Was Krankheiten sind und wie sie entstehen, ist bekanntlich keine einfache Frage. Es gibt Krankheiten, die gibt es gar nicht, damit beschäftigt sich das Genre der „Krankheitserfinderbücher“. Und bei den Krankheiten, die es wirklich gibt, weiß man oft nicht, warum es sie gibt. Dass Krankheiten die Strafe Gottes für begangene Sünden sind, ist heute zumindest hierzulande keine gängige ärztliche Diagnose mehr. Aber was dann? Sind die Gene schuld? Gifte? Krankheitserreger? Die gesellschaftlichen Verhältnisse oder sind wir selbst schuld, weil wir falsch leben?
Die antiquierte Vorstellung von der Strafe Gottes mag aus der Mode gekommen sein, aber der darin zum Ausdruck kommende Topos der Verquickung eines unentrinnlichen Schicksals mit unserem eigenen Handeln spielt auch in den gegenwärtigen Krankheitstheorien eine wichtige Rolle. Gesundheitslehren seien immer auch Ordnungslehren, so hat es der Heidelberger Medizinhistoriker Schipperges einmal formuliert. Moral ist stets enthalten, kein Wunder, Heilen und Heil, Medizin und Religion, sind Geschwister.
Das kann offenkundig sein, so ist beispielsweise in alternativmedizinischen Gedankenwelten die Idee weit verbreitet, dass Krankheit Ausdruck eines falschen Lebens ist. Auch die Psychosomatik hat ihren Ursprung in dieser Vorstellung. Der moralische Charakter, die Ordnungslehre, kann aber auch subtiler vorkommen, etwa wenn Krankheit als Abweichung von einer Norm verstanden wird und Heilung folglich als Anpassung an diese Norm – ein Krankheitskonzept, das auch unserem Sozialversicherungsrecht zugrunde liegt. Wenn die Norm, die das Gesunde markiert, nur der statistische Durchschnitt oder das Gewöhnliche ist, wird aus der Heilung schnell eine „Normalisierung“. Die Geschichte der Homosexualität ist in dieser Hinsicht instruktiv: der Homosexuelle war erst ein Sünder (und ist es in vielen Regionen der Welt noch immer), dann galt er als krank im Sinne von „nicht normal“ und erst langsam setzt sich in unserer Gesellschaft die Auffassung durch, das Homosexualität eine Normvariante ist, keine Abweichung von einer Norm. Das Krankheitsbild ist im Repertoire der Krankheitserfinder angekommen.
Ich habe den Eindruck, je stigmatisierter eine „Krankheit“ ist, desto verworrener ist die Situation, egal, ob es um Krebs geht, um Adipositas, psychische Störungen oder um Suchterkrankungen. Im Grund entlastet der Krankheitsbegriff von Schuld. Aber was bedeutet das im konkreten Fall? Am Beispiel der “Sucht” will ich das hier einmal zur Diskussion stellen, sprich, Fragen zum Thema sammeln.
Sucht, ein Siechsein, also ein Kranksein, ist das nicht etwas, für das der Betroffene nichts kann? Etwas, was ihn unentrinnlich im Griff hat, wofür er Hilfe statt Verachtung verdient und Anspruch hat auf Leistungen der Krankenkasse? Er kann ja nichts dafür. Oder doch? Die Sucht heißt heute in der Terminologie der ICD „Abhängigkeit“. Wer abhängig ist, ist nicht frei. Per definitionem. Aber wie weit reicht diese Unfreiheit? Nach vorne, was die Entstehung der Sucht angeht, ins Jetzt, was die Aufrechterhaltung des Verhaltens angeht, und nach hinten, die Selbstheilungsmöglichkeiten betreffend. Die Unfreiheit ist sicher nicht absolut. Jede Form der Therapie setzt darauf, dass der Betroffene in Bezug auf seine Abhängigkeit aktiv wird, Hilfe sucht und Hilfe annimmt. Solange er nicht seine Sucht als das zu lösende Problem betrachtet, sondern z.B. die Frage, wie er an neuen Stoff kommt oder wie er sich zuhause am besten herausredet, weil er alles schleifen lässt, ist therapeutisch wenig zu machen, zumindest dann, wenn die Therapie Drogenfreiheit als Ziel hat. Folgt daraus auch, dass der Betroffene in diesem Fall seine „Sucht“ gar nicht loswerden will, dass er (oder sie) “subjektiv gute Gründe” dafür hat, weiter zu trinken oder Heroin zu nehmen? Ist er eigentlich nicht „süchtig“, sondern nur unwillig? Oder hat ihn doch die Droge und ihr Zusammenspiel mit der Biologie im Griff, ist sie das wahre Subjekt des Geschehens? Oder ist das eine Sicht der Dinge, die dem Betroffenen nur seinen Subjektstatus abspricht, paradoxerweise, weil therapeutisch kein Weg am Subjekt vorbei führt. Erst Entmündigung, dann Ermutigung?
Die Antipsychiatriebewegung der 1960er Jahre hat viele psychische Störungen so betrachtet, wie wir heute die Homosexualität: als gesellschaftliche Zuschreibung. Gesellschaftlich geächtetes Verhalten erhält das Label „Krankheit“. Sind solche Diskurse inzwischen obsolet, wo wir doch so viel über die genetischen und molekularen Grundlagen von psychischen Störungen und auch von Suchterkrankungen herausgefunden haben, über Rezeptorveränderungen im Hirn und die Funktion des Belohnungssystems? Oder topmodern, weil wir auch viel über die soziale Konstruktion und Funktionalität von Begriffen gelernt haben? Und wie hängt das mit dem sinnhaften Handeln des Subjekts zusammen? Wie gesagt, keine Suchttherapie kann darauf verzichten, dass „Suchtkranke“ ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, wie sehr auch prägende Erfahrungen in der Kindheit, der Verlust des Arbeitsplatzes, genetische Dispositionen oder die Wirkung der Droge als Randbedingungen des Suchtgeschehens in Rechnung zu stellen sind. Die Betroffenen müssen sich mit diesen Faktoren auseinandersetzen – falls sie von deren zwingender Kraft frei sein wollen.
Und wenn dem so ist, ist es genug, wenn die Betroffenen, die „Süchtigen“, einfach nur subjektiv leidensfrei werden? Reicht es dazu, wenn der „Patient“, nennen wir ihn jetzt einmal bei seiner sozialen Krankheitsrolle, sein Augenmerk darauf richtet, in welchen Situationen er z.B. einen schier unüberwindlichen Drang zum Gläschen Klaren verspürt und darauf, was ihm in solchen Situationen schon einmal geholfen hat? Oder führt Therapie dann nur zur gesellschaftlichen Anpassung, gestützt durch ein biologistisch verkürztes Suchtkonzept? Soll der Patient also zudem versuchen, auch zu verstehen, welches Problem Alkohol für ihn löst, warum er Befriedigung auf dem schnellen chemischen Weg sucht statt auf andere Weise? Soll er diese Sinnsuche so weit treiben, bis er die gesellschaftlichen Wurzeln seines Verhaltens erkennt und soll er dann z.B. den öden Job kündigen, sich eine andere Arbeit suchen oder die Revolution planen? Ist Gesellschaftskritik ein sinnvolles Therapieziel? Oder ist das ähnlich überzogen wie die Erwartung, der Patient müsse die biochemischen Abläufe des Suchtgeschehens verstehen? Und da es nach Adorno ohnehin kein richtiges Leben im Falschen gibt, ist eine Therapie auch dann erfolgreich, wenn ein Drogenkonsument, der für sich keine Alternative sieht, aus “subjektiv gutem Grund” weiter Drogen konsumiert? Kann Drogenkonsum subjektiv sinnvoll sein? Man zähle das Wörtchen „soll“ in diesem Absatz: Moral, wohin man schaut.
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Als Lektüreempfehlung zum Thema: Thomas Schramme (Hrsg.) Krankheitstheorien. Frankfurt 2012. Und speziell zur Sucht: Klaus Weber (Hrsg.) Sucht. Hamburg 2011.
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