In unserer letzten Diskussion um die teilweise frauenverachtende Polemik einiger Fachvertreter der Biologie gegen die Gender Studies – besonders ausgeprägt ist dieses Persönlichkeitsmerkmal bei Ulrich Kutschera – ging es neben dem eigentlichen Blogthema immer wieder auch um die Frage, inwieweit Verhaltensweisen oder Persönlichkeitsmerkmale „erblich“, „angeboren“, oder „biologisch bedingt“ sind und was das im Zusammenhang etwa mit schulischen oder beruflichen Fördermaßnahmen bedeutet.
Solche Formulierungen klingen präziser als sie sind. Sie führen letztlich in ein weites Feld, das sich nicht in Kürze systematisch abhandeln lässt und bei vielen Aspekten kann ich fachlich auch gar nicht mitreden. Die Rede von der „Erblichkeit der Intelligenz“, die in unserer Gender-Diskussion auch zur Sprache kam, will ich aber doch noch einmal kurz aufgreifen. Bei diesem Thema geht es seit Beginn der Psychometrie stets auch um die Frage danach, ob Unterschiede zwischen sozialen oder ethnischen Gruppen „erblich“ sind und man daher z.B. die Einwanderung bestimmter Gruppen beschränken sollte oder ob man sich die schulische Förderung bestimmter Gruppen sparen könne.
Die Frage der „Erblichkeit“ der Intelligenz wird bisher vor allem an den Ergebnissen von Zwillingsstudien festgemacht. Man vergleicht die Übereinstimmung des Intelligenzquotienten bei eineiigen Zwillingen z.B. mit der bei zweieiigen Zwillingen oder die Übereinstimmung bei eineiigen Zwillingen in ihren Herkunftsfamilien mit der von eineiigen Zwillingen in Adoptivfamilien. Davon ausgehend, nimmt man heute eine „Erblichkeit“ der Intelligenz von 50 bis 80 % an, wobei diese „Erblichkeit“ bei Jüngeren niedriger ist als bei Älteren und in den unteren Sozialstatusgruppen niedriger als in höheren Sozialstatusgruppen.
Was meint nun „Erblichkeit“ in diesem Zusammenhang konkret? Zielgröße ist der Intelligenzquotient (IQ). Er wird als phänotypisches Merkmal aus beobachtbaren Antworten auf Testitems berechnet. Was das mit „Intelligenz‘“ zu tun hat, sei einmal dahingestellt, darüber streitet die Psychologie genauso lange wie über die „Erblichkeit“. Wenn man den IQ in einer Gruppe empirisch misst, tritt eine Varianz auf, die man für die Frage nach der „Erblichkeit“ als Summe von genotypischem Varianzanteil, umweltbedingtem Varianzanteil und ggf. einem Wechselwirkungsterm betrachtet. Die „Erblichkeit“ ist dann definiert als Quotient aus dem genotypischen Varianzanteil und der phänotypischen Varianz:
Erblichkeit = genotypischer Varianzanteil/phänotypische Varianz
Es geht hier also um ein gruppenbezogenes Verhältnis. Bei dieser Definition der „Erblichkeit“ sind die gegebenen Umweltbedingungen eine entscheidende Größe: Je homogener die Umwelt, d.h. je weniger Umweltvarianz, desto höher die Erblichkeit. In einer hypothetisch absolut homogenen Umwelt, die jedem Individuum die exakt gleichen Entwicklungsbedingungen zuteilt, wäre die Erblichkeit 100 %. Offen bliebe, ob mit dieser Umwelt jedem Individuum die für seinen Genotyp idealen Entwicklungsbedingungen zugeteilt wären. Möglich ist, dass die egalitären Bedingungen für alle schlecht, für alle gut oder für manche schlecht und für manche gut sind.
Dass die Intelligenz zu 50 bis 80 % „erblich“ sei, gilt daher zunächst erst einmal für die Länder, in denen die entsprechenden Studien gemacht wurden, also vorwiegend die westlichen Industrieländer. Des Weiteren bedeutet es nicht, dass den Individuen ihr jeweiliger IQ von den Eltern zu 50 bis 80 % als genetisches Schicksal „vererbt“ wurde und somit z.B. der Sinn einer differenzierten schulischen Förderung von Kindern infrage gestellt sei. Unangenehmerweise kann man aufgrund der spezifischen Bedeutung dieser „Erblichkeit“ ohne Zusatzhypothesen nicht einmal schlussfolgern, dass Intelligenzunterschiede zwischen Gruppen genetisch bedingt sind. Die Unterschiede zwischen den Gruppen können umweltbedingt sein, egal wie hoch der genotypische Varianzanteil innerhalb der beiden Gruppen ist.
Auch unabhängig von der speziellen Problematik der „Erblichkeit“ in der herkömmlichen Intelligenzforschung sollte man wohl immer vorsichtig sein, beobachtbare Gruppenunterschiede zu schnell als genetisch bedingt anzusehen. Die Deutschen sprechen deutsch, die Franzosen französisch, wir haben Rechtsverkehr, die Briten Linksverkehr. Angeboren ist das sicher nicht. Was den Menschen vor allem kennzeichnet, ist die angeborene Offenheit seines Verhältnisses zur Welt, nicht die genetische Fixierung seines Verhaltens. Die Feststellung Nietzsches, dass der Mensch das „nicht festgestellte Tier“ sei, hat bei allen Fortschritten der Biologie nichts an ihrer Bedeutung verloren. Die Beweislast bei Aussagen der Art „Verhalten X ist genetisch bedingt“, liegt erst einmal bei dem, der das behauptet.
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