei, bemühen wir wieder Wikipedia, die freihausliefernde Quelle allen öffentlichen Wissens, „eine auf Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) basierende Gesellschaft“. Der Begriff gehe auf Norbert Wiener zurück, wie Wikipedia auch noch zur Wissensbereicherung beiträgt. Der Begriff „Wissensgesellschaft“ soll übrigens von einem Amerikaner namens Robert Lane stammen, wer das war, weiß ich nicht, aber interessant ist es doch trotzdem, oder? Ich schweife ab. Eine typische Wikipedia-Symptomatik. SIWOTI. SIROTI. SAROTTI.

Auf die „Informationsgesellschaft“ kam ich durch die NSA-BND-Affäre. Die Geheimdienste saugen informationstechnisch alles auf, was sie kriegen können. Daraus machen sie dann Wissen. Nicht für uns, sondern Geheimwissen. Die Geheimdienste stehen in gewisser Weise in der Tradition der Esoterik: Nur Eingeweihte erfahren mehr. Und manchmal ihre Auftraggeber, die haben dann „Herrschaftswissen“, nach Wikipedia „ein Wissen, das Inhabern von Positionen der Herrschaft vorbehalten ist und deren Machtbestrebungen dienlich ist, vor allem, weil es Geheimpolitik ermöglicht“. Anders als bei der normalen Esoterik sind wir normalen Leute hier die, die nichts wissen, die das Erdgeschoss der Wissensgesellschaft bewohnen, nicht die Beletage. Wissen ist Macht – der Spruch geht nach Wikipedia auf Francis Bacon zurück und zielt auf die Selbstermächtigung des Menschen durch Aufklärung und Wissenschaft. Oder eben seine Entmündigung durch NSA-BND. Die parlamentarische Aufklärung dazu wird gerade in einem Untersuchungsausschuss des Bundestags versucht.

Was man jedenfalls weiß, ist, dass Informationen und deren Verknüpfung zu Wissen immer wichtiger werden. Nicht nur NSA-BND sind ihnen hinterher, auch google, apple und die Klatschspalten bei BILD. Manche sprechen schon von Daten als dem „Gold des 21. Jahrhunderts“. Daten? Vielleicht leben wir in einer „Datengesellschaft“, im digitalen Zeitalter? Daten sind, wieder Wikipedia, „Angaben, (Zahlen-)Werte oder formulierbare Befunde, die durch Messung, Beobachtung u.a. gewonnen wurden“. Der BND ist demnach eine Datengesellschaft, bzw. er lebt in einer Datengesellschaft mit der NSA. Man kann auch den Eindruck gewinnen, dass Daten wichtiger als Taten werden. Oder besser gesagt, dass Daten über die möglichen Taten anderer immer wichtiger werden. Darum ging es in der Spionage schon immer. Wer den anderen berechnen kann, kann ihn kontrollieren und muss ihm nicht vertrauen. Predictive Analytics ermöglicht dem, der die nötigen Daten hat, zu handeln, bevor der andere handelt. Falls er aus den Daten Wissen machen kann: Erst Wissen ist Macht, erst dann bemächtigt sich die Wirklichkeit der Daten der Zukunft der Taten. Genauso wichtig wie die Daten sind daher die Algorithmen, sie zu verknüpfen. Auch in meinem Arbeitsgebiet, dem Gesundheitswesen, richtet sich das Augenmerk des Datenschutzes immer mehr auf die Verknüpfung von Daten. Public Use Files müssen zunehmend strengere Kriterien erfüllen, damit die Reidentifikation von Personen durch die Verknüpfung von Datensätzen nicht zu leicht gemacht wird. Damit wird aber zugleich die Forschung mit den Daten behindert, also die Erzeugung von Wissen. Wie gesagt, Wissen ist Macht und die dunkle Seite der Macht ist bekanntlich nicht zu unterschätzen. Daten und Wissen sind nicht über eine bijektive Funktion verknüpft, Missbrauch ist möglich. Wo soll das nur alles hinführen? Das würde ich zu gerne wissen.

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (10)

  1. #1 Dr. Webbaer
    9. Mai 2015

    Derzeit könnte man z.B. denken, der Begriff „Informationsgesellschaft“ trifft es vielleicht ohnehin besser.

    Drei kleine Anmerkungen:
    1.) Wenn ‘Wissensgesellschaft’ nicht gefällt, alternativ die ‘Informationsgesellschaft’ bemüht wird, könnte vielleicht gleich die ‘Datengesellschaft’ [1] begrifflich versucht werden.
    2.) “Wissen” und deren mangelnde Bereitstellung für die Menge war lange Zeit gerade auch ein linker Topos; es wurde beklagt, dass sogenanntes Herrschaftswissen entstanden sei, dass die einfachen Leutz auf dieses nicht zugreifen könnten, dass Bibliotheken benötigt würden et cetera.
    Nun steht Wissen oder Information allgemein bereit, nun wird weiterhin geklagt.
    3.) Die “Datengesellschaft” ist potentiell gefährlich, potentiell brandgefährlich, gut erkannt.

    MFG + weiterhin viel Erfolg,
    Dr. W

    [1]
    PS:
    Der Begriff wurde im WebLog-Artikel vom (erst einmal) querlesenden Schreiber dieser Zeilen übersehen, sehr schön entwickelt!

  2. #2 rolak
    9. Mai 2015

    mit Ihren Verknüpfungsalgorithmen

    Früh übt sich: ’74, VHS, Makramee. Da hat man was fürs Leben!

  3. #3 Dr. Webbaer
    9. Mai 2015

    Sehr nett der letzte Absatz dieses Artikels, also der über dem PS, ‘Verknüpfungsalgorithmen’ sind es übrigens nicht, sondern sogenannte Selektoren mit denen der BND zum Diener [1] des NSA geworden ist, anscheinend auch: ein wenig an der Politik vorbei. [2]

    MFG
    Dr. W

    [1]
    ‘Diener’ ist jetzt nicht bös gemeint, der Schreiber dieser Zeilen ist pro-amerikanisch, der Begriff soll die Dienstfolge meinen, die gegen F zum Einsatz kam, von D oder dem BND maßgeblich unterstützt.

    [2]
    Wobei der Verdacht natürlich bestehen bleibt, dass Mme Merkel und andere hier ganz bewusst Handlangerdienste leisteten – Kollege Sigmar Gabriel * scheint ja in diesem Zusammenhang, gerechtfertigterweise, möglicherweise, ein wenig aufzublühen.

    *
    Scheint ein anständiger Soz zu sein, sofern dies hier aus liberaler Sicht und landfremd einmal angemerkt werden darf.

  4. #4 Ludger
    9. Mai 2015

    Es geht um verwertbares Wissen. Kulturelles Wissen ist zwar wertvoll aber nur begrenzt ökonomisch oder politisch verwertbar. Ebenso ist persönliches Wissen über mich, welches man durch den Bruch meiner Privatspäre erlangt hat, für Geheimdienste nutzloser Beifang. Ob ich im Internet nach verschiedenen Ursachen von Durchfall suche, interessiert keine Sau. Wenn ich mich aber für Ausgangsstoffe zur Herstellung von z.B. Pentaerythrityltetranitrat interessiere, springt irgendwo ein Filter an [Hallo Jungs!]. Und wenn die Firma Rheinmetall 1000 Tonnen eines bestimmten Stahles bei Thyssen bestellt, springen andere Filter an. Im ersten Fall wäre es gut für unsere Sicherheit, im zweiten Fall Industriespionage. Wie will man die Grenzen ziehen? Ich weiß es nicht. Es weiß aber offenbar niemand so genau. Alle Regierungen benötigen Geheimdienstwissen, wohl wissend, dass Geheimdienste immer gegen geltende Gesetze verstoßen (müssen?). Ich bin mal gespannt, was aus der Anzeige gegen Unbekannt vo Seiten der Firma EADS / Airbus wird.

    • #5 Joseph Kuhn
      10. Mai 2015

      “Es geht um verwertbares Wissen.”

      Ja, die Bilder, die aus den Daten destilliert werden, sind zweckgerichtet. Amazon will uns mit passender Werbung versorgen, die NSA versucht anderes. Das gelingt bisher, finde ich, noch nicht wirklich gut. Wie sich die ikonogene Fähigkeit der technischen Daten-Destillatoren entwickeln wird, ist natürlich offen, aber derzeit liegen im BIG DATA-Geschäft die Organismen klar vorn. Sie verarbeiten in jeder Sekunde ungeheure Datenmengen in ziemlich zweckmäßiger Weise. Interessanterweise sind auch die Precogs im Film Minority Report Menschen, keine Maschinen. Nur nebenbei, als Herausforderung an das mentale Verknüpfungsvermögen: “Minority Report” hieß auch ein Bericht über den Wohlfahrtsstaat 1908, in dem es um die Möglichkeiten staatlicher Armutsprävention ging – Minority Report, weil der Bericht von einer Minderheit rund um Beatrice Webb in einer 1905 in England eingesetzten Kommission zur Reform des Armengesetzes verfasst wurde.

      “Alle Regierungen benötigen Geheimdienstwissen”

      Das wird wohl so sein, weil auch alle Regierungen Interessen verfolgen, die sie nicht offen legen, also geheimes Wissen horten. Die öffentlichen Angelegenheiten sind im informationstechnischen Sinne nur eingeschränkt öffentlich. Früher galt das auch gegenüber den eigenen Bürgern noch viel stärker als heute. Das “Arkanprinzip” war ein Grundprinzip der Verwaltung. Mit den Informationsfreiheitsgesetzen beginnt sich das etwas zu ändern.

      “Anzeige gegen Unbekannt”

      Österreich hat auch Anzeige gegen Unbekannt erstattet, es handelt sich offensichtlich um eine Affäre mit vielen Unbekannten. Und sicher viel Unbekanntem.

  5. #6 Alisier
    9. Mai 2015

    Mir scheint öfters, der wichtigste Punkt ist die Einschätzung von Informationen. Denn wem es am nötigen Basiswissen fehlt, der kann soviele Informationen sammeln, wie er will: zu echten und brauchbaren Erkenntnisen wird er kaum gelangen können.
    Das ist z.B. die Crux bei Esoterikern aller Art: das vermeintliche Wissen basiert auf massivem Unwissen, und kann dann nicht mehr als Wissen bezeichnet werden.
    Kurz zusammengefasst: wer denkt, dass er schon weiß, lernt nichts dazu und bleibt weitestgehend unwissend. Immer wieder bei Kommentatoren zu beobachten, die wie die Axt im Walde auftreten, weil sie ja schon alles wissen…

  6. #7 Ludger
    10. Mai 2015

    Wir wollen natürlich unser Fernmeldegeheimnis schützen. “Lauschangriffe” darf es nur mit richterlicher Genehmigung geben. Und wir wollen, dass der Bruch des Fernmeldegeheimnisses strafrechtlich verfolgt wird. Wir wollen aber auch, dass uns die “Behörden” schützen. E-mails mit dem Begriff “آیا منظورتان این بود ” gehören gefälligst abgefangen, damit unser Staat uns schützen kann. Aber ist das nicht strafbar, E-mails abzufangen, wenn es keinen richterlichen Beschluss gibt? Bisher gibt es keinen Diskurs darüber, wie man den Spagat zwischen Bürgerrechten und Sicherheitsbedürfnis hinbekommen soll.

    • #8 Joseph Kuhn
      10. Mai 2015

      “Bisher gibt es keinen Diskurs darüber, wie man den Spagat zwischen Bürgerrechten und Sicherheitsbedürfnis hinbekommen soll.”

      So zurückgeblieben sind wir dann doch nicht, es wird ja fleißig darüber diskutiert. Aber eine konsensfähige politische Strategie dazu gibt es nicht, das sehe ich auch so. Nicht nur, was Bürgerrechte und Sicherheitsbedürfnis angeht, auch, wie oben im Blog angesprochen, was den Umgang mit Gesundheitsdaten angeht. Die “Wissensgesellschaft” formt sich noch.

  7. #9 Ludger
    10. Mai 2015

    “Bisher gibt es keinen Diskurs darüber, wie man den Spagat zwischen Bürgerrechten und Sicherheitsbedürfnis hinbekommen soll.”
    Dazu aus Wikipedia, Stichwort “Nachrichtendienstliche Mittel”:

    ” In den Gesetzen, die die Befugnisse der deutschen Nachrichtendienste regeln, wird dieser generalklauselartige Begriff [“Nachrichtendienstliche Mittel”] nicht abschließend definiert, wohl um die sich aus dem Gesetz ergebenden Möglichkeiten der Geheimdienste nicht einzuschränken.”

  8. #10 Dr. Webbaer
    12. Mai 2015

    In diese Richtung wird’s absehbarerweise und nicht zu stoppen gehen:
    -> https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2015-02/samsung-smart-tv-private-gespraeche

    Privaterseits und natürlich auch staatlicherseits, staatlicherseits dient als (durchaus nachvollziehbare) Begründung die Abwehr der Terrorgefahr. [1]

    MFG
    Dr. W

    [1]
    Wobei Luhmann korrekterweise zwischen Gefahr und Risiko , das erst durch bestimmte Maßnahmen entsteht, unterschied, korrekt – insofern besteht die Immigrationspolitik betreffend streng genommen ein Risiko, vielleicht sogar ein bewusst angenommenes und bewusst vom Staat ausgenutztes.