Diabetes mellitus, die Zuckerkrankheit, war hier auf Gesundheits-Check vor kurzem schon einmal Thema: im Zusammenhang mit den Krankheitskosten des Diabetes. Ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor dabei sind die Daten zur Häufigkeit des Diabetes – und das gilt natürlich in gleicher Weise, wenn es um den Trend dieser Krankheit im Zeitverlauf geht. Im Prinzip besteht zwar Konsens darüber, dass die Fallzahlen zunehmen. Beispielsweise, weil die Bevölkerung älter wird und Diabetes altersabhängig ist, weil immer mehr Leute übergewichtig sind und starkes Übergewicht ein Risikofaktor für Diabetes ist, weil man mehr über die Krankheit weiß als früher und daher mehr Fälle diagnostiziert werden, und natürlich auch, weil die Versorgung mit Blick auf die lebensbedrohlichen Folgen des Diabetes besser geworden ist, d.h. die Betroffenen länger mit ihrer Krankheit leben.
Beim Trend ist vor allem die Sache mit der Diagnostik auch ein wunder Punkt der ganzen Geschichte. Trendaussagen aus den großen bevölkerungsrepräsentativen Studien zum Diabetes mellitus gehen von den diagnostizierten Fällen aus. Aber was ist, wenn nur der diagnostizierte Diabetes zunimmt? Wenn es sich beim Diabetes ähnlich verhält wie bei den psychischen Störungen, bei denen man eine Zunahme der Fälle im Versorgungssystem beobachtet – von den Krankschreibungen über die Krankenhausfälle bis hin zu den Frühberentungen, obwohl die Erkrankungshäufigkeit selbst nicht zuzunehmen scheint?
Ingrid Mühlhauser, amtierende Vorsitzende des Vorstands des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, warnte erst vor kurzem wieder:
„Behandlungsprävalenz wird unzulässiger Weise mit Diabetesprävalenz gleichgesetzt (…). Auch die aktuellen Daten des DGS1 zur Diabetesprävalenz, die sich auf Selbstangaben der am Survey teilnehmenden Personen stützen, lassen somit keine valide Aussage zur tatsächlichen Veränderung der Diabeteshäufigkeit zu (…). Diagnosen sind keine Krankheiten.“
Was man zur Beantwortung der Frage, ob der Diabetes an sich zunimmt, bräuchte, wären aussagekräftige Labordaten – bevölkerungsrepräsentativ und im Zeitverlauf. Wenn man meint, das könne doch eigentlich kein Problem sein, täuscht man sich gehörig. Als ich vor zwei Jahren bei der Bearbeitung des Bayerischen Diabetesberichts nach solchen Daten suchte, bin ich nicht fündig geworden und auch einschlägig bewanderte Fachleute konnten hier nicht weiterhelfen.
Aber: Am RKI beschäftigt man sich gerade intensiv mit dem Thema Diabetes mellitus, weil derzeit eine „Nationale Diabetes-Surveillance“ aufgebaut wird. In diesem Zusammenhang sind die RKI-Kolleg/innen auch bei der Gretchenfrage nach dem Trend unabhängig von den Diagnosen einen Schritt weiter und haben sich mögliche Verschiebungen zwischen dem diagnostizierten und dem nicht diagnostizierten Diabetes mellitus anhand der Daten aus zwei großen bevölkerungsrepräsentativen Surveys angesehen, dem BGS98 Ende der 1990er Jahre und der etwa 10 Jahre später durchgeführten DEGS1-Studie. Die Schätzungen zum nicht diagnostizierten Diabetes mellitus stützen sich dabei auf den in beiden Surveys erhobenen Langzeitblutzuckerwert HbA1c.
Die Ergebnisse haben es in sich: Wie man in dem gerade in Diabetic Medicine online first erschienen Beitrag von Heidemann et al. (2015) “Temporal changes in the prevalence of diagnosed diabetes, undiagnosed diabetes and prediabetes: findings from the German Health Interview and Examination Surveys in 1997–1999 and 2008–2011” nachlesen kann, hat zwar der diagnostizierte Diabetes zugenommen, aber der nicht diagnostizierte Diabetes scheint abgenommen zu haben – und die Erkrankungsrate somit nahezu stabil geblieben zu sein.
Einen Hinweis darauf, woran das liegen könnte, geben Auswertungen zu Risikofaktoren aus den gleichen Surveys. Mit den Daten lässt sich der Deutsche Diabetes Risiko Score berechnen. In diesen Score gehen z.B. Daten zum Alter, zum Taillenumfang, zum Rauchen, zum Bluthochdruck, zu diabeserkrankten Verwandten und anderen Risikofaktoren ein, er wird vom RKI als einigermaßen valide eingestuft. Auf dem Jahrestreffen 2015 der European Diabetes Epidemiology Group haben die RKI-Kolleg/innen auf dieser Grundlage das Diabetesrisiko der Bevölkerung Ende der 1990er Jahre und heute berechnet, in den nächsten 5 Jahren an Diabetes zu erkranken. Demnach geht das Diabetesrisiko etwas zurück – zumindest gemessen an diesem Score.
Ich bin gespannt, wie das unter den Fachleuten diskutiert wird und was das am Ende für die Frage nach dem Trend des Diabetes mellitus bedeutet. Wie das auch immer ausgehen mag: Wenn es noch eines Belegs für die Notwendigkeit einer guten Diabetes-Surveillance und guter Surveys in Deutschlands bedurft hätte, den hätte das RKI mit diesen Analysen auf jeden Fall schon mal erbracht. Glückwunsch, Kolleg/innen!
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