Im aktuellen SZ-Magazin berichtet Johannes Boie über die tragischen Folgen einer Gentherapie bei einer seltenen Erkrankung, dem Wiskott-Aldrich-Syndrom. Seltene Krankheiten sind Erkrankungen, von denen weniger als einer von 2.000 Menschen betroffen ist. Zusammengenommen sind seltene Erkrankungen allerdings nicht mehr selten: NAMSE, das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, schätzt, dass in Deutschland ca. 4 Mio. Menschen an einer der 7.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen leiden. Auch die „Neuronale Ceroid Lipofuszinose Typ 2“, eine Form kindlicher Demenz, über die ich hier vor einem Jahr im Zusammenhang mit der Petition für Hannah Vogel berichtet habe, ist eine solche „seltene Erkrankung“. Für die industriefinanzierte Forschung sind seltene Erkrankungen kein lohnendes Geschäftsfeld, weil die Entwicklung von Medikamenten sehr teuer sein kann und sich dann bei wenigen Patienten nicht oder nur schwer refinanziert. Oft gibt es daher keine guten Therapien. Dass in Deutschland jährlich rund 3.000 Kinder an seltenen Erkrankungen sterben, wie Johannes Boie schreibt, stimmt aber nicht, es sterben insgesamt jährlich ca. 3.000 Kinder (3.255 Sterbefälle unter 15 Jahren gab es 2014).
Für das Wiskott-Aldrich-Syndrom sind in der Todesursachenstatistik 2014 vier Sterbefälle dokumentiert. Die Krankenhausstatistik verzeichnete im gleichen Jahr 22 stationäre Behandlungen für diese Erkrankung (wobei unklar ist, wie viele Patienten dahinter stehen), darunter 14 im Kindesalter. Es ist eine genetische Erkrankung, die X-chromosomal rezessiv vererbt wird, d.h. Jungen, die das defekte Gen erben, erkranken, Mädchen können mit einem gesunden zweiten X-Chromosom ausgleichen. Sowohl die Krankenhaus- als auch die Todesursachenstatistik verzeichnen aber einige wenige weibliche Fälle. Charakteristisch für die Erkrankung sind wiederkehrende Infektionen, eine erhöhte Blutungsneigung und Hautausschläge. Unbehandelt sterben die Patienten im Jugendalter. Die Standard-Behandlung besteht in einer Stammzelltransplantation, die, wenn sie erfolgreich ist, einer Heilung gleichkommt. Die Stammzelltransplantation ist jedoch mit einer sehr belastenden Chemotherapie verbunden.
Als Alternative hat Prof. Christoph Klein eine Gentherapie entwickelt. Christoph Klein ist ein renommierter und vielfach ausgezeichneter Forscher. Seine Studie zur Entwicklung der Gentherapie für das Wiskott-Aldrich-Syndrom hat er an der Medizinischen Hochschule Hannover begonnen. Heute ist er Leiter des Haunerschen Kinderspitals in München. Diese Gentherapie ist zunächst schonender, aber in der Studie kamen Gen-Vektoren (zum Transport der Gene in die Zellen) zum Einsatz, die, wie man heute weiß, Leukämie verursachen können. Von den zehn in der Studie behandelten Kindern sind dem Artikel von Johannes Boie zufolge sieben an Leukämie erkrankt und drei inzwischen verstorben. Kleins Studie war sorgfältig vorbereitet, sie ging durch die Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover, der Verlauf wurde sowohl vom Hannover Clinical Trial Center als auch vom Paul-Ehrlich-Institut beobachtet.
Die Frage, die Johannes Boie aufwirft: Hätte Christoph Klein nach frühen Hinweisen aus anderen Studien zu Krebsrisiken im Zusammenhang mit den verwendeten Vektoren warten müssen, bis bessere Vektoren verfügbar gewesen wären? Hätte er zumindest die Kinder, bei denen eine Stammzelltransplantation mit guten Erfolgsaussichten möglich gewesen wäre, aus der Studie ausschließen müssen? War er also zu ehrgeizig, ein „Arzt ohne Grenzen“, wie Boie seinen Artikel im SZ-Magazin betitelt hat? Oder hat er einen vielversprechenden Weg beschritten, der sich im Nachhinein als zu riskant darstellt?
Die „Helsinki-Deklaration“ des Weltärztebundes gibt vor: „Medical research involving human subjects may only be conducted if the importance of the objective outweighs the risks and burdens to the research subjects” – und weiter: “Physicians may not be involved in a research study involving human subjects unless they are confident that the risks have been adequately assessed and can be satisfactorily managed.” Zur Not muss eine Studie auch abgebrochen werden: “When the risks are found to outweigh the potential benefits (…), physicians must assess whether to continue, modify or immediately stop the study.”
Ich kann den konkreten Fall nicht bewerten, dazu müsste man den Ablauf der Dinge im Detail gemeinsam mit medizinisch einschlägig bewanderten Fachleuten durchgehen. Aber der Fall zeigt, dass die Forschung zu seltenen Erkrankungen, gerade weil sie oft neue Wege auf unbekanntem Terrain gehen muss, mit besonderen Risiken verbunden ist. Die Leukämierisiken sind hier schnell manifest geworden, in anderen Fällen muss das nicht so sein, d.h. dann sieht man die Risiken aufgrund der kleinen Fallzahlen in der Studienphase womöglich erst viel später und nachdem schon „viele“ (soweit man davon bei seltenen Erkrankungen sprechen kann) Patienten behandelt wurden. Der qualifizierten Beratung in den Ethikkommissionen kommt daher hier ein besonderer Stellenwert zu – und man wird vielleicht auch noch einmal über neue Formen des Risikomanagements insgesamt in der Forschung zu seltenen Erkrankungen nachdenken müssen.
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