Die Antipsychiatriebewegung der 1960er Jahre hat viele psychische Störungen so betrachtet, wie wir heute die Homosexualität: als gesellschaftliche Zuschreibung. Gesellschaftlich geächtetes Verhalten erhält das Label „Krankheit“. Sind solche Diskurse inzwischen obsolet, wo wir doch so viel über die genetischen und molekularen Grundlagen von psychischen Störungen und auch von Suchterkrankungen herausgefunden haben, über Rezeptorveränderungen im Hirn und die Funktion des Belohnungssystems? Oder topmodern, weil wir auch viel über die soziale Konstruktion und Funktionalität von Begriffen gelernt haben? Und wie hängt das mit dem sinnhaften Handeln des Subjekts zusammen? Wie gesagt, keine Suchttherapie kann darauf verzichten, dass „Suchtkranke“ ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, wie sehr auch prägende Erfahrungen in der Kindheit, der Verlust des Arbeitsplatzes, genetische Dispositionen oder die Wirkung der Droge als Randbedingungen des Suchtgeschehens in Rechnung zu stellen sind. Die Betroffenen müssen sich mit diesen Faktoren auseinandersetzen – falls sie von deren zwingender Kraft frei sein wollen.
Und wenn dem so ist, ist es genug, wenn die Betroffenen, die „Süchtigen“, einfach nur subjektiv leidensfrei werden? Reicht es dazu, wenn der „Patient“, nennen wir ihn jetzt einmal bei seiner sozialen Krankheitsrolle, sein Augenmerk darauf richtet, in welchen Situationen er z.B. einen schier unüberwindlichen Drang zum Gläschen Klaren verspürt und darauf, was ihm in solchen Situationen schon einmal geholfen hat? Oder führt Therapie dann nur zur gesellschaftlichen Anpassung, gestützt durch ein biologistisch verkürztes Suchtkonzept? Soll der Patient also zudem versuchen, auch zu verstehen, welches Problem Alkohol für ihn löst, warum er Befriedigung auf dem schnellen chemischen Weg sucht statt auf andere Weise? Soll er diese Sinnsuche so weit treiben, bis er die gesellschaftlichen Wurzeln seines Verhaltens erkennt und soll er dann z.B. den öden Job kündigen, sich eine andere Arbeit suchen oder die Revolution planen? Ist Gesellschaftskritik ein sinnvolles Therapieziel? Oder ist das ähnlich überzogen wie die Erwartung, der Patient müsse die biochemischen Abläufe des Suchtgeschehens verstehen? Und da es nach Adorno ohnehin kein richtiges Leben im Falschen gibt, ist eine Therapie auch dann erfolgreich, wenn ein Drogenkonsument, der für sich keine Alternative sieht, aus “subjektiv gutem Grund” weiter Drogen konsumiert? Kann Drogenkonsum subjektiv sinnvoll sein? Man zähle das Wörtchen „soll“ in diesem Absatz: Moral, wohin man schaut.
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Als Lektüreempfehlung zum Thema: Thomas Schramme (Hrsg.) Krankheitstheorien. Frankfurt 2012. Und speziell zur Sucht: Klaus Weber (Hrsg.) Sucht. Hamburg 2011.
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